Er stand abends um neun an der Ampel mit dem Rücken zum leeren Sportplatz. Seine Hände steckten in viel zu großen Arbeitshandschuhen, sein kleiner Kopf in einer albernen Fleece-Mütze mit Ohrenklappen. Um sich herum hatte er zwei halbvolle Alditüten und eine sehr volle, aus der oben Wasserflaschen herausschauten. Er kam nicht weiter. Sein schmales Gesicht hinter der Brille und der schief hängenden OP-Maske färbte sich abwechselnd grün, gelb und rot. Er blieb stehen und sortierte seine Tüten neu, kriegte aber immer nur zwei zu fassen. Wenn er die dritte hob, sanken die anderen zwei wieder zu Boden. Er war fertig. Ob ich ihm mal eine Tüte abnehmen solle, fragte ich ihn. Ich kriegte eine Antwort, die keinen Sinn machte. Irgendwas mit “ … man wird nicht jünger.“ Er roch säuerlich und ich setzte mir sofort meine Maske auf, dann ich packte mir beherzt die schwerste Tasche und wollte ihn nach Hause bugsieren. Ob ich einen Mann sehen würde, fragte er mich. Er warte noch auf Julius. Er habe ihn irgendwo verloren. Ich war nicht ganz sicher, ob es diesen Mann wirklich gab. Wir warteten. Ich lugte in alle vier Straßen der Kreuzung. Im Sommer waren die vertrockneten Bäume längs der Straße abgeholzt worden. Jetzt ist hier alles sehr übersichtlich. „Kommt kein Mann.“, sagte ich . „Oh weh, oh weh“, jammerte der Alte, „ich hab ihn verloren. Ich bin doch nur der Untermieter.“ Ich wurde sauer. Ich hatte eine Runde um den Block drehen wollen, um die Arbeit zu vergessen. Jetzt stand ich hier und wollte weiter. „Wir warten noch zwei Ampeln“, bestimmte ich, „und dann gehen wir rüber.“ Er trotte hinter mir her, sehr langsam, mit vielen Pausen. Er wohne in der 20 hatte er mir gesagt. Ich hatte mal in der 19 gewohnt und wusste: Das wird noch ein Stück. Aber jetzt war ich in der Sache drin und jetzt musste sie auch zu Ende gemacht werden. „Ich bin een Hamburger Jung, ick kann Platt schnacken.“, kam es leutselig aus seinem Mund. „Schön“, sagte ich, „ich mag das.“ Wir hatten den halben Weg zum Trinker- Kiosk geschafft, der auf der Hälfte des Weges lag, da kam ein junges Pärchen, dick in Daunenjacken verpackt, und meldeten, dass am Kiosk ein Mann auf meinen Begleiter warte. Ob er Bernd sei? Ja, sagte Bernd, aber er sei ja nur der Untermieter. Julius war noch ein Stück kleiner als Bernd, krumm gebeugt und schlecht gelaunt. Er schaute mich nicht an, denn so hoch kam er mit seinem buckligen Rücken nicht mehr. Seit Weihnachten habe er das, sage er. „Was?“, fragte ich. „Dass ich nicht mehr aus dem Bett komme.“, brummte Julius. Das sei sein erster Einkauf seither. Den da, er nickte Richtung Bernd, habe er nur zum Tragen mitgenommen. Der sei ja ziemlich dement. Ob er schon mal beim Arzt gewesen sei, fragte ich gottergeben und wusste die Antwort, bevor er mich fragte, ob ich denn einen Arzt kenne? Er solle einfach den Notarzt anrufen, riet ich ihm. Eine Telefonnummer würde er sich eh nicht merken. Ich hatte auch keine. Natürlich wohnten sie 2. Hinterhof die Treppe hoch in den dritten Stock. Allein den Schlüssel in die schwere Eingangstür zu kriegen, die zwei Türen zum Hof aufzuschieben und die zwei Alten durch die Tür zu kriegen, war eine Geduldsprobe. Dann schnaufte Julius vor uns das enge Treppenhaus hoch, so langsam, wie er mit den geschwollenen Beinen eben konnte und wir kamen mit den schweren Tüten nicht an ihm vorbei. Mir ging meine gute Pfadfindertat langsam auf die Nerven. Dritter Stock. Ich hatte inzwischen den Schlüssel in Obhut genommen und schloss die Tür auf, während die anderen noch schnauften. Die Tür ließ sich nur einen spaltbreit öffnen. Ich lugte hinein. Keine Tapete, braune, unverputzte Wände, alter Kram auf dem Boden und ein schwerer Karton, der die Tür blockierte und nur einen engen Spalt im Flur frei ließ. Ich war an Messies geraten! Augenblicklich wollte ich raus hier. Alle meine Samaritergefühle waren weg. Es blieb nur die Hilflosigkeit und der Ekel. Ob ich ein Trinkgeld wolle, fragte Julius noch weltmännisch. Aber da war ich schon am Treppenabsatz. Auf der Straße holte ich das Fläschchen mit Desinfektionsmittel raus und rieb mir die Hände ab. Die zitterten noch, als ich mir am Küchentisch eine Flasche Bier aufmachte. Scheißabend.
„Vertüddelt“, was für eine wunderbar passende Überschrift für dieses Erlebnis…
LikeGefällt 1 Person
Arme Kerle. Tja, andere Welten. Da wird man still.
LikeGefällt 1 Person
Tapfer!!! Gibt 100 Karmapunkte extra.
LikeGefällt 1 Person
Danke, kann ich gut brauchen.:-) Wie gut, dass ich schon vor ein paar Jahren mein Konto von „Schutzengel“ auf Karmapunkte umgestellt habe.
LikeGefällt 1 Person
Währung ist konvertierbar, auch in Golddukaten oder Roulettechips …
LikeGefällt 1 Person
Da hast du aber tief in den Messi-Abgrund geschaut 😶
Die Karmapunkte hast du dir wirklich verdient.
LikeGefällt 1 Person
Schön nachgezeichnet, der Weg vom barmherzigen Samariter zum verprellten Helfer. Erinnert mich an neine anfängliche Motivation als Zivi im Altersheim. Eine wichtige Erfahrung: Gutgemeintes trifft auf harte Realität.
LikeGefällt 2 Personen
Eher hilfloser Helfer. Ich kann ja so ein Elend schwer ertragen. Aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, es zu ändern.
LikeGefällt 1 Person
Ein so ehrlicher Bericht! ! da muss ich mich gleich abonnieren. Herzliche Grüße nach Berlin
LikeGefällt 1 Person
Danke für’s Folgen. 😉
LikeGefällt 1 Person
Ich folge nur Blogs, die ich interessant finde
LikeLike
Wie traurig, wie ehrlich, wie verzweifelt, wie schicksalsergeben, wie wahr.
Wie herzberührend beschrieben.
LikeGefällt 2 Personen
Respekt! In solche Abgründe des menschlichen Lebens schaut man nicht ohne Schaudern. Du hast es getan und ergreifend darüber geschrieben.
LikeGefällt 2 Personen
J’aime la poesie…… Sorry, aber ich konnte Deinen Blogspruch nicht anders kommentieren
LikeGefällt 1 Person