Ist das wirklich schon fünfundzwanzig Jahre her, dass ich so laut gelacht habe? Als ich in meinem schäbigen Büro am hinteren Ende einer grauen Plattenbausiedlung am Rande von Berlin saß, in einem Raum mit beigebraunen Pressholzmöbeln im oberen Stockwerk eines in die Gegend geworfenen Einkaufszentrums in Weiß und Rot, so wie sie nach der Wende zu Hunderten hochgezogen wurden, in dieser Behörde, die genau an der letzten Haltestelle der Berliner U-Bahn, aber eben genau 50 Meter von der Stadtgrenze entfernt auf dem Gebiet von Brandenburg untergebracht worden war, wie es der Einigungsvertrag vorschrieb? In diesem zusammengewürfelten Laden, in dem die Chefs alte Männer aus Bayern waren, die ihre Muschkoten abteilungsweise aus den abgewickelten DDR-Ministerien rekrutierten. Doktores, Ingenieure und Beststudentinnen, die jetzt Stück für Stück alte Sozialakten auseinanderrissen, in denen Arbeiter- und Bauernschicksale auf blütenblattdünnem Durchschlagpapier eingeprägt waren: Hitzschläge in unbelüfteten Mähdrescherkabinen, Mopedunfälle mit unbeleuchteten Sowjetpanzern und immer, immer wieder Allergien an ungecremten Melkerinnenhänden. Zerrissen in drei Teile, damit sie in das bundesdeutsche Sozialsystem passten, und ergänzt durch ungeschickt getippte Eingaben und von groben, von lärmenden Schreibrad-Druckern ausgespuckten Textbausteinen, die meist nur ein Ergebnis kannten: Ablehnung!
In dieser stumpfen Hölle der Bürokratie, in der ich meinen ersten Job nach dem Studium gefunden hatte, flatterte mir schon nach ein paar Tagen ein Brief auf den Tisch. Amtlich, mit meinem Namen, adressiert mit „im Hause“. Und dieser Brief aus der Personalabteilung ließ mich so laut lachen, dass es auf den traurigen Fluren über den grauen Nadelfilz hallte. Ein Brief wie von einem besonders guten Komiker geschrieben. Vielleicht einer von der Zeitschrift „Titanic“, die bis dahin neben den Gesetzeskommentaren meine Pflichtlektüre war. „Hiermit wird ihre Jubiläumsdienstzeit gemäß Jubiläumsdienstverordnung wie folgt festgesetzt…“ Und akribisch wurde dann genau der Tag festgelegt, an dem man mich zu meinem 25. und mein 40. Dienstjubiläum beglückwünschen würde. „Here is you goldwatch and shackles for your chain. Set your sign on the dottet line and work for 50 years.“ Ich wollte nicht wahrhaben, dass mich diese längst totgeglaubte Welt, die ich aus den Protestongs der 68er kannte, gefangen hatte. Ich zeigte den Brief abends meiner hochschwangeren Freundin, und sie sagte mir anerkennend, dass sie es zu schätzen wisse, welchen Wahnsinn ich auf mich nähme, um unsere junge Familie bald ernähren zu können.
Nun, der Wahnsinn hatte gerade erst angefangen. Wenige Wochen später lehnte der bayerische Direktor meinen Antrag auf Sonderurlaub für die Geburt ab, mit der Begründung, ich sei ja mit der Mutter nicht verheiratet. Und Sonderurlaub bekämen nur Ehegatten. Das führte dazu, dass ich, nachdem ich mit meiner Freundin in den ersten Wehen die Nacht in der Klinik verbracht hatte, mich morgens auf zur Arbeit machte. Ich war in der Probezeit und meine Freundin noch in der Ausbildung. Ich durfte den Job nicht verlieren. Ständig rief ich vom Büro aus in der Klinik an. Handys gab’s ja noch keine. Aber die Schwestern beteuerten immer, dass es noch nicht so weit sei. Und als ich dann endlich den Mut hatte, mein Büro zu verlassen, war meine Tochter schon halb im Krankenhausfahrstuhl zur Welt gekommen. Gottseidank war alles gut gegangen. Aber das wussten wir erst ein banges halbes Jahr später.
Aus Rache beantragte ich, sobald ich konnte das, was damals „Erziehungsurlaub“ hieß. Und mein Direktor sagte mir ins Gesicht, dass ich, wenn ich das täte, nicht wiederkommen brauchte. Das war nicht im Mittelalter sondern Mitte der Neunziger. Ich nahm ihn beim Wort, suchte mir, während ich mit der Tochter am Sandkasten saß eine Stelle bei der Zeitung und glaubte, dass sich das mit dem Dienstjubiläum ein für alle mal erledigt hätte.
Doch als Kafka-Jünger hätte ich wissen müssen: Die Mühlen der Bürokratie lassen niemanden aus ihren Klauen. Irgendwie hat mich der Wind des Lebens doch wieder in an die sicheren Strände der Jubiläumsdienstverordnung geweht. Ich war nicht mehr jung und ich brauchte das Geld. Schließlich habe ich mittlerweile vier hungrige Mäuler zu füttern. Und weil sich die Zeiten und die Gesetze geändert haben, konnte ich bei allen weiteren Geburten dabei sein. Aber alles hat seinen Preis. Und so ist gestern passiert, was ich in jugendlichem Übermut niemals geglaubt hätte: Zwischen Fahnen aufgestellt, mittlerweile mit grauem Bart, erhielt ich von meiner Abteilungsleiterin eine Urkunde zum 25. Dienstjubiläum, in der mir allen Ernstes „für die dem deutschen Volke geleisteten treuen Dienste“ gedankt wird. Und ich dachte, ich hätte für Geld und meinen Chef gearbeitet.
Meine Tochter habe ich zum meinem Jubeltag morgen ins Theater eingeladen. Sie hat sich „Onkel Wanja“ im Deutschen Theater ausgesucht. Tschechow finde ich zwar ein bisschen langweilig, weil die Figuren da immer rumstehn und jammern, dass sie nichts tun können. Aber die Moral des Stückes, die die Dramaturgen auf den Programmflyer gedruckt haben, ist für mich hochbrisant. „… und so erkennen beide (Sonja und Onkel Wanja), dass sie 25 Jahre einem Irrtum gedient haben.“ Na, mal schauen.
Was für ein grandioser, biografischer Text – danke dafür. Und unbekannterweise meine herzlichsten Glückwünsche zum Dienstjubiläum.
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Danke 🙂
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ach, wie erfrischend und aus dem leben geschrieben! auch von mir glückwünsche fürs jubiläum!
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Herrlich geschrieben! Ich werde an den Text denken und grinsen, wenn ich demnächst meine eigene Jubiläumsurkunde bekomme 🙂
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Sei tapfer!
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Ich habe auch grinsend den Text gelesen, Rolf. Tja, soll ich jetzt herzlichen Glückwunsch oder ojeojeoje sagen? Such es dir aus, beides kommt von Herzen.
Viel Spaß bei Onkel Wanja, ich habe erst heute morgen (oder war es doch gestern 😉 ) eine Besprechung des Stücks im radioeins gehört.
Einen schönen Tag von Susanne
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Erst 25 Jahre Akten sortiert? Mumpitz! Kinkerlitzchen! Ich gratuliere dann zum Vierzigsten.
Gibt es eigentlich noch Silberne und Goldene Ehrennadeln?
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Und außerdem darf das Jubiläum doch gar nicht zählen! Du bist doch schließlich zwischendurch fremdgegangen (beruflich).
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Eigentlich habe ich vor allem bei der Zeitung dem deutschen Volke gedient. Ich habe die Menschen in den neuen Ländern über die Tricks des kapitalistischen Systems aufgeklärt. Aber dafür gibt es keine Urkunden.
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Man bekam bestimmt auch Ehrenurkunden fürs heldenhafte Erleiden eines Hitzschlags in unbelüfteter Mähdrescherkabine, oder nicht? Dass es dienstliche Meldungen gibt wie diese hier: „Hiermit wird ihre Jubiläumsdienstzeit gemäß Jubiläumsdienstverordnung wie folgt festgesetzt“, das hätt ich nicht für möglich gehalten, aber es steckt halt voller Überraschungen, das Leben. Glückwunsch – oder, na, jedenfalls: Viel Spaß im Theater!
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In der DDR nannte man Belobigungen, für die man sich nichts kaufen kann „Schulterklopfen, Blick zur Fahne“ Der heldenhafte Tod auf dem Mähdrescher war zumindest einen Eintrag ins Brigadetagebuch wert, schätze ich.
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Liebe Güte, wie viele ungeschriebene Romane und Balladen in solchen Brigadetagebüchern lagern müssen. (Ich meine das völlig ironiefrei. Solche Geschichten! Und auch solche wie die von der Geburt des ersten Kindes, die man verpasst, weil der (Innen-)Dienst am Vaterlande ruft. Himmel! Muss man alles erzählen, sonst glaubt doch keiner, dass es das alles gab.)
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Ich hab so ein Brigadetagebuch von der Brigade, in der ich gearbeitet habe. Dabei bin ich Wessi. Auch so eine Geschichte, die noch erzählt werden muss…
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Ja bitte.
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Ich liebe diese Urkunden; leider gibt es außer der Sterbeurkunde wohl keine mehr für mich. Damals, bei den Bundesjugendspielen,kam meine Liebe für diesen Erinnerungswert vorzüglich geleisteter Dienste auf, weil ich nie, never eine dieser vermaledeiten Dinger einheimsen konnte .
Ich habe sehr gelacht über Ihre Jubiläumstraumata 😀
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Stimmt, die Bundesjugensspiele. Besser nicht daran erinnern. 😉
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Eine Urkunde ist, so finde ich, immer eine feine Sache.
Ein paar habe ich auch und ich halte sie in Ehren.
Einfach so.
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Halt sie in Ehren. Manchmal ist es wichtig zu wissen, dass man schon einige Hürden (manche würden sagen: Stöckchen) übersprungen hat. Ich hab mir lange selber nicht geglaubt, dass ich das Abitur geschafft habe. Immer wieder träumte ich davon, dass ich durch die Matheprüfung gefallen wäre. Dann habe ich irgendwann mein Abizeugnis gerahmt und an die Wand gehängt. Hat geholfen. 😉
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Genau so ist es.
Eine Urkunde zeigt schwarz auf weiß, daß man etwas geschafft hat.
Etwas nicht Alltägliches.
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oh wow, herzlichen Glückwunsch zu so viel Durchhaltevermögen!
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Glückwunsch, es gibt sie noch die Anerkennung der verlorenen Jahre.
So ein Jubiläums-Schreibn müsst ich mir selbst ausstellen. Mir graust wenn ich die Fotos früherer Jahre meines Schaffens ansehe. Kopf hoch und weiter so. tom
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Danke, mir geht’s auch so. Meine Texte von heute gefallen mir besser als mein Sturm und Drang. 🙂
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