Wo er wirklich herkam, wußte niemand so genau. Und niemand wollte es wirklich wissen. In unserer Familie ging das Gerücht, dass er der verrückt gewordene Sohn reicher Leute aus unserer Stadt sei. Aber das war nur eins der vielen Gerüchte, die in unserer Familie so daher erzählt wurden. So wie das von Onkel Nick, dem U-Boot-Fahrer. Alles was von ihm geblieben war, war ein Foto mit einer Mütze der Kriegsmarine und eine Postkarte aus Oslo. Da schrieb er, dass es bald losgehen werde und dass er sich freue. Das war 1943. Onkel Nick ist nicht wiedergekommen, aber unter seinen neun Geschwistern hielt sich das Gerücht, dass sein Boot in der Ostsee versenkt worden wäre. Er sei einer der wenigen Überlebenden gewesen und in russische Kriegsgefangenschaft geraten. Das hatte ein Nachbar erzählt, um meine Großmutter zu trösten, die die Nachricht vom Tod ihres Sohnes nicht ertragen konnte und nächtelang klagend durch ihr Haus gelaufen war. Er erzählte ihr, dass die Sache mit der Gefangenschaft im „Feindsender“ gehört habe, wo Listen der deutschen Gefangenen verlesen wurden. Nun, das war edel und mutig, denn auf das Hören ausländischer Sender standen hohe Strafen, und es verfehlte seine Wirkung nicht. Aber es war so wenig wahr wie das Gerücht, dass der „ahle Russ“, ein Obdachloser, der mit seinem grauen Bart und seinem schmierigen Mantel ab und zu unsere Straße herunter lief, wirklich ein Russe war.
Für ein Kind ist es ein Leichtes, das Gerücht von dem in Russland verschollenen Onkel mit dem von einem alten Mann aus Russland zusammen zu bringen. Die Welt um mich herum war voll mit Spätheimkehrern und Männern, die nicht darüber sprechen wollten, was sie erlebt hatten. So war das Erscheinen der ausgestoßenen Kreatur für mich immmer mit einem schönen Schauer verbunden. Ich ging im aus dem Weg, wie alle, das war klar. Nur ein paar Mutige, warfen ihm ein freches: „Na, alher Russ“ an den Kopf, um schnell wieder zu verschwinden. Der Alte antwortete nie und stieß auf die Frecheiten nur ein gequältes Brummen aus. Aber für mich war klar, das musste mein Onkel sein- und keiner außer mir wußte es.
Und wenn das Leben ein Roman wäre, dann könnte ich jetzt erzählen, wie ich dem Mann nachgeschlichen bin, wie ich herausfand wo er wohnte, dass ich irgendwann den Mut gefunden hätte, ihn anzusprechen und dass er mir ein Freund geworden wäre, von dem ich alles alles das gelernt hätte, was mir mein Wirtschaftwunder-Vater, der immer auf Achse war, nie die Zeit hatte mir beizubringen. Aber Romane werden ja deshalb so gerne gelesen, weil in ihnen das Unwahrscheinliche geschieht, das Magische, das, was alle sich wünschen, was aber in im eigenen Leben eben nie vorkommt.
Der alte Russ war eines Tages einfach verschwunden, und keiner verlor ein Wort darüber. Verschwunden wie die andern Männer, die mich als Kind faszinierten. Der „Hunsrücker“, ein fliegender Händler, der ein mal im Monat auf dem Parkplatz vor dem Ausflugshotel seinen Stand mit billigen Kindersachen aufschlug und der „Eifler“, der uns einmal in der Woche drei glänzende Brotlaibe brachte, aus denen dann meine Mutter die Butterbrote machte, die mein Vater auf seine langen Fahrten nach Berlin mitnahm, um Spesen zu sparen.
Ein paar Jahre später erfuhr ich, dass das Haus, in dem der alte Russ gehaust hatte, abgerissen werden sollte. Es lag hinter dem Friedhof auf einer schönen Wiese mit Obstbäumen. Und es war trotzdem ein unheimlicher Ort. Ich näherte mich der fensterlosen Ruine nur zögernd, Schritt für Schritt. Als ich über die Schwelle trat, knischte unter meinen Sohlen zersplittertes Glas und Metall. Die Räume waren vollgestoft mit Müll und nutzlosem Gerümpel. Der alte Russ war ein Messi gewesen, der alles Alte in unserem Städtchen zusammenraffte und in Plastiktüten in seine Höhle brachte. Ich fand einen schönen Wecker, Junghans, braun mit Leuchtziffern und glänzendem Zifferblatt. Zu Hause versuchte ich ihn wieder zum Laufen zu bringen. Ich wollte ja immer ein Mechaniker sein, um meinen Vater zu beeindrucken. Aber ich bin keiner. Irgendwann raffte meine Mutter die von mir achtlos liegengelassenen Einzelteile zusammen, und schmiss sie in den Mülleimer.
Ach ja: Mein Onkel ist im Mittelmeer gestorben. Sein Boot wurde auf seiner ersten Fahrt von einem britischen Schiff versenkt. Es gab keine Überlebenden. So steht es seit 1943 im Sterberegister unserer Stadt.
Man sollte nicht alles glauben was geschrieben steht.
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Das ist wahr! Aber es ist sogar in Stein gemeißelt: Auf dem Kriegerdenkmal unserer Stadt. Da steht sein Name unter „gefallen“ und nicht unter „vermisst“. Und trotzdem, vielleicht streift mein Onkel ja heute noch durch die Weiten Russlands. Ich war 1993 mal da, hab ihn aber nicht gefunden.
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Eine wehmütige und schöne Geschichte, Rolf. Wenn deine Kinder älter sind und du sie erzählst, dann werden sie sich in eine fremde Zeit eindenken können.
Liebe Grüße von der seit ein paar Tagen aus Afrika heimgekehrten Susanne
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Das erinnert mich irgendwie an „Die Straße der Ölsardinen“ von John Steinbeck. Wirklich gut geschrieben!
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Danke 🙂
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Einer meiner Onkel soll in Australien gelebt haben und dort erfolgreich Traber-Derbys gefahren haben. Angeblich ist er im Whisky ertrunken. Aber vielleicht fährt er noch.
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Cheers! Bei uns gab es auch so einen „Onkel aus Amerika“. Ich dachte immer, er müssse Cowboy sein, wie alle Amerikaner, die nicht Indianer waren. Aber er war ein Rentner in Florida.
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Diese Geschichten gibt es noch, gerade so. Danke fürs Erzählen.
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(Achso, ein Onkel von mir tauchte tatsächlich wieder auf, nachdem er lange genug vermißt gewesen war, um als gefallen zu gelten. Er konnte nicht mehr gut Deutsch; seine Briefe mußte er aus dem Französischen übersetzen lassen.)
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Das ist ja eine tolle Geschichte, die du erzählen musst. Ich lese gerade „Haltet euer Herz bereit“ von Maxim Leo. Er erzählt die Geschichte seiener Familie. Beide Großväter waren in Frankreich. Einer in den Widerstand gegangen, der andere in die Kriegsgefangenschaft.
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Na, da ist nicht viel zu erzählen, leider; als ich anfing, das interessant zu finden, waren alle direkt Beteiligten schon tot. Und man weiß ja, wie das mit den Erinnerungen-um-drei-Ecken ist.
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Der Reiz deiner stimmungsvollen Erzählung liegt darin, dass sie eben keine romanhaften Elemente enthält, sondern authentisch wirkt, indem sie nur Schlaglichter auf die Wirklichkeit wirft, und zwar aus der begrenzten Perspektive des Kindes. „Die Welt um mich herum war voll mit Spätheimkehrern und Männern, die nicht darüber sprechen wollten, was sie erlebt hatten“, ist ein toller Satz, der die Nachkriegszeit und deren Verdrängungsunkultur gut kennzeichnet.
Heimlich Feinsender zu hören, hieß übrigens „Englischinhalieren“, weil man sich dazu eine Decke über Kopf zog und das Ohr ganz nah am Radiolautsprecher hatte.
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Danke. Ich war kurz versucht, ein wenig 70er-Jahre Sozialarbeiterphantasie a la „Vorstadtkrokodile“ einzubauen. Der Traum davon, dass sich die Einsamen und Ausgestoßenen der Gesellschaft verbünden und gegen das Schweigen kämpfen. Aber meine Erfahrung ist: einsame Menschen verbünden sich nicht, sie meiden sich wie die Pest.
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