Auf Linie

Würde die Welt eine bessere sein, wenn die Frauen die Macht hätten? Diese Frage lässt sich nicht leicht beantworten. Aber wenn ich einen Blick auf die Bereiche werfe, in denen die Frauen jetzt schon das Sagen haben, lässt das bei mir zumindest nicht allzu große Hoffnungen für die Zeit nach der Niederwerfung des Patriarchats entstehen. Ich rede von der Grundschule. Ich rede von der Wunschliste der Lehrerinnen zum Anfang des neuen Schuljahres, von Lineaturen, Heftformaten und Schnellheftern.
Die SMS, die ich von der Mutter meiner Söhne bekam, klang wie beiläufig: „Kannst du bei McPaper vorbeigehen und einen Schnellhefter in grün -aber nur von Durable, keinen anderen, und zwei Geometriehefte Lineatur 24 mitbringen?“ Sie ahnte nicht, dass sie mich damit auf eine Reise schickte, die mich einen sonnigen Nachmittag und den Rest meiner Nerven kostete. Diese Reise kafkaesk zu nennen, wäre hier am Platz. Aber ich habe dabei auch viel über unser Land gelernt.
Bei McPaper stehe ich vor dem Regal mit den Schulheften und verstehe die Welt nicht mehr. Später werde ich erfahren, dass es in Deutschland mehr als 30 verschiedene Lineaturen gibt, dazu noch mindesten drei verschiedene Formate von Din A4 bis Quart und natürlich das alles als Block und als Heft, mit 16 und 32 Blatt mit und ohne Rand… Wer hat sich diesen Wahnsinn ausgedacht? War das schon immer so? Und warum?
Die Verkäuferinnen bei McPaper sind nicht besonders gut in Warenkunde. Aber immerhin können sie mir sagen, dass sich hinter „Geometrieheft“ ein Heft ohne Linien verbirgt. Blanko, sozusagen, weiße Blätter. Das gibt es auch noch. Aber wie kann ein Blanko-Heft eine Lineatur haben? In Deutschland geht alles. Ich finde ein Blanko-Heft mit Lineatur 25 aber ohne Rand, und tue was alle Väter tun: Ich stehe im Laden und rufe die Mutter an, die nicht wirklich geglaubt hatte, das Problem an mich losgeworden zu sein. „Weiß ich auch nicht.“, seufzt sie, „Es muss halt 24 draufstehen, mehr weiß auch nicht.“ Es ist also kein Frage der Pädagogik oder des Kindeswohls, sondern eine Frage der Autorität. Man will der Lehrerin gefallen, in dem man jeden ihrer absurden Wünsche erfüllt. Meine Zwillinge gehen in zwei verschiedene Klassen, im gleichen Jahrgang der gleichen Schule. Ich kann also gut vergleichen. Der eine hat das Schreiben in Blockschrift gelernt, der andere in Schreibschrift. Auch die Mathebücher waren unterschiedlich. Alles nach Ermessen der Klassenlehrerin. Und wenn die Lehrerin wechselt, was oft geschieht, wechseln auch die Anforderungen. Absprache, Koordination, einheitliche Regeln? Fehlanzeige. Alle meckern über den Hick-Hack der 16 Bundesländer. Aber das Problem fängt wohl früher an. Und das Problem hat zwei Seiten: Es gibt eine, die die Regeln aufstellt, und eine, die sie befolgt. Warum sind Mütter, die sonst den Konflikt mit den Lehrerinnen (auf der Grundschule meiner Kinder gibt es keinen Lehrer) um Schulessen, Pausenzeiten oder besondere Coronaregeln nicht scheuen, so devot und so kleinteilig, wenn es um die Schulsachen geht? Und warum wälzen sie diese Aufgabe dann auf mich ab?


Meine Odyssee, die bei McPaper begonnen hat bringt mich in alle Läden, die unsere Müllerstraße, die mal „Kurfürstendamm des Berliner Nordens“ genannt wurde, noch zu bieten hat. Zu Woolworth, zu McGeiz und zu Müllers Drogerie. Überall das gleiche Bild: Ratlose Eltern, mit und ohne Anhang zwischen zerrupften Regalen, die extra für die „Schulsonderaktion“ aufgestellt wurden. Türkische Mütter mit Kopftuch und ganzer Familie in regem wie verzweifeltem Austausch, ein russischer Vater mit Sohn und großer Einkaufsliste, die ich zuerst bei „Müllers“ und dann noch drei Mal mit immer prallerem Beutel treffen werde. Ein arabischer Mann mit Sohn, der ihm die Wunschliste auf dem Handy vorliest, telefonierende Männer… Geheimtipps machen die Runde: Bei „Pfennigland“ soll es noch Blanko-Hefte geben, raunt mir eine junge Frau zu, die gerade eine türkische Frauengruppe beraten hatte. „Pfennigland“, murmele ich vor mich selber hin, und es klingt wie der Name des himmlischen Jerusalems. Dass ich daran nicht gedacht hatte. Hier bin ich Stammkunde. Das ist der Ort, an dem Wunder möglich werden- zu kleinem Preis. Hier finde ich immer die Überraschungen für die Kindergeburtstage und manchmal auch Ersatzteile für mein altes DDR-Fahrrad. Doch als ich ankomme, ist das Regal leer und mein Mut verflogen. Ich könnte noch zu Karstadt, aber meine Kraft reicht nicht mehr. Geschlagen ziehe ich zu McPaper zurück und kaufte zwei Hefte blanko, Lineatur 25 für je 39 Cent das Stück, um nicht mit leeren Händen bei meinen Kindern anzukommen. Vielleicht übersieht es die gestrenge Lehrerin ja und vielleicht müssen meine Kinder nicht unter dem Versagen ihres Vaters leiden. „Ach, das hättest du jetzt nicht machen müssen.“, flötet die Mutter meiner Söhne, „Ich hätte die Hefte auch am Montag noch hier im Schreibwarenladen besorgen können. Aber an den grünen Hefter hast du gedacht? Den gibt‘s nämlich nur bei McPaper.“ Auf meinem dritten Gang in die Welt der Frauen gründe ich in Gedanken und mit wachsender Freude die erste Widerstandsgruppe für die Zeit, wenn das Matriarchat die Macht übernommen hat. Also heute.


19 Gedanken zu “Auf Linie

  1. 😄 ach ich glaub, das schenkt sich nix. Egal ob Lehrer mit oder ohne *in 😁 jedes Lehrerle hat eigene Vorstellungen, welches Material das Beste sei …
    Aber ich seh schon 🙈 es hat sich in den letzten 25 Jahren nix geändert.
    Liebe Grüße
    Sabine vom 🕷🕸

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  2. Es gibt viel zu wenig Grundschullehrer. Ist einer der Jobs, die meistens von Frauen gemacht werden. Doch die Vorschriften für das Schulmaterial ist eine Vorgabe der Schule. Zumindest war das bei meinen Kiddies so. Dem voraus gingen Diskussionen und Lehrerkonferenzen. Ich regte mich über vieles auf: über die alljährliche Odyssee durch Schreibwarengeschäfte, die das günstigste, dennoch passende Material hatten. Ich stand fast nur mit Müttern zusammen, die genauso entnervt wie ich die ellenlangen Listen der Schule abackerten. Die Väter hatten offenbar Wichtigeres zu erledigen oder schlicht keinen Bock auf den Job. Für derlei Unbillen und Unleidigkeiten gibt es ja Schließlich das Muttertier…
    War mal ein Vater dabei, hatte der garantiert eine genervte Verkäuferin im Schlepptau, die er dazu zwang, alle anderen fragenden Mütter zu ignorieren. Er, der Mann, verstand schließlich nur was vom Feuermachen. Falls das nicht auch eine Frau war, das ist meines Wissens noch nicht endgültig geklärt.
    Immerhin respektierte ich, dass ein Vater sich mit Schulmateriallisten abgab, mein ehemaliger Mann hätte sich tot gelacht, wäre ich jemals mit derlei Ansinnen an ihn heran getreten. Er war für das Vergnügen und die Belustigung der Kinder zuständig, nicht deren mühseliges Betutteln. Das können Frauen von Geburt ja eh viel besser, darum hat Frau Merkel auch keine Kinder und ist neben Kanzlerin noch Wissenschaftlerin.
    Liebe Grüße
    Amélie 🍃

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    • Danke für deine Sicht. Ich glaube hinter diesem Irrsinn steckt Methode. Es ist wie das Exerzieren bei Soldaten. Es geht nicht darum, etwas Sinnvolles zu tun, es geht darum klar zu machen, wer das Sagen hat. Als vor 20 Jahren meine große Tochter in Ost-Berlin einschulten, sagte die Direktorin, die ihre Ausbildung noch aus DDR-Zeiten hatte ganz unverblümt: Erst erziehen wir die Eltern, dann erziehen wir die Kinder.

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    • Ich fürchte, ein Teil der Erklärung für das weibliche, ähm, Übergewicht in den Grundschullehrerzimmern liegt in der relativ dürftigen Besoldung.
      Die Grundschule ist die wichtigste Phase für die Kleinen, aber die am schlechtesten ausgestattete. Also mal wieder eine ziemlich übliche Erklärung: hier darf das Matriarchat mal. Anderswo würde es zuviel Kohle verlangen.

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  3. Lieber Rolf,
    letzte Woche war ich bei Tonerdumping in der Müllerstrasse (kurz vor dem Leo, gerade über der Bibliothek). Vor mir ging eine junge Frau zielsicher in den Laden, reichte dem freundlichen Verkäufer ihre Liste und der trottete gemütlich durch den Laden und suchte Hefter, Bücherumschläge, Stifte, Hefte etc. zusammen, die Frau bezahlte und ging fünf Minuten nach Betreten des Ladens glücklich auf die sonnige Müllerstraße hinaus.
    Ich war sehr erstaunt und dachte „perfekt“ !!!!!!!
    Einen schönen Sonntag von Susanne

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    • Ja wunderbar! So soll das sein, und so war das früher bei uns auf dem Dorf. Es gab nur einen Schreibwarenladen und der bekam von der Grundschule die Listen von der Schule und hatte alles vorrätig. Mann (ichmeinerselbst) musste nur sagen: Die Hefte für die dritte Klasse, und bekam, was man brauchte. Natürlich nicht zum allerbilligsten Billigpreis. Der Wedding ist ein Dorf, man muss sich nur auskennen, so wie du.😉
      Schönen Sonntach och
      Rolf

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  4. …fällt mir gleich Nietzsches Übermenschtheorie zu ein…gilt für alle Sorten Mensch gleichermaßen…😉
    Wer einmal einen Elternabendmarathon mit knallharten Ansichten bezüglich gesunder Klassenfahrtsverpflegung im Bus und die daran anschließenden Elternpflegschaftswahlen überlebte, ist anschließend stark wie Popeye… 💪Das macht doch Mut…?😎😉

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  5. Das ist wirklich komisch. Über alles meckern die Eltern. Wenn es zum Mittagessen in der Schule das „falsche“ Getränk gibt, folgt ein Aufstand. Aber diese Listen – auf denen übrigens in der Regel auch Sachen stehen, die später nie oder fast nie gebraucht werden, die arbeiten alle brav ab.
    Dabei gibt es eine einfache Frage, um die Luft aus dem ganzen Theater zu lassen: „Auf welcher Rechtsgrundlage verpflichten Sie mich, genau dieses Produkt zu kaufen?“

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    • Das wäre genau die richtige Frage, um Ärger zu machen. Oft läuft es nämlich auf ein Produkt heraus, das es nur bei einem Anbieter gibt. Aber meine Erfahrung als Elternsprecher in der Kita sagt mir, dass Mann weder bei Eltern noch bei Erzieherinnen mit klaren Positionen weiter kommt. Das wird dann auf WhatsApp-Gruppen so lange durchgequatscht, bis man den Glauben an die menschliche Vernunft verliert.

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  6. Ach herrjeee! Was für eine Kugelfuhr!
    Das mit den Büchern ist ja schon seltsam genug. Berlin, oder?
    Hier haben zumindest alle in der selben Schule die selben Bücher. Geht nicht anders, da wir so ne halbgare Lösung zur Lehrmittelfreiheit haben.
    Warum in aller Welt sagt die Grundschullehrerin nicht: bringt 5€ mit, ich kaufe für alle ein?
    Mir persönlich ist es lieber, wenn die Kinder Hefter haben wegen der ausgeteilten Arbeitsblätter. Wenn sie es sich aber zutrauen, diese einzukleben, können sie auch ein Heft haben. Farbe egal. Kariert wäre schön. Ich sehe, dass ich da noch genug Schikanepotential nicht ausgenutzt habe.

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