Billige Gefühle

Zugegeben, es waren nicht die edelsten Gedanken, die mich ins “Happy Day“ führten. Niemand sollte sein Süppchen darauf kochen, wenn große Träume zerplatzen, wenn Traditionen zerbrechen und ein Lebenswerk auf dem Ramschtisch landet. Aber mir gings um die Bilder. Nach dem Fall der Berliner Mauer bin ich lange in zerfallenen Kasernen und verlassenen Fabriken umhergestreift und konnte vom Hauch der Vergänglichkeit und vom Untergang großer Zeiten nicht genug bekommen. “Lost-Places-Fotografie“ nannte man das später. Jetzt hatte es mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder gejuckt. An dem Laden in der Müllerstraße konnte ich einfach nicht vorbei, als ich die Schilder sah, die den Ausverkauf ankündigten. Ich wollte da rein, wollte nicht nur die Nase neugierig an die Scheibe drücken, mir meinen Teil denken. Ich wollte hinter die Kulissen schauen, den Niedergang dokumentieren und die wahre Geschichte erfahren, mit den Menschen sprechen – und wieder schräge Bilder machen. Ich wolle eine Geschichte erfahren, die weiter nicht von meinem eigenen Leben entfernt sein könnte als diese. Und ja, es ging mir auch um das blöde Wortspiel mit “Wedding“ und “Hochzeit“. Ich ging zum Schlussverkauf in ein Brautmodengeschäft. Ich kriegte alles was ich wollte. Und es wurde ein trauriger Tag.

Ganz offiziell hatte ich die besten Absichten. Ich hatte mir einen Rechercheauftrag des „Weddingweisers“ besorgt, dem “Was ist los in deinem Kiez?“-Portal für den Wedding. Einen Interviewtermin mit der Besitzerin hatte ich auch, die lakonisch mit “Ein bisschen Werbung kann ja nicht schaden.“, zugesagt hatte. Und dem Motto meines Blogs war ich auch treu: „Manche Geschichten sind einfach zu schön, als dass sie vergessen werden dürften.“

Als ich in den Laden trete, ist es still. Ich rufe, niemand antwortet. Auf dem Boden verstreut liegen weiße Pumps, aufgeklappte Kartons und eine Stehleiter. Hier hat noch vor kurzem eine Auswahlschlacht getobt. Zeichen von Leben in dem sonst grabesstillen Räumen. Was ist hier los? Ich schaue mich um, hole vorsichtig die Kamera raus, mache zaghaft die ersten Bilder. Ich bin vorsichtig. Es ist ein Terrain, das man als Mann selten alleine betritt, und das ich mein Leben lang gemieden habe wie der Fisch das Fahrrad.

Was mir als erstes auffällt sind die Unmengen von Kitsch. “Accessoires“ wird das die Besitzerin später nennen. Nippesfigürchen für Hochzeitstorten, Tischdeko und Spardosen für die Flitterwochen in der Form von fröhlich kopulierenden Schweinen. Das alles gemischt mit katholischen Ritualgegenständen, Kerzen, Taufkissen und lebensgroßen Kinderpuppen wie aus einem Horrorfilm, erstarrt in weißen Kleidchen für die Kommunion. Das alles durchdrungen vom Geruch einer schlecht gelüfteten katholischen Kirche. Oder holt mein Gedächtnis diesen Geruch wieder hervor, weil es diese Devotionalien sieht? Mir wird zum ersten Mal schlecht.

Aus dem Nichts erscheint die Besitzerin. “Keine Bange, ich hatte sie die ganze Zeit im Blick: Videoüberwachung.“, lächelt sie und bietet mir ein bisschen widerwillig einen Platz auf der altdeutschen Polstergarnitur an. Ihr Gesicht ist perfekt geschminkt und ich schätze sie 10 Jahre jünger als ihr Alter, das sie mir später verraten wird. Aber sie ist eine Weddinger Hochzeitsschneiderin und völlig ohne Glamour. Sie kleidet sich wie ihre Kundschaft: Jeans, Glitzerpullover und Turnschuhe von undefinierbarer Farbe. Einen größeren Kontrast zu den edlen Roben, die dicht gedrängt bis unter die Decke hängen, kann ich mir nicht vorstellen. Wenn ich sie an der Kasse von Edeka getroffen hätte, sie wäre mir nicht aufgefallen.

Das Gespräch beginnt schleppend. Die Frau wirkt misstrauisch und müde wie ihr Laden. 30 Jahre werden es in diesem Mai, seit sie das Geschäft mit ihrem Mann gestartet hat. Fünf Angestellte hatten sie mal, Auszubildende auch. Seit Corona machen sie Verluste. Als ich sie frage, wann sie endgültig Schluss machen, zögert sie kurz, als würde ihre Entscheidung in diesem Moment fallen: “Schreiben sie Ende Juni. Und dass es bis dahin bis zu 80 Prozent Rabatt auf alle Kleider gibt.“ Was dann sein wird, wage ich sie nicht zu fragen. Ich fühle mich immer unwohler, als sei ich in einem Beerdigungsinstitut statt in einem Brautladen. Alle Lebensfreude, all die Zukunftsträume, die mit einer Hochzeit verbunden sein sollen, sind aus diesem Laden gewichen. Die blicklosen Augen der Schaufensterpuppen, der Ramsch, die vertrockneten Blumen; alles erdrückt nur noch. Und auch die 400 festlichen Kleider in creme, champagner und ivory hängen wie leblose Fahnen der Kapitulation von der Decke. „Ja, schreiben sie Ende Juni.“, sagt sie mit plötzlich kratziger Stimme. „Noch so eine tote Saison will ich nicht erleben.“

16 Gedanken zu “Billige Gefühle

  1. Ein aufgegebener Braut-und Abendmodenfachgeschäft der altehrwürdigen Sorte ist wie der Untergang einer Zeit, in der Zeit noch spielerisch vorhanden schien, stundenlang ein Kleid für den Ball zu suchen. Zwischendurch ein Käffchen zu trinken, gemütlich eine zu rauchen und mit der Inhaberin galant um den Preis zu feilschen, während Silberhochzeitsmutter in lila Voile flaniert.
    Berührend und stark geschrieben , wenngleich ich von den Taufkleidzombiepuppen böse träumen werde, weia….👀
    Mein Lesedank und Gruß
    Amélie

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  2. Lieber Rolf,
    ich habe auch den Beitrag im Weddingweiser gelesen, aber das hier, dieser Artikel, das ist deine Schreibe, wie ich sie gerne lese. Klar! so kann das nicht im Weddingweiser erscheinen aber das ist der Kiez.
    Ich werde mal bei meinem nächsten Besuch zu Papa vorbeigehen. Muss man sich tatsächlich anmelden, auch wenn man nur stöbern will? Vielleicht finde ich ja „Objekte“ für mein nächstes Stillleben?
    Einen schönen Wochenbeginn von Susanne

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  3. Das stimmt wirklich sehr melancholisch. Und wenn man dann noch bedenkt, wie viele Hoffnungen in den Laden in seinen 30 Jahren getragen wurden, die dann später wie Seifenblasen zerplatzten … jetzt passt meine Stimmung zum Wetter.

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    • Ich wollte deine Laune nicht verderben. Bei dem Besuch habe an dich gedacht, denn vor etwa einem Jahr hatte ich den Laden schon einmal erwähnt und du hattest einen treffenden Kommentar dazu geschrieben. Meine Skepsis zum „Bund fürs Leben“ wollte nicht noch einmal bringen, aber die Botschaft ist anscheinend trotzdem durchgedrungen.
      Und trotzdem dir einen schönen Tag
      Rolf

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  4. oooh … ich hab mir grad vorgestellt, wie sich die Rüschchen in der Kette verfangen … ich glaub, ich bin zu praktisch in manchen Dingen.
    Auch wenn dieser Laden nicht zu meinen Lieblingszielen gehört hätte – danke für diese schön melancholischen Einblicke.
    Liebe Grüße
    Sabine vom 🕷 🕸

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  5. Ich war schon immer gegen dieses Beziehungsmodell.
    Einfach, weil es der Natur des Menschen nicht entspricht.
    Also weg damit!

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