Gute-Laune-Nudeln

Ich komme von der Arbeit und habe Glück: Vor dem angesagten „Mr. Noodle Chen“-Restaurant steht ausnahmsweise mal keine Schlange. Schon ein Mal hatte ich mit meiner Tochter versucht, hier rein zu kommen, denn der Laden erinnert sie an die Nudel-Bars in Hongkong, wo sie zum Studium war. Aber wir haben nach einer Viertelstunde in der Schlange enttäuscht aufgegeben. Es ging einfach nicht vorwärts und wir gingen ins DUKKI um die Ecke. Koreanisch und auch sehr lecker. 
Heute steht nur ein junger Mann vor der Tür und ich frage ihn, ob er die Schlange ist. Er findet das nicht witzig, denn anscheinend wartetet schon eine Weile darauf, hinein gelassen zu werden, während an uns vorbei Essenslieferanten mit ihren riesigen Thermo-Taschen ein und aus gehen. Durch die Glastür sehen wir wie der Mann an der Kasse, der hier alles kontrolliert dann endlich auch dem arabische Grüppchen vor uns seine riesige Take-Away-Bestellung in die Hand gedrückt hat – dann dürfen wir beide rein. Alles ist hell und übersichtlich. Keine goldenen Drachen oder anderer China-Kitsch. Auch die Speisekarte ist sehr klar: Nudelsuppe mit oder ohne Fleisch. Nur bei den vielen Nudelsorten brauche ich Entscheidungshilfe. Der Mann an der Kasse ist auch dafür da. Ich entscheide mich für die dreieckigen Nudeln, die vor meinen Augen frisch gemacht werden. Hab ich noch nie gegessen. Als ich mich setze, sehe ich um mich rum fast nur junge Chinesen. Das Studentenwohnheim ist um die Ecke und das Restaurant ist wohl der Platz, an dem man sich abends trifft. Zu mir setzen sich, ohne groß zu fragen drei junge Kerle, die sich  fröhlich auf Chinesisch Zoten erzählen und ständig lachen. Sie stellen ihre riesigen Trinkflaschen auf den Tisch. Sein Getränk darf man hier wohl mitbringen. Durch sie lerne ich auch, wo man das Besteck findet: In einer Schublade unter dem Tisch. Wie früher bei uns zu Hause. Der größte und munterste von ihnen hat das kleinste und billigste Gericht bestellt. Aber ständig ruft er die Bedienung und sie bringt ihm mit ausdruckslosem Gesicht  immer neue Schalen mit frisch gemachten Bandnudeln. „Are they for free?“, frage ich. „Yes, for free. Order some.“, läd er mich auf beiden Backen kauend ein. Ich lehne dankend ab. Meine Schale mit der dicken Brühe war mehr als genug. Und ich habe aufgetankt zwischen all den jungen Kerlen (sind nur wenige Frauen da, die heimlich angeschmachtet werden.) Die gute Laune der Burschen, die sich hier für kleines Geld satt essen können, war ansteckend.

Frechdachse

Abends vor Denns Biomarkt in der Müllerstraße. Ich will mein Fahrrad vor dem Ladenschaufenster in der Seitenstraße abstellen. Zwei Jugendliche kommen auf mich zu: „Da dürfen Sie keine Fahrräder abstellen.“, sagt der Kleinere wichtigtuerisch im Straßenslang. Der Ältere weist mit dem Arm ins Dunkle, wo an einem Laternenmast mehrere Fahrräder stehen. „Da hinten müssen Sie hin!“, will er mich dirigieren. Die beiden können das schon ganz gut nachmachen, das typisch berlinerische Rumkommandieren. „So so“, sag ich. „Ich bleib aber mal hier stehen.“ Der Kleine gibt noch nicht auf. Er hebt sein riesiges Handy vor seinen Mund: „Dann ruf ich jetzt die Polizei.“, droht er und versucht, dabei so entschlossen zu klingen, wie ein 12-Jähriger klingen kann . Wo er das nur her hat? Lernen die Kinder das jetzt in der Schule, oder ist die Straße ihre Schule? Ich greife in meine Hosentasche und hole meinen Dienstausweis raus. Der ist grau und sieht sehr amtlich aus. In der Dunkelheit sollte es für einen Bluff reichen: „Ich bin von der Polizei.“, brumme ich und hebe den Ausweis nur ein bisschen hoch. „Au Scheiße!“ Der Kleine hüpft ein Stück zurück und verschwindet blitzschnell in der Dunkelheit. Er grinst dabei diebisch. Wir sind quitt.

The Doors

Eine neue Cique, neue Orte, neue Musik. Das war gar nicht so einfach, mit 17. Aber ich hatte es geschafft. Statt mit der Katholisch Studierenden Jugend, bei denen ich nach den St. Georgs-Pfadfindern sozusagen automatisch gelandet war, nach Taizé zu fahren, wozu mir nach Ansicht unseres Gruppenleiters der rechte Glaube fehlte, saß ich mit ein paar Jungs aus meinem Jahrgang und, vor allem, mit ein paar Mädchen vom benachbarten Mädchengymnasium bei Peter im Zimmer. Und er legte auf. Eine Platte, die mich alle zur Klampfe gesungenen Fahrtenlieder vergessen ließ: The Doors – live. Der hypnotisierende Sound passte zu meinen Haaren, die ich lang wachsen ließ und die Botschaften waren vage genug, um alles mögliche zu bedeuten. „Break on trough to the other side!“ hieß für mich vor allem: Von meinen Eltern weg, Schlafsack packen, in die Dorf-WG in der Eifel umziehen und da das Kiffen ausprobieren. Hat drei Tage gedauert, da stand ich wieder bei meinen Eltern vor der Tür. Vom Kiffen war mir schlecht geworden und Freiheit hatte ich mir anders vorgestellt als endloses Gequatsche auf versifften Matratzen. Und überhaupt. Ich hatte ja gerade erst eine Tür aufgestoßen. War von der Realschule auf das Gymnasium gewechselt. Ich blieb am Boden. „Not to touch the air, not to touch the sun, nothing left to do but run, run, run..“ sang Jim Morrison. Die Vorstellung war mir Rausch genug. Ich machte mein Abitur und lernte was Ordentliches.

Deswegen muss ich mich jetzt um anderer Leute Türen kümmern. Verklemmte Türen, defekte Türen, automatische Türen, die nicht automatisch öffnen und die für manche Menschen ein unüberwindbares Hindernis darstellen, vor allem, wenn sie im Rollstuhl aus der Tiefgarage wollen. „Ist das wieder die Tür zu Haus 1, die nicht aufgeht?“ frage ich den Anrufer. „Nein, die ist repariert worden, aber die Brandschutztür vor dem Aufzug, die hat einen Schnapper, und wenn der eingeschnappt ist, dann öffnet sie sich nicht automatisch.“ Ich blättre durch Schreiben und Mails des letzten halben Jahres, in denen die Techniker versichern, dass sie eine neue Tür bestellt hätten, und dass bis zum soundsovielten die Tür wieder funktioniert. Ich bin skeptisch. Setzte Fristen, mahne an. Ersatzeile können nicht beschafft werden, Zuständige sind in Urlaub, Funktionsprüfungen können noch nicht durchgeführt werden…

Neben meinem Büro rumort es. Das sind die zwei Techniker, die seit einer Woche versuchen eine Tür im Durchgang zur Teeküche einzusetzen. Seit mehr als 20 Jahren nutzen wir diese Büros und erst dieses Jahr ist jemand aufgefallen, dass in dem Gang eine Brandschutztür fehlt. Ich hab meinen neuen Kollegen im Verdacht, der früher Sicherheitsbeauftragter war. Die Tür haben sie schnell eingepasst. Eine massive Tür mit dickem Stahlrahmen. Ich hab gestaunt. Jetzt ist alles gut, dachte ich: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Bei einem Feuer im Nachbarflur sind wir jetzt sicher und können beruhigt weiter arbeiten. Dann ist jemand aufgefallen, dass die Tür nicht barrierefrei ist. Wir haben auch einen Kollegen im Rollstuhl, der würde die dicke Tür nie alleine aufbekommen. Also wird ein elektrischer Türöffner nachträglich eingebaut. Das Ding funktioniert aber nicht. Seit Wochen. Unsere Hausverwaltung hat uns geraten wegen dem Lärm, den die glücklosen Elektriker bei ihrem ahnungslosen Rumgehämmer produzieren, ins Homeoffice zu wechseln. So lange bleibt die Tür mit einem Holzkeil aufgesperrt. So würden wenigstens nur unsere Akten verbrennen, wenn jetzt ein Kurzschluss am Türöffner die ganze Bude abfackelt.

Ich bleibe tapfer auf meinem Posten. Der Mann im Rollstuhl ruft wieder an. Die alte Tür in Haus 1 sei jetzt auch wieder kaputt. Er müsse bis auf Weiteres aus dem Homeoffice arbeiten, weil es für ihn keinen Weg aus der Tiefgarage mehr gibt. Ich bitte ihn, sich einen Plan seines Hauses zu besorgen, und dort alle klemmenden Türen einzuzeichnen. Den Plan würde ich an den Präsidenten seiner Behörde schicken, nach ganz oben, tröste ich ihn. Ich gehe in die Teeküche, um mir einen Kaffee zu machen, bevor der nächste anruft. Ich sehe den dicken Keil, der die Brandschutztür offen hält und die herunterhängenden Kabel. Vielleicht sollte ich es doch noch mal mit dem Kiffen probieren.