An Schlaf war nicht zu denken. Wir mussten raus auf die Straße, denn wir hatten nur noch diese Nacht. Wie Diebe strichen wir durch die dunklen Winkel unseres Viertels. Lichtscheu duckten wir uns mit unserer Last in die Schatten, die vom schwefelgelben Licht der Gaslaternen nicht vertrieben wurden. Was wir nicht wußten: Wir waren nicht allein.
Als wir unser schmutziges Werk vollendet hatten, graute der Morgen. Was wir getan hatten, würde nicht lange unentdeckt bleiben, deshalb beschlossen wir, uns zu trennen. Ein halbes Jahr hatten wir zusammen gehaust, diskutiert, gekocht, gestritten. Meine Wohnung glich mehr und mehr einer Räuberhöhle. Meine Komplizin war auf ihren Beutezügen erfolgreich. Es gab im Umkreis von zehn Kilometern sicher keine Drogerie, kein Kosmetikgeschäft und keinen Modeladen, den sie nicht geplündert hätte. Das Wertvollste hatte sie in zwei Koffer gestopft, die jetzt bis zum Platzen gefüllt zwischen uns auf dem morgenkalten Bahnsteig standen. Den Rest würde sie holen, versprach sie, wenn wir uns wiedersehen würden – in einem halben Jahr vielleicht, vielleicht schon vorher, versprach sie. Ich wußte, dass sie mich anlog, dass sie sich schon in wenigen Tagen an nichts mehr erinnern würde und sagte ihr trotzdem, dass ich sie liebe. Ich hoffte, dass sie es unentdeckt über die Grenze schaffen würde. Dort würde sie einen neuen Unterschlupf, ein neues Opfer finden und sich dann bald wieder bei Nacht und Nebel aus dem Staub machen. Ich gab ihr bis zum Herbst. Dann würde ich wieder ihre Mutter anrufen müssen, um zu erfahren, wohin sie verschwunden war.
Ein flüchtiger Kuss, ein strahlendes Lächeln, dann schloss sich die Waggontür vor ihr und der Zug nahm sie mit nach Westen – einem neuen Leben entgegen. Mir würden ihre Briefe bleiben, ihre Bücher, die leeren Kleiderbügel.
Es nieselte leicht aus dem grauen Morgenhimmel, als ich den Bahnhof verließ. Ich zog den Schal fester um den Hals und duckte mich in meinen Mantelkragen. Es war ein trostloser Morgen für mich und die Berliner Straßen machten mich nicht fröhlicher. Zertretene Fahrräder an Laternenmasten, weiße, im Regen aufgequollene Matratzen, an Straßenbäume gelehnt, halbe Schlafzimmereinrichtungen, in Teile zerlegt, waren schon immer ein Sinnbild für die Gleichgültigkeit der Bewohner meines heruntergekommenen Viertels. Allein seit gestern Nacht waren wieder drei neue Matratzen dazu gekommen – und diese hässliche Holzpalette, drei Blocks neben meiner Wohnung, die meine Tochter und ich im letzten Herbst mit diebischer Freude von einer Baustelle gefischt hatten und die für die Zeit, in der sie bei mir wohnte ihr Bett war.
Jetzt ist Frühling und etwas Neues fängt an.
Versuche es mit Futon und Tatami beim nächsten mal. Davon bekamich Heuschnupfen.
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Ich hoffe, die hinterlassene Leere hat sich schon wieder ein wenig gefüllt. 😉
Als mich diese Leere vor Jahren traf, kaufte ich mir ein Radio!
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Sie hat keine Leere hinterlassen, zumindest nicht in ihrem Zimmer 😉 Es sieht noch aus wie „Ostpreußen nach der Flucht“, wie meine Schwiegermutter immer sagte. Irgendwann werde ich alles zusammenfegen und in den Keller bringen. Aber erstmal hab ich einfach die Tür zugemacht.
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Holt sie irgendwann die Kisten ab? Ich war sehr hart mit meinem Sohn, er musste alles mitnehmen. Wir sind beide aber auch zum selben Zeitpunkt aus unserer damaligen Wohnung ausgezogen. Er nach Göttingen zum Studium und ich in den Wedding in meine dir gut bekannten Atelierwohnung.
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Ich wäre ja auch gerne mal hart, aber es wird wohl darauf hinauslaufen, dass meine Wohnung ein Zwischenlager wird. Ich werde nächste Woche mal die Bestände sichten. Als ich zuhause auszog, habe ich meinem Vater ein auseinandergeschraubtes Motorrad in Einzelteilen in der Garage hinterlassen. Zwei Jahre hat er das ertragen, dann hat er es verkauft.
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Bei mir war es umgekehrt, meine Eltern zogen damals aus der Wohnung in der Malplaquetstraße aus und hinterliessen sie mir. Alles hat mir damals nicht gefallen, aber wer schaut schon dem berühmten Gaul ins Maul?
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Diese Geschichte geht so großartig los, dass ich regelrecht ein wenig enttäuscht war, die doch eher profane Auflösung zu erfahren. Ganze Ost-West-Spionage-Menschenschmugglerfilme laufen da vorher ab. Du weißt offensichtlich noch, wie das mit der journalistisch erzeugten Fallhöhe ging … 😉
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Ja, das weiß ich noch, 😉 Aber es war gestern Abend zu spät, um noch einen großen Bogen zu spannen. Aber wenn wenigstens der Einstieg geklappt hat…
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Hallo Rolf,
das die Berliner Strassen einennicht gerade optimistisch stimmen glaube ich dir gerne, muss da an den Text von Peter Fox denken…(Berlin , du kannst so grausam sein…) Ansonsten musst du jetzt wieder mit dem Radio reden…das ist nach dem halben Jahr schon eine Umgewöhnung. Aber ich denke du hast die Zeit genossen…behalte sie (und Sie) in Erinnerung , lüfte durch und mach dich an den Frühjahrsputz…das lenkt ab…(bin gerade mit allen Fenstern hier fertig geworden, jetzt wird gestrichen 🙂 Lieber Gruss, Jürgen
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Aye, Sir! Ich hab auch schon begonnen klar Schiff zu machen. Frühlingsgefühle halt.
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