Vorbei! Ein dummes Wort

In Weimar ist sogar das Freibad schön. Es ist nagelneu, großzügig angelegt und es ist ausnahmsweise nicht nach Goethe- Schiller- Liszt- Herder- oder J. S. Bach oder dem Bauhaus benannt, wie sonst alle öffentlichen Einrichtungen in der Stadt. Es heißt einfach Schwanenseebad. Dabei war Tschaikowsky gar nicht hier. Die Schwimmringe im im Nichtschwimmerbecken sind schwarz, rot und gelb und weil Weimar ja auch Ort der Nationalversammlung der gleichnamigen Republik war, und auch dafür natürlich auch ein Museum hat, fällt es schwer, nicht auch darin etwas Symbolisches zu sehen. „Ach Gott ist das beziehungsreich, ich glaub, ich übergeb mich gleich.“ (Robert Gernhardt). Für meine Jungs ist vor allem der Sprungturm die Herausforderung. Trauen sie sich vom 5er oder gar vom 10er? Deshalb sind wir hier, weil mein Älterster mir jedesmal wenn wir im Urlaub ins Schwimmbad gehen, zeigen will, dass er sich das traut – und weil er weiß, dass ich das mitmache. Wegen Goethe auch, denn der hat Geburtstag und wegen Faust, denn der wird das ganze Jahr gefeiert. „Aber sie wollen mit den Kindern doch nicht nach Buchenwald?“ fragt der schmierige Jugendherbergsvater mit dem Froschblick gleich zur Ankunft und ich weiß nicht, wie er das meint. Immerhin sind wir hier im AfD-Höcke-Land Thüringen. Ich beschließe ihm zu mißtrauen und werde bestätigt, als ich merke, dass wir in dem natürlich wunderschönen Haus (Bürgervilla aus den 20er Jahren) die Dachkammer bekommen haben. Immerhin verrät er uns, dass der schönste Weg in die Stadt über den historischen Friedhof geht auf dem natürlich kein Geringerer als der Dichterfürst selbst begraben liegt. Die Jungs murren, nicht wegen der Historie, sondern wegen der vielen Bewegung (und weil Google-Maps einen anderen Weg vorschlägt). Aber dann lesen sie doch interessiert die Namen auf den bemoosten Grabsteinen. Außerdem habe ich eine Wette verloren und versprochen, sie in der Stadt einzulösen. Es ging um Schach. Ich hatte meinen guten Namen und 50 Euro darauf verwettet, dass wir in der Jugendherberge ein Schachspiel ausleihen könnten und wir deshalb unseres nicht von Berlin durch die halbe Republik schleifen müssten. Was im Ansatz richtig war, denn durch die Tücken der Deutschen Bahn mussten wir unsere schweren Koffer noch vor dem Losfahren mehrere Bahnsteige hoch und runterschleifen und in Erfurt beim Umsteigen gleich das Spielchen nochmal. Aber in dem edlen Eichenschrank, in dem sich die lieblose Spielesammlung der Herberge befand, befand sich nicht der Klassiker aller Spiele. Und das in Weimar. Dafür hatte die wohlsortierte und erstaunlich große Spielwarenhandlung in der Altstadt gleich fünf Varianten, was mich und die Jugend völlig überforderte (Mein Älterster schlug vor, noch mal bei Amazon zu checken, und sich das Spiel in die Herberge liefern zu lassen, was ich ablehnte.). Also gingen wir erst einmal auf dem Marktplatz ein Eis essen. Aber was ist Eis essen ohne Schach? Also schickte ich die hibbeligen drei Jungs mit einem Schein und dem Versprechen, sich in den Winkeln der Altstadt nicht zu verirren zurück zum Laden. Ich war schon mit dem Kaffee fertig, da kamen sie zurück. Sie hatten es tatsächlich geschafft, sich zu einigen und im Budget zu bleiben. Ein schönes, hölzernes Reiseschach aus Indien. Ich verlor drei Mal hintereinander, bevor wir endlich weiter konnten. Ich wollte in den Park an der Ilm, dem kleinen Flüsschen, das neben dem Schloss entlang plätschert. Und da passierte was ich mir bei der Vorbereitung der Reise vorgestellt hatte: Meine Jungs rannten runter zum Wasser, zogen die Schuhe aus und sprangen über die rutschige Staustufen. Die Sonne schien, das Wasser glitzerte und einer fiel rein, nass bis zum Hosenboden und lachte. Huckelberry Finn- Momente.

Den ganzen Nachmittag vertrödelten wir in dem, natürlich wunderschönen, Park, besuchten Goethes Gartenhaus und auf dem Rückweg kamen wir an einem sowjetischen Soldatenfriedhof vorbei, was mich ja immer interessiert. Vorher hatten wir über mein biblisches Alter und darüber gesprochen, was sich denn als Geschenk für meinen nächsten Geburtstag eignen würde. „Du bekommst von uns einen Grabstein.“, schlug mein Jüngster vor. Das war mein schönstes Ferienerlebnis.

Mehr als Marx und Museum

Man muss nicht mutig sein, um nach Chemnitz zu fahren. Die diesjährige europäische Kulturhauptstadt hat sich schick gemacht, empfängt ihre Besucher mit freundlichem Gleichmut und es gibt an einem sonnigen Wochenende einiges zu sehen. Aber besser ist es schon, mit einem Freund dahin zu fahren, mit dem ich schon seit 35 Jahren gemeinsam per Bahn und Rad die Länder erkunde, die früher für uns hinter dem eisernen Vorhang lagen. Und noch besser ist es, hier einen Freund zu besuchen, der das zu Fuß, per Bahn und per Anhalter gemacht hat, seit zwei Jahren in Chemnitz wohnt und uns die weniger bekannten Ecken der Stadt zeigen kann.

Und so treffen wir uns mit Andreas, den ich über seinen Blog https://andreas-moser.blog mit einzigartigen Reiseberichten aus aller Welt kennengelernt habe, nicht am bekannten Karl-Marx-Kopf, sondern eine Ecke weiter am Stadtbad, einem Architektur- Juwel aus den 1920er-Jahren. Und weiter geht‘s, die leeren, in der Sonne glühenden sozialistischen Prachtstraßen und den hoch aufragenden Turm des ehemaligen Hotels „Kongress“ (ich habe mir natürlich einen kleinen Reiseführer für Karl-Marx-Stadt vom VEB Tourist Leipzig besorgt) den Rücken kehrend in den Schlossteichpark, in dem die holden Schwäne auf dem heilignüchternen Wasser schwimmen. Ganz so romantisch wie bei Hölderlin ist es zwar nicht, aber schon sehr zauberhaft, auch wenn die riesigen Schwäne aus Plaste sind und als Verkleidung für gemächlich dahingleitende Tretboote dienen. Einen größeren Kontrast zu der fünf Minuten entfernten 60er-Jahre-Beton-Innenstadt kann ich mir nicht denken. Aber es wird noch verwunschener. Über eine Brücke aus Stein geht es hinauf in den Küchwaldpark und gleich stehen wir vor einer gotischen Kirche, einem ehemaligen Kloster (in dem Relikte sozialistischer Stadtplanung unter den leidenden Augen der größten Ansammlung gotischer Holzmadonnen präsentiert werden, die ich je gesehen habe), einen lebhaften Biergarten (sie werden platziert) und wenn wir weiter gegangen wären, hätten wir noch eine sowjetische Mondrakete gesehen. Bergab gehts vorbei an Gaststätten in Fachwerkhäusern, die auch in Tübingen hätten stehen könnten. Ach Hölderlin.

So viel zu dem Motto der Kulturhauptstadt Chemnitz: „C the unseen“. Vom Überraschenden zum Erwartbaren ist es auch nicht weit. Vor dem Karl Marx Kopf, dem bekannten Wahrzeichen der Stadt findet eine Tanzperformance „Odyssee in C“ statt. Hunderte versammeln sich davor. Ich kann mit Tanz nicht viel anfangen und es ist heiß. Aber wenn ich die Kamera auf Schwarz-Weiß schalte, sieht es aus wie bei einer 1. Mai-Manifestation. Die Stadt wird zur Kulisse meiner Erinnerung an unsere vergangenen Reisen. Aber zum Glück ist die Wirklichkeit heute bunter.

Übernachtet haben wir standesgemäß in einem Industriedenkmal neben der sozialistischen Flaniermeile „Rosengarten“. Ein ehemaliges Umspannwerk der Straßenbahn im allerbesten weißen Bauhausstil ist zur Jugendherberge No 1 umgebaut worden. Die schöne Terasse nach hintenraus ist normalerweise schon um 10 Uhr abends wegen der lärmempfindlichen Nachbarn geschlossen. Aber in einer kulturhauptstädtischen Sommernacht wie heute drückt der Junge an der Pforte ein Auge zu. An Nachtruhe ist sowieso nicht zu denken. In einem heruntergekommen Lagerhaus gleich nebenan wird Heavy-Metal-Live-Musik gedröhnt, von der ich bezweifele, dass sie zum offiziellen Kulturprogramm gehört. Es hört sich eher so an, als würden die Uran-Bergmänner der SDAG Wismut, deren Porträts wir uns in der sehr sehenswerten Ausstellung „Sonnensucher“ in Zwickau auch noch angeschaut haben, mit ihren Presslufthämmern am Mischpult stehen.

Gemälde von Werner Pätzold, Wismut GmbH

Chemnitz ist nicht Kassel. Und eine Kulturhauptstadt ist keine documenta. Aber wie Kassel haben Chemnitz und Zwickau meine Neugier geweckt und mich zum Staunen gebracht. Wir haben zum Glück noch die Ausstellung zur europäischen realistischen Malerei „European Realities“ im Museum Gunzenhauser angeschaut, die gut aufbereitet und in ihrer Vielfalt wirklich einmalig ist. Nur die Gemälde aus Russland und der Sowjetunion fehlen. Den Rest der zahlreichen reizvollen Ausstellungen zur Industriekultur in Chemnitz und Umgebung haben wir schon nicht mehr geschafft. Aber auch die moderne Architektur der Stadt hat ihre eigene Schönheit. Auf jeden Fall an einem sonnigen Sommerwochenende. Im Winter war ich auch schon hier, beruflich, vor vielen Jahren. Da war’s ungemütlich. Ums mit Hölderlin zu sagen: „Die Mauern stehn sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen.“

Zum Schluss hat uns Andreas noch in den schönsten Biergarten der Stadt eingeladen, der ausnahmsweise an diesem warmen Sommerabend mal nicht um 17 Uhr die Theke dicht gemacht hat und dessen Name ich natürlich nicht verrate. Chemnitz soll ja mein Geheimtipp bleiben.

Im Faradayschen Käfig

Die Stimmung war gut. Mein Bruder hatte uns mit seinem alten Mercedes zum Bahnhof gefahren, wir waren damit prima das Ahrtal hinunter gekommen, hatten meinen Jungs die verlassenen Weinberge gezeigt, die wir damals statt einer Rodelbahn hinuntergebrettert waren und hatten noch Zeit für einen Kaffee auf dem Bahnhofsvorplatz. Die Jungs bekamen ein Eis. Wir hatten ein paar Tage in einer Jugendherberge in meiner alten Heimat hinter uns und die Morgensonne schien freundlich und mild. „Ich könnt mir gut vorstellen hier als Rentner jeden Morgen meinen Kaffee zu trinken.“, schwärmte ich in neu erwachter Heimatliebe. „Es gibt schönere Orte auf der Welt.“, grinste mein Bruder, der die Welt gesehen hat und nun als abgemusteter Seebär seit ein paar Jahren versucht, unser kleines Elternhaus zu seiner neuen Heimat zu machen. Und er hatte Recht. Es war nicht nur die Schönheit des Augenblicks, die mich an den alten Ort fesselte, es war auch die Angst vor dem, was noch vor uns lag. Mein Bruder mag alle Stürme der sieben Weltmeere durchpflügt haben, ich dagegen wage immer wieder eine Fahrt von Bonn nach Berlin mit der Deutschen Bahn und zwei Kindern. Was sich harmlos anhört war in den vergangenen Jahren stets zum finalen Abenteuer unseres Urlaubs geworden. Und auch dieses Jahr sollte uns die Bahn nicht enttäuschen, nein sie sollte, das ahnte ich wohl, sich diesmal selbst übertreffen. Und was wir noch nicht wussten: Sie hatte sich dazu neue Verbündete gesucht.

Wie immer wiegte sie uns am Anfang in Sicherheit. Der ICE kam fast pünktlich, die Plätze waren reserviert und es sollte nur viereinhalb Stunden dauern. Wir saßen in einem „Sprinter“, das Flotteste, was die Bahn zu bieten hat. Und wir schafften es auch ohne Probleme bis nach Köln, sogar bis fast bis zum Hauptbahnhof, als es in einer Rechtskurve auf dem Dach schepperte. Wir standen schräg, rechts eine Schallschutzwand, links ein hoher Bahndamm und nichts ging mehr. Der schlaksige Zugführer, der die samtene rote Zugführerbinde lässig am nackten Unterarm trug, als sei sie nicht Zeichen seiner Herrschaft und Sorge über die Reisenden, sondern die Eintrittskarte zu einem Strandclub, lief ein paar mal schweigend an uns vorbei. Auch die Fahrgäste schwiegen und blickten vor allem in ihre Handys. Was muss in Deutschland passieren, damit die Menschen in einem Zug miteinander reden? Nach einer halben Stunde wurde ich aufgenommen in die Schicksalsgemeinschaft, die sich virtuell gebildet hatte. Ob ich den neusten Gossip hören wolle, fragte mich die Hochschwangere neben uns. Die Oberleitung sei gerissen und auf den Zug gefallen. Die ganze Außenhülle des Zuges stehe also unter Strom wie in einem Farradayschen Käfig. Keiner könne raus. Türen und Fenster dürfen nicht geöffnet werden. Gleichzeitig fehlte der Strom für die Klimaanlage. Wir waren gefangen. Durch eine dünne Glasscheibe vom blauen Himmel und der frischen Sommerluft getrennt. Als die Temperaturen stiegen, fragten meine Jungs mich, ob wir jetzt ersticken müssten. In meiner Not deutete ich auf die vielen kleinen Löcher in der Deckenverkleidung. Da käme die Luft raus, fabulierte ich und hoffte inständig, dass die Ingenieure bei Siemens an sowas wie eine Zwangsbelüftung gedacht hatten, die auch ohne Strom funktioniert. Sicher war ich mir nicht. Vielleicht war genau daran gespart worden. Als die Durchsage kam, dass das Bordbistro für umsonst Getränke ausgibt, wusste ich, dass die Lage ernst wurde. Ich schickte die Jungs Cola holen und sie kamen mit reicher Beute zurück. Ab da war ihr Sportsgeist geweckt. Nach zwei Stunden kam der Schaffner ins saunawarme Abteil mit der Nachricht, die Feuerwehr hätte eine Notrampe den steilen Bahndamm hoch gelegt. Aber nur für Leute, die körperlich fit seien, außerdem rutsche die Rampe, sodass nur noch wenige über sie gehen könnten. Titanicfeeling. Das letzte Rettungsboot hing schräg in den Seilen. „Das ist doch nicht steil, das schaffen wir locker.“, entschieden die Zwillinge für mich mit einem Blick aus dem Fenster. Ich ließ mich von ihrem Elan mitreißen. Das Glück ist mit den Tapferen. Alte Männer und Kinder zuerst. Wir verabschiedeten uns von der Schwangeren, der man einen Umstieg in einen anderen Zug versprach und enterten die wacklige Reeling, die von der Kölner Feuerwehr gesichert wurde. Viel Mut brauchte es tatsächlich nicht. Wie schön das Industriegebiet von Köln-Zollstock sein kann. Unter einer rostigen Brücke versammelten sich die Geretteten und sofort fing das Gezänk an. Der versprochene Bus kam nicht, ein paar Taxis waren heiß umkämpft, irgendwelche Zettel mussten ausgefüllt werden. Gezeter, wer zuerst da war und wer es am Nötigsten habe. Eine Feuerwehrfrau gab uns den Tipp, dass ein paar Hundert Meter weiter eine Straßenbahn Richtung Hauptbahnhof abfährt. Brauchten wir Fahrkarten? Blöde Frage. „Isch fahr schwatz mit der KVB, die Markfuffzich dät denen doch net weh…“ Das war „Zeltinger“, Kölscher Punk aus den Achzigern. Endlich war es soweit. Ein Jugendtraum erfüllt sich. Ein Alptraum auch. Denn die Bahn, die jetzt kommt, ist so alt wie der Song und in Köln fährt die Straßenbahn zum Dom unterirdisch. Kurz vor Neumarkt blieb sie mitten im Tunnel stehen. Mit Kölscher Gemütlichkeit erzählt der Fahrer uns Verlorenen, dass die Elektrik nicht funktioniert. Er werde jetzt mal alles ausschalten und hoffen, dass sie wieder anspringt. Es wurde dunkel und unheimlich still. Wir stehen in der Röhre, schwitzende Leiber aus dem ICE um uns, nur die Displays der Handys leuchten gespenstisch (meine Söhne behaupten später, viele hätten gelacht, als die Durchsage des Fahres kam). Beim nächsten Mal, gelobe ich in meinem Innern, werde ich ganz regulär eine Fahrkarte kaufen und im Dom eine Kerze anzünden für St. Christopherus, den Heiligen, der das Christuskind über einen reißenden Fluss trug…. Das Licht ging wieder an und die Bahn ruckelt weiter. Am nächsten Bahnhof brauchen die ächzenden Falttüren beim Öffnen einen Augenblick zu lange, um mein Vertrauen in die Technik wieder herzustellen. Panisch verlasse ich mit den Kindern den Zug, haste durch das mit stumpf schlurfenden Menschenleibern vollgestopfte Unterweltreich und treibe meine Jungs die nächste Treppe hoch. Endlich Licht! Luft!

„Ui jui jui!“ , scherzt der Schaffner, der im nächsten ICE eine Erklärung verlangt, warum wir seinen Zug benutzen, wie eine schlechte Horst Evers-Parodie, „Da haben sie ja ein kleines Abenteuer erlebt. Da können sie zu Hause ja was erzählen.“ Im Bordbistro gibt es für die Jungs ein Eis kostenlos. Das nächste Mal fahre ich mit dem Schiff.

Sehnsucht

Überseehafen Rostock

Jeden Tag die gleichen Wege. Morgens auf‘s Rad, rein nach Berlin-Mitte, am Hohenzollernkanal entlang zum Nordhafen, an der Charité vorbei. Blick zur Fahne auf dem Reichstag rechts und später zum Brandenburger Tor. Am Feierabend über die Chausseestraße zurück. Asia-Restaurants und Yoga-Studios, dann an der BND-Zentrale vorbei und an der ewigen Baustelle auf der Müllerstraße. Döner-Buden und ein Einkaufen in türkischen Gemüseläden. Hinter Lidl links rein, noch mal in den Bio-Laden reingeschaut. Feierabend!
Das kann doch nicht alles gewesen sein…(…das bisschen Urlaub, der Führerschein, sang Wolf Biermann in den 60ern). Ja, ich war erst letzte Woche weg, im Rheinland, bei der Schwester, mit dem Zug, mit den Kindern. Auch schön. Aber das meine ich nicht. Es gibt doch noch eine andere Welt da draußen, und ich will sie mal wieder sehen. Ich hab Sehsucht, Sehnsucht, Seesucht. Ich will auf‘s Schiff. Nur mal ganz kurz, um mal wieder raus zu kommen. Mal wieder einen weiten Himmel sehen. Nach Norden. Mit dem Finger auf der Landkarte reise ich nach Dänemark. Da habe ich Freunde, die ich vor 15 Jahren das letzte Mal besucht habe. Damals wohnten sie noch in Jütland. Jetzt in der Nähe von Kopenhagen. Da gibt es eine Fähre. Von Rostock nach Trelleborg in Schweden. Und eine Bahn von Trelleborg nach Helsingborg. Dauert nur eine gute Stunde. Und eine Fähre von Helsingborg nach Helsingör in Dänemark. Zwei Mal Schiff fahren! Wie für mich gemacht. Die Kolleginnen haben nichts gegen einen Spontanurlaub. Die Kinder sind über Pfingsten bei ihrer Mutter. Die Freunde in Dänemark freuen sich auf den Besuch. „Du willst ein Abenteuer haben.“, vermutet Hanne in ihrem drolligen Deutsch am Telefon, als sie meine Reiseroute erfährt. Ja, will ich. Bahn und Fähre bis Trelleborg werden gebucht, für den Rest vertraue ich auf den gut organisierten Verkehr in Skandinavien. Den alten Rucksack vom Schrank genommen. Die Fähre geht um halb 11 Uhr abends. Ich fahre über Nacht. Los geht‘s.

Der Überseehafen in Rostock ist nichts für Touristen. Die fahren in Warnemünde mit den großen Kreuzfahrtschiffen ab. Hier gibt es nur LKW mit Containern und osteuropäischen Kennzeichen – und Wohnmobile. Hier fühle ich mich wohl. Die Kneipe auf dem Terminal ist für die Lastwagenfahrer eingerichtet. Es gibt Gebratenes und eine Frau mit zerfurchtem Gesicht macht mir ein Fischbrötchen. Matjes oder Bismarck? Die Vielfalt des Nordens. Die handvoll Reisenden, die ohne Auto unterwegs sind sammeln sich in einem zugigen Unterstand. Ein paar junge Frauen mit Rucksack, eine Pfadfindergruppe mit Gitarre – so wie wir damals, 1978 als wir uns über Helsingör nach Schweden aufmachten mit den katholischen Pfadfindern. Ich war 16 und hatte noch nie das norddeutsche Flachland gesehen. Als hinter Bielefeld die Berge aufhörten, bekam ich Angst.
Über steile Stiegen geht es auf die MS Mecklenburg Vorpommern. „Nicht barrierefrei“, hake ich in meinem Kopf ab. Der letze Gedanke an meine Arbeit für die nächsten Tage. Der dröge Name des Stahlkolosses lässt erst gar keine Hoffnungen auf ein Traumschiff aufkommen. Ein breiter Mann mit sächsischem Akzent weist mir meine Schlafkoje zu. Sie liegt oben in einer Reihe von Schlafwaben, die aussehen wie diese unglaublichen Bilder von japanischen Automatenhotels, von denen ich nie glaubte, dass es sie wirklich gibt. Der Waschraum verdirbt mir die Lust am Zähneputzen. Im Restaurant erwarte ich die üblichen lustigen betrunkenen Skandinavier auf dem Heimweg von einer Sauftour durch Europa. Statt dessen sitzen erschöpft blickende Trucker hinter einer Büchse Cola und tuscheln in slavischen Sprachen miteinander. Leise beginnen die Schiffsmotoren zu vibrieren. Der Abendhimmel über dem Hafen ist so tiefblau und sternenlos wie ich ihn mir erträumt habe. Ich fühle mich wie Jack Kerouac als “Lonsome Traveler“. Das wars wert.

Am nächsten Morgen um sechs lichtet sich der Morgennebel. Wir laufen in Trelleborg ein, und es ist klar, dass das Abenteuer schon vorbei ist. Alles ist wie erwartet. Alles funktioniert. Ich bekomme in dem fremden Land keine andere Münzen in die Hand, muss kein Wort wechseln und niemand will meine Papiere oder meine Corona-App sehen. Alles geht mit Kreditkarte und reibungslos. Zwei Stunden später bin ich über den Öresund in Dänemark. Und noch drei Stunden später sitze ich bei der Schwiegermutter von Hanne an einem festlich gedeckten Tisch, auf dem neben vielen Bierdosen und süß eingelegtem Hering ein kleiner Dannebrog, die dänische Fahne, steht. Wie immer, wenn es in Dänemark etwas zu feiern gibt. Und ich bin zum richtigen Tag erschienen: Es ist Pfingsten, Vatertag und Verfassungstag. Die alte Dame entscheidet, dass ein Öko-Bier der Marke “Bavaria“ das beste für mich sei und geht danach zum Aquavit über. Linien-Aquavit. Der beste, den es gibt. Er muss in einem Eichenfass zwei Mal den Äquator überquert haben, bevor er abgefüllt werden darf. Ich trinke auf Ex und muss als einziger husten. Die Hausherrin meint höflich, das sei ein Zeichen, dass ich bei meiner nächsten Reise den Aquavit über den Äquator begleiten sollte, um mich an ihn zu gewöhnen. Die Frau spricht mir aus dem Herzen.

Vatertag

Rheinsöhne

Es ist nicht mehr so einfach, meinen Jungs was vorzumachen. Statt magischen Wesen vertrauen sie lieber Ninjas oder Pokemons, die es ja ganz real in Papas Handy gibt und mit denen man Abenteuer erleben und kämpfen kann. Es ist ja auch nicht so einfach, noch an so was wie den Weihnachtsmann zu glauben, wenn der sich, wie letztes Jahr, so dermaßen blamiert hat. Alle drei hofften auf eine aktuelle Spiel-Konsole. Und was brachte der Weihnachtstrottel: Eine gebrauchte Wii von Nintendo, 10 Jahre alt, die er bei “rebuy“ besorgt hatte. Weil der Weihnachtsmann ja auf Nachhaltigkeit achtet. Und auf’s Geld. Das wäre ja noch nicht so schlimm gewesen, wenn das Ding wenigstens funktioniert hätte. Aber selbst die Schwiegermutter, immerhin gelernte Elektroingenieurin, kriegte das altersschwache Gerät nicht zum Laufen. Dem Weihnachtsmann blieb nichts anderes übrig, als zu reklamieren und noch mal zu reklamieren: Man kennt das ja. Irgendwann gab es dann wenigstens das Geld zurück. Die Kinder fragten ab und zu noch mal, aber zum Glück ist das Langzeitgedächtnis in dem Alter noch nicht so lang und die Sache war bald vergessen. Aber wenigstens dem Kleinen sollte der Glaube an den Weihnachtsmann nicht so früh verloren gehen. Also dachten meine Schwester und ich uns eine verwegene Story aus: Meine Schwester arbeitet bei der Post. Und der Weihnachtsmann habe das Geschenk, das nicht funktioniert hat, bei der Post zurückgegeben und eine neues Geschenk liege deshalb bei meiner Schwester bereit, wenn wir sie am Vatertag besuchen kommen. Zugegeben: Die Story ist hanebüchen und wurde von den zwei 10jährigen sofort mit spöttischen Kommentaren auseinander genommen. Aber als ich durchblicken ließ, dass der Weihnachtsmann nicht noch einmal enttäuschte Kindergesichter sehen wollte und deshalb das neueste Modell, eine “Switch“, besorgt hätte, machte sich auf der Zugfahrt ins Rheinland sogar so etwas wie gespannte Vorfreude breit.

Die Überraschung gelang: Kaum bei meiner Schwester angekommen, versteckte ich das Paket im dunklen Keller und ließ die Jungs suchen. Wie die Trüffelschweine rasten sie durchs Haus und kamen mit dem aufgerissenen Paket ins Wohnzimmer, herzten und lobten ihren Vater und die Tante. Und als ich wieder davon anfing, dass das ja der Weihnachtsmann… sagten sie nur: Ja, ja, natürlich. Aber weil sie dankbar waren und mir und ihrem kleine Bruder einen Gefallen tun wollten, spielten sie mit, dankten dem Weihnachtsmann und sagten meine Geschichte noch mal auf.

So richtig war damit aber noch nichts gewonnen. Wir mussten erst an einen Ort gehen, an dem man von allen guten Geistern verlassen ist, um den Glauben an das Übernatürliche wieder zu finden. Also fuhren wir mit der Deutschen Bahn an einem Sonntag nach einem langen Wochenende zurück nach Berlin. Wir gerieten in den trödeligsten Trödelzug, wie es mein Jüngster später nennen würde. Ungezählte Baustellen und eine defekte Tür ließen die 20 Minuten Umsteigezeit in Köln dahinschmelzen. Und ich musste mit den drei Jungs und zwei Koffern auch noch von Gleis 1 nach Gleis 5. Als wir ankamen war unser ICE offiziell schon abgefahren. Aber wenn man sich bei der Bahn auf etwas verlassen kann, dann ist es die Verspätung. Wir hasteten aus dem Regionalzug, sahen unseren Zug noch auf seinem Gleis stehen, schlängelten durch die Menschenmassen, die unschlüssig herumstanden, schubsten Alte und Gebrechliche aus dem Weg und frästen uns unseren Weg zu Gleis 5. Dort stand er noch, der riesige, weiße ICE nach Berlin Ostbahnhof. Unser Zug. Aber der Bahnsteig war leer und die Türen waren schon zu. Ich drückte auf alle Knöpfe, aber es passierte nichts. Aus den Augenwinkeln sah ich den Zugführer, wie er mit dem Lokführer etwas Wichtiges beredete. Sein Blick traf meinen und er sah meine Jungs und unsere Misere. Ein Kopfnicken zum Lokführer und die Knöpfe an den Türen leuchteten wieder. Ein Kopfnicken zu mir, und ich wusste, dass wir gerettet waren. Allmächtiger! Mein Finger berührte den grün leuchtenden Knopf, und die Tür öffnete sich für uns. “Papa Glückshand hat die Tür auf magische Weise geöffnet.“, tippte mein Mittlerer in eine Nachricht an meine Schwester. Na bitte. Wenn schon nicht an den Weihnachtsmann, dann glauben sie jetzt wenigstes an die magischen Kräfte des Vaters. Soll mir recht sein.

Und ABBA glaubt sogar an Engel.

Hin und Her

Wieder so ein zerrissenes Wochenende. Die Zwillinge bleiben bei ihrer Mutter, weil sie am Samstag am “Havellauf“ ihres Sportvereins teilnehmen. Also hole ich nur den Kleinen ab. Ist auch lange her, dass ich mal mit ihm ein Wochenende alleine war. Corona hat die ganze Familie erwischt. Schön nacheinander, erst die Kinder, dann die Mutter. Das hieß drei Wochen die Kinder nicht sehen, zumindest nicht alle auf einmal. Und was heißt schon Wochenende? Freitag Nachmittag eine Stunde nach Brandenburg, abends eine Stunde zurück. Aber der Kleine ist ein Wunder. Als ob ich gestern aus der Tür gegangen wäre strahlt er mich an und will auf meinen Arm. Auch die beiden anderen geben mit das Gefühl, nichts falsch gemacht zu haben. Am Samstag dann ins Kino, dass hatte ich meinem Jüngsten versprochen. Mit Irgendwas muss ich ihn ja locken, sich mit mir in der Dämmerung eine Stunde in S-Bahn, Straßenbahn und U-Bahn zu setzen. “Gangster Gang“ ist ab 6 Jahren, aber selbst wenn sie auf die Hälfte der Action-Szenen und Schnitte verzichtet hätten, wäre es für mich mit 60 noch zu viel. Meinem Kleinen fällt die Popcorntüte und die Kinnlade runter, aber sonst bleibt er ruhig. Als eine Horde Zombie-Meerschweinchen mit glühenden Augen sich auf die Helden stürzt, will ich ihm die Augen zuhalten, aber er nimmt nur die Hand und hält sie fest. Unter Pixelgewittern halten wir tapfer aus bis zum Abspann. Ich frage ihn draußen, was er gesehen hat. Er zuckt die Achseln. Erinnert sich nicht an Wolf, Füchsin oder Schlange. Alles nur ein Rauschen für ihn? Er reagiert sich auf dem Fahrrad ab. Wettrennen um den Block und dann in den Park, Stöcke sammeln. Von weitem sehen wir ein Wildschwein und drehen eine Runde zu weit. Fußlahm kommen wir beide am Eiscafé an und die Welt ist wieder in Ordnung. Die Stöcke werden sorgsam im Garten versteckt. Abends lässt er seine großen Augen so lange kullern, bis er in meinem Bett schlafen darf. Ich schlafe auf dem Sofa, so tief wie lange nicht.

Sonntag geht vorbei. Ohne dass ich es merke, hat er rausgekriegt, wie man mit dem Handy Fotos macht, ohne den Code zu kennen Ich halte mich an meinem Kaffee fest. Aus Lego baut er etwas, das aussieht wie eine Hochseefähre. Was das sei, frage ich ihn. „Ein Schiff, ein ganz normales.“, antwortet er. „Es kann fliegen“. Ich schaue auf die Uhr, suche Schlaftiere, Unterhosen und Schals zusammen, aber er will nicht los. Das Schiff muss noch umgebaut werden, zwischendurch kracht die ganze Konstruktion zusammen, aber er arbeitet weiter, als ob er einen Plan hätte. Es hat keinen Sinn jetzt zu drängeln. Irgendwann sagt er “Fertig“ und dann ist er es auch.

Und schon sitzen wir wieder in der Straßenbahn, Maske im Gesicht. Wir sind eine Stunde zu spät und werden die S-Bahn auch noch verpassen. Ich lasse ihn mit dem Handy Fotos machen und überlege mir schon ein paar Argumente für den Schlagabtausch mit der Mutter. Es wird aber nur ein Geplänkel und als die Sonne schon weg ist, führen meine drei Jungs mir noch eine Hüpf-Show auf dem Trampolin vor. Sie sind beweglich wie Klappmesser und ihr Gehüpfe hat was von Hip-Hop. Bald sind es keine Kinder mehr.

Zu Hause steht noch die halbvolle Tüte Popcorn auf dem Tisch. Ich stopfe sie in mich rein, während ich alte Comedy-Sendungen auf YouTube schaue, und spüre wieder Leben in mir.