Vom Finden und Verschwinden

Es wird mir langsam in meinen eigenen vier Wänden unheimlich. Ich dachte, ich hätte die Sache in den Griff gekriegt, aber die Verluste werden wieder größer. Es fing an mit dem Salzstreuer, der verlässlich jeden Morgen auf meinem Küchentisch stand. Jetzt nicht mehr. Keine Idee, wo er sein könnte. Auf der Spüle habe ich gesucht und im Kühlschrank. Vielleicht auch noch im Bad? Aber was soll ein Salzstreuer im Bad? Im Bad ist er nicht. Aber im Bad fehlt seit ein paar Wochen der Rasierapparat. Vielleicht ist er in der Küche? „Ein Haus verliert nichts.“, war eine der wenigen Weisheiten meiner Mutter, die mich beruhigten, wenn ich als Kind wieder was nicht finden konnte. Ja, alles was ich suche ist bestimmt noch da. Aber wo? Neulich suchte ich die Werkzeugtasche, die mir meine Schwester vor Jahren geschenkt hatte. Ich brauche sie selten und bewahrte sie immer in meiner Altpapierkiste auf, weil ich dann wusste, wo sie war. Aber da war sie nicht mehr, als ich an meinem Moped schrauben wollte. Schwach erinnerte ich mich, dass ich sie an einen neuen Ort geräumt hatte. Ordnung muss sein. Werkzeug in der Altpapierkiste. Wer macht denn sowas? Es war ein Ort, der mir einleuchtend erschien. Hinter dem alten Ölfass, das ich seit Studentenzeiten mit mir rumschleppe? Nein, da stand das Fotostativ. Auch gut zu wissen. Oder über der Speisekammer? Im Keller sogar, da wo das Werkzeug hingehört? Wenn ich die Tasche da hingeräumt habe, werde ich sie nie mehr finden, denn ich habe auch in drei kalten Corona-Wintern nicht geschafft, den Keller aufzuräumen. Oder habe ich sie doch mal mit nach draußen genommen, um auf dem Trottoir an meinem Fahrrad zu basteln und sie dann liegen lassen? Oder hab ich sie irgendwann doch in die Altpapiertonne im Hof gekippt? Langsam traue ich mir alles zu, und das ist schlimm.

Heute Morgen war auch noch meine Mütze da. Keine Schönheit, eine von Karstadt, aber ich hab sie neulich aus dem Schrank gekramt, als ich die teure Ballonmütze von Stetson nicht mehr finden konnte. Jetzt also auch sie. Jedes Jahr verliere ich eine Mütze, von Handschuhen nicht zu reden. Ist das zu glauben? Ich versuche mich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Vielleicht schaue ich noch mal in den Fahrradpacktaschen. Ein zuverlässig gutes Versteck, für alles was das Licht scheut. Es wird sich schon alles wieder finden. Meine Taktik ist, erst gar nicht groß mit dem Suchen zu beginnen, sondern hinzunehmen, dass das Ding nicht da ist. Irgendwann taucht es wieder auf, ganz unvermutet und an einem Ort, an den ich nie gedacht hätte. Das ist schön. Ich bin ein Sachenfinder, kein Sachensucher. Mit einem zufriedenen Brummen stelle ich dann das verloren geglaubte Haushaltsmitglied an den Platz, an dem ich es zu finden erwarte. Alles noch mal gut gegangen. Aber die Suchliste wird immer länger. Vielleicht sollte ich den Vermisstendienst des Roten Kreuzes mal in meine Wohnung lassen oder berüchtigte schwarze Löcher wie das Kinderzimmer mal gründlicher unter die Lupe nehmen. Ach, was soll’s, spätestens wenn ich hier ausziehe, ist alles wieder da. Oder auch nicht. Aber bis dahin weiß ich wahrscheinlich nicht mehr, dass ich das Ding je gesucht habe. Das Alter hat auch sein Gutes.

Das Haus in der Kurve

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Und hier noch was zum Träumen.“, schreibt mir eine Freundin auf einen gelben Klebezettel. Klebt ihn auf ein Buch, legts in mein Postfach und enteilt ins aufregende Sauerland. Sauerland, wie das klingt, Land der wuchtigen Wälder, der wilden Höhen und der ewigen Weiten. So stelle ich mir das Sauerland vor. Menschen, die dort leben, mögen das etwas nüchterner sehen. Aber Länder, in denen ich noch nie gewesen bin, können meine Phantasie entflammen. Nirgendwo ist es schöner (oder schrecklicher) als da, wo ich noch nie war. Deswegen öffne ich im öden österlichen Lockdown-Berlin das schmale Buch „Lexikon der Phantominseln“ mit großer Vorfreude. Deftige Abenteurgeschichten erwarten mich. Erzählungen von tapferen Seeleuten und furchtlosen Forschern, die sich an die Ränder der bekannten Welt wagten. Und von Kapitänen wird dort berichtet, die in Spelunken Seemansgran spannen, Geschichten von fernen Ländern, voll Gold und Edelsteinen und von Inseln, die es leider nie gab.
Wann, frage ich mich beschämt, hast du zuletzt den Aufbruch in eine unbekannte Welt gewagt? Nicht nur vom Sofa aus, sondern wirklich? Mein Blick fällt auf meine Motorradjacke an der Garderobe. Auf deren Brusttasche hat noch meine Mutter selig in einer anderen Zeit das stolze Abzeichen „Elefantentreffen 2009“ aufgenäht. Von Berlin an den Nürburgring mitten im Winter mit einem russischen Beiwagen-Motorrad. Es gab Schnee und es gab Eis, aber es gab kein Halten. „Du willst doch fahren,“ seufzte meine Freundin, „dann fahr auch.“ Es war ein Wunder, dass ich die Strecke mit der alten Mähre geschafft habe. Und wunderbar war es, sich nach zwei Tagen vor der Überquerung des heimatlichen Rheins bei meinem Vater melden zu können: „Ich stehe jetzt bei Linz an der Fähre.“ Und ein Happening war es, sich am andereren Tag mit tausend anderen Verrückten mitten in der Eifel im Schnee zu wälzen. Tempi passati. Gestern versuchten mein Freund Michael und ich die Motrradsaison einzuläuten. Nach einer Stunde gab ich auf. Im grauen, menschenleeren, schneidend kalten Brandenburg wollte keine Abenteurerlust mehr aufkommen.
„Wenn Träume sterben, dann wirst du alt.“, sangen die Phudys zu einer Zeit, als es für mich ein Wagnis war, mit dem Moped zur nächsten Dorfdisko zu fahren. Ist wirklich nichts mehr übriggeblieben von dem Drang in die weite Welt, von der Suche nach dem Paradies?

Der Gedanke lässt mir keine Ruhe. Am nächsten Morgen sattle ich die Packtaschen auf mein Fahrrad und mache mich einsam auf nach Westen. Weit über die Grenzen des Wedding hinaus fahre ich ins Niemandsland jenseits von Moabit. Dort, so weiß ich, gibt es eine Insel, die immer schon meine Sehnsucht auf sich gezogen hat. Kein Weg fürt zu dieser Insel, die ich immer nur für Sekunden sehen konnte, wenn ich von der kurvigen Autobahnbrücke auf sie herabgeschaut habe. Und die Karten, die es von dieser Gegend gibt, sind so widersprüchlich und ungenau, als wären sie von trunkenen Seemännern gezeichet. Einig sind sie sich nur darin, dass es gegenüber der Insel eine Hundewiese gibt. Das ist eine wichtige Information für Berliner. Hic sunt dragones, hätte man früher auf diesen weißen Fleck auf der Karte geschrieben. Ich erforsche eine terra incognita. Als Kompass kann mir also nur meine Sehnsucht dienen. Die Sehnsucht nach einem Ort von Kanälen durchzogen, mit grünen Gärten, kleinen Hütten und blühenden Bäumen. Ein Ort perfekter Harmonie, dessen Natürlichkeit durch das alleinstehende, übriggebliebene Gründerzeithaus mit großen Fenstern und hellem Klinker nur noch unterstrichen wird. Ein Garten Eden, mitten in Berlin.
Zum Glück bin ich allein unterwegs und habe ich keine Mannschaft, die meutern kann. Denn es wird eine Irrfahrt, die eines Odysseus würdig wäre. Von Brücken, die auf der Karte eingezeichnet sind, stehen seit dem Krieg nur noch die Pfeiler, unvermutet enden Wege vor offenen Schlünden, die einen zu verschlingen drohen. Und als ich mich durch den engen, gewundenen Tunnel wage, warten am anderen Ende Berliner Sirenen in einer Kleingartenkneipe, die mich trunken machen wollen. „Will er einen Glühwein oder will er ein Bier?“, werde ich in der Sprache des Soldatenkönigs angeherrscht. Anscheinend habe ich auf meiner Suche einen Zeittunnel durchschritten, der mich 300 Jahre zurückgeworfen hat. Aber Maketenderinnen im „Tunneleck“ sind heute gnädig und weisen mir den Weg: „Na, da sinse hier abba falsch. Da müssn se zu Siemens rüber. Un von da jibs ne Brücke.“
Ja, und da stehe ich nu, mitten im Paradies. Engültig hat sich die Frage erledigt, ob das Paradies ein Garten oder eine Insel ist. Es ist beides. In trauter Einigkeit leben hier der Wolf und das Schaf. Kleingärtner und die Wasserschutzpolizei. Und das große Haus beherbergt Künstlerateliers. Und weil hier täglich Schöpung stattfindet, sind Adam und Eva sind auch schon da.