
Mein ältester Sohn steht in der Ferienwohnung und bewegt sich nicht. „Los!“, sage ich, „Du musst noch den Tisch abräumen.“ Aber er bleibt wie festgewurzelt stehen und stiert die Wand an. Oder besser gesagt: Das Holz. Denn in unserer bayerischen Kammer unter dem Dach Juchee ist alles aus dicken Balken gezimmert. Unser Vermieter ist Zimmermann. Und er hat seine ganze Handwerkskunst in sein Haus gesteckt. Für uns Erwachsene bedeutet das, dass wir uns jeden Tag mindestens einmal den Kopf an dem massiven Gebälk anrennen. Die Kinder führen eine Strichliste. Ich liege vorne. Mir wäre lieber, sie würden ihre Aufgaben erledigen. „Hey!“, wiederhole ich ungeduldig, „Der ganze Kram steht noch auf dem Tisch.“ Doch mein Sohn tut so, als höre er mich nicht. Konzentriert schaut er aufs Holz. Das kenn ich schon. Wenn er etwas tun soll, ist auf einmal alles wichtiger und interessanter als das, was ich von ihm will. Dann werden Werbeschilder gelesen oder Waschzettel an Unterhosen. „Mach jetzt hin!“, werde ich lauter. Wir sind zwar schon ein paar Tage hier und Schnee gab es auch reichlich. Die lange Rodelbahn sind wir auch schon fröhlich heruntergerast, aber so richtig entspannt bin ich anscheinend noch nicht. Und einen Erziehungsauftrag habe ich bei einem Zehnjährigen natürlich auch noch. „Also, was ist jetzt? Abräumen, sonst kein Bugs Bunny heute Abend.“ „Achtunachtzig“, antwortet mein Sohn unbeeindruckt. „Achtundachtzig Ringe. Der Baum hat den Krieg noch erlebt.“
Hier noch ein Lied von Gerhard Gundermann über die Jahresringe bei Menschen. Ich mag es sehr.
Ein guter Sohn!
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Einen sher gut interessierten Wissenschaftler hast du da;-)
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Ein kluger Beobachter 👍🏼
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Super diese Erkenntnis. Der Fotograf hat diese tollen Holzstamm leider nicht gezeigt. Aber für das Zusammenspiel gibt es doch diese gemeinsame Zeit. Grüße tom
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Das muss aber ein dicker Balken gewesen sein, außerdem Kernholz mit einem sichtbaren Querschnitt. Hm, hm, hat der Sohn vielleicht nur geblufft?
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Nein, ich hab natürlich nachgezählt 😉 Aber die Ringe waren wirklich sehr eng beieinander.
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Ein Baum aus den Bergen. Von dort, wo die Winter lang und kalt und die Sommer kühl und trocken sind. Und erst der Wind. Da hat man nicht viel Kraft für einen neuen Ring. Und doch macht man ihn, Jahr für Jahr. Nicht so wichtig, denkt man, bis ein kleiner Junge es bemerkt.
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Das ist wie ein Gedicht. Danke
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Ein Baum aus den Bergen.
Von dort, wo die Winter lang und kalt
und die Sommer kühl und trocken sind.
Und erst der Wind.
Da hat man nicht viel Kraft für einen neuen Ring.
Und doch macht man ihn, Jahr für Jahr.
Nicht so wichtig, denkt man,
bis ein kleiner Junge es bemerkt.
😉
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