Letzte Weihnachtsgeschichte

Der alte Mann in der roten Daunenjacke hält sich an einem Glas Kräuterschnaps fest. Er ist der einzige Gast in dem riesigen Döner-Restaurant, dem einzigen Lichtblick in der verwaisten Fußgängerzone einer sterbenden Stahlstadt im Norden von Berlin. Was macht er hier am Heiligabend um halb Vier? Wo andere sich mit ihrer Familie um den Weihnachtsbaum scharen und Geschenkpapier zerfetzen? Ist es einer der verwahrlosten Stadtstreicher, die ihr erbetteltes Geld in Alkohol umsetzen, oder ist es einer dieser trostlosen Weihnachtsmanndarsteller, der sich für seinen schlechten Auftritt bei ungläubigen Kindern in warmen Eigenheimen in den Vorortsiedlungen vorbereitet, um seine mickrige Rente aufzubessern? Vielleicht ist es auch nur ein einsamer alter Mann, der nirgendwo hin gehört an einem Abend, an dem niemand einsam sein sollte. „Have you seen the old man outside the seaman’s mission…? Selbst die tuschelnden Männer hinter dem Tresen, die in einer Sprache sprechen, die er nicht versteht, und denen Weihnachten nichts bedeutet, sind heute zu zweit.

Wie lange darf man mit einem Schnaps in der warmen Gaststube bleiben? Reicht das Geld für einen zweiten oder muss er bald los in die Kälte, dorthin wo die blinkende Weihnachtsbeleuchtung höhnisch strahlt. Diese Lichter wärmen ihn nicht. Es ist kurz vor Vier als er sich müde und seufzend erhebt um nach dem Preis für den kurzen Augenblick der Wärme zu fragen. Wortlos schiebt er drei Euro in die Hand des Wirts. Kein Gruß, kein „Frohe Weihnachten“. Wieso auch?

Auf seinem Weg zurück sieht er andere Verlorene. Eingehakte Paare, denen es zu Hause zu eng wurde. Einen Vater mit einem Lastenrad, der mit seinen drei Kinder das Weihnachtsessen bei „Call a Pizza“ abholt; und das erinnert ihn, dass er ja auch drei Söhne hat, denen er versprochen hat, am nächsten Tag zu Mc Donalds zu gehen. Der einzige Weg sie dazu zu bringen, heute ihre heilige Christenpflicht zu erfüllen und am Heiligabend anderen Menschen eine Freude zu machen. Müde von dem langen Kampf, der schon seit Wochen währt wankt er die Stufen zur Kirche hoch, über deren Eingang ein einsamer roter Herrenhuther Stern leuchtet. Ist das sein Nachtasyl? Hofft er auf etwas Barmherzigkeit oder eine Pause von seinem harten Leben? Der Kirchendiener drückt ihm ein Heft mit Weihnachtsliedern in die Hand und wünscht freundlich ihm eine „Frohe Weihnacht“, was den Alten in seinem Grimm erschreckt. Was hat das hier mit Weihnachten zu tun? Er quetscht sich in eine der vollbesetzten Holzbänke. Der Pfarrer schnoddert in bestem Berlinerisch die Lithurgie herunter. Der Organist eiert die bekannten Melodien. Es klingt wie Karussellmusik auf dem Jahrmarkt. Die Gemeinde hält nach Kräften mit. Doch da erklingt wie aus anderen Sphären von der Empore der Kinderchor. Auch schief, weil zu wenig geübt und zu viel mit den Handys gespielt, aber dabei, glockenklar, die Stimmen seiner Jungs. Auf die letzte Minute hatte er sie zur Generalprobe hier abgeliefert, nur unter Protest hatten sie die weißen Hemden angezogen, aber immerhin waren sie mitgekommen. Und jetzt singen sie „ und soll es werden Frieden auf Erden; den Menschen allen ein Wohlgefallen…“ Na, das kann ja eine schöne Weihnacht werden.

Was sonst noch so passiert ist

Vorgestern wars kalt, heute ist es nicht mehr so kalt. Das ist etwas, was ich mit Gewissheit sagen kann. Vorgestern war es sogar sehr kalt. Da saß ich mit meinen Jungs zum ersten Mal im Berliner Olympiastadion und wir schauten uns eine Trauerfeier an. Danach gab es ein Fußballspiel. Und der Westwind blies durch das Marathontor. Warum haben die Nazis da eine Lücke in dem schönen Oval gelassen? Wo doch in Berlin immer Westwind ist? Oder meistens. Auch im Winter. Wenn nicht gerade arktische Winde vom Nordpol kommen. Weil ihnen die Menschen schon immer egal waren. 42 000 saßen im Olympiastadion und froren -wegen den Nazis. Und noch ein paar 10 000 froren am Brandenburger Tor, auch wegen der Nazis. Die auf der Straße haben protestiert, die im Stadion haben geweint. Gestandene Männer schluchzten, weil ihr Präsi gestorben war. Einfach so, mit 43. Bernstein hieß er, aber nicht Leonhard sondern Kay. Deswegen wurde auch nicht gegeigt sondern gesungen: „Nur nach Hause gehen wir nicht“ auf die Melodie von „Sailing“. Rod Steward hätts auch nicht besser hingekriegt. Und kalt wars, sagte ich schon, zugig, aber warm ums Herz wurde es einem, nicht nur weil meine Jungs so begeistert waren, von allem, was sie sahen, sondern wegen der Leute. Leute, die man sonst nur schweigend und geduckt in der U-Bahn trifft, sangen, aufrecht. Und statt Kerzen gab es ein einsames Bengalo. Stilvoll. Lauter sympathische Leute da, sogar die Gegner aus Düsseldorf haben mitgeheult. Hätten auch alle am Brandenburger Tor stehen können, standen aber in der Ostkurve. Und dann ist das Spiel 2:2 ausgegangen. Das war fair. Fair ist ein schönes Wort. Hört man selten in letzter Zeit. Fair ist, wenn man sich streitet, und dabei weiß, dass der andere anders ist, aber auch Respekt verdient. Und wenn man sich an die Regeln hält.
Und deshalb sind auch alle ordentlich zurück gegangen aus dem Stadion in die S-Bahn. Und die S-Bahn hatte Sonderzüge, damit alle schnell weg kamen. Und keiner hat gerempelt und mein Jüngster hat auf dem Weg zur Bahn zwischen all den Bratwurstständen noch einen Schalverkäufer gesehen. Und dann wollte er unbedingt einen Schal. Keinen blau-weißen von Hertha, sondern einen rot-weißen vom FC Bayern München. Da habe ich mich kurz gefragt, von wem er das hat. Aber seine Mutter, die natürlich auch mitgekommen war, obwohl ich gesagt hatte, dass Fussball Männersache sei, und die an alles gedacht hatte, nur nicht an ein Taschntuch für ihre laufende Nase, hat ein gutes Wort für ihn eingelegt und gesagt, dass das nur so eine Phase sei. Und dann hat er hat ihn gekriegt, den Schal, hat ihn aber gleich weggesteckt, weil das wollten wir dann doch nicht riskieren, in einem Zug voller Hertha-Fans einen Bayern-Schal anziehen. Man weiß ja nie, wie die so drauf sind.

Küchenchor

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Es war an einem Freitag im längst vergangenen Sommer dieses Jahres, als wir in der Küche eines alten Landhauses große Töpfe schrubbten. Jeden Tag waren ein paar von uns zum “Karma Yoga“ eingeteilt, wie man hier den Küchendienst nannte. Unser Yoga-Meister entlockte im Nebenraum seinem Harmonium ungelenk die Töne für die Mantren, die wir gleich gemeinsam auf Sanskrit singen sollten, um ein höheres Bewusstsein zu erlangen. Aber in der Küche, zwischen dem Geschepper von Tellern mit den Resten von fadem Linsencurry und schweren Bratpfannen, brauchten wir etwas anderes, um uns bei Laune zu halten. „Das bisschen Haushalt geht doch von allein…“ begann ich einen Schlager aus den 60ern zu trällern, wie ich es oft tue, ohne, dass ich das merke, und löste damit eine Lawine aus. Als sei nach Tagen strenger Exerzitien ein Damm gebrochen, stieg das ganze Küchenkollektiv erstaunlich textsicher in den Gesang mit ein. Ein Lied aus der goldenen Zeit des deutschen Schlagers gab das andere, die Lautstärke übertönte schnell das Rumpeln des Geschirrspülers und das Niveau sank minütlich. Als wir bei “Schmittchen Schleicher“ angekommen waren, stoppte eine Frau, die sich als evangelische Chorleiterin outete, den freien Fall und teilte uns routiniert in Gruppen ein. Als dreistimmigen Kanon intonierten wir makellos “Dona nobis pacem“. Die Küche bebte vor Lebensfreude und Spiritualität und nur von fern klang noch das klägliche Gehupe aus dem Harmonium unseres Meisters, der unserer fröhlichen Häresie säuerlich ein Ende bereitete und uns zurück auf die Matten befahl.

Ich singe gerne. Nicht schön, nicht perfekt und nicht nur unter der Dusche. Auf dem Büroflur, beim radfahren, oder nachts, wenn ich nicht schlafen kann. Es erleichtert das Herz und macht gute Laune. Shantys, Gospels oder der Gefangenenchor aus Nabucco. Ist mir völlig egal. Meinen Mitmenschen leider nicht. Nach den ersten Monaten in der neuen Wohnung erhielt ich von der Nachbarin über mir eine Postkarte. Sie lobte meine Sangeskunst, bat mich aber spätestens ab 1 Uhr nachts damit Schluss zu machen. Eine Kollegin sprach mit sogar Talent zu, meinte aber, die Tonkunst, die ich in den stillen Behördenfluren zum Besten gäbe, klänge wie Bruce Springsteen in einem U-Bahnhof.
Warum trauen sich so wenige Menschen im Alltag zu singen? Und warum sind viele so froh, wenn sie dann doch einmal zum Singen animiert werden? Ich meine jetzt nicht Gotthilf Fischer und ich meine nicht Karaoke. Überall hört man Musik aus Radios oder Autoboxen, aber kein Mensch singt. Es geht die Sage, dass die Menschen früher zum Arbeiten sangen, um einen Rhythmus zu haben, um die Arbeit zu vergessen und mit anderen zusammen einen Takt zu haben; bei den Seeleuten zum Beispiel. Und dass man den ersten Fabrikarbeitern das Singen verbieten musste, weil ja jetzt die Dampfmaschine den Takt vorgab. Ein stummes Volk sind die Deutschen geworden. Anders in Osteuropa oder in Skandinavien. Überall habe ich erlebt, dass es dort Lieder gibt, die alle kennen und die zu Festen gesungen werden, oder einfach so. Als meine Tochter in Russland zum Schüleraustausch war, wurde ihre Gruppe aufgefordert, ein gemeinsames Lied zu singen. Und was fiel ihnen ein? „Über den Wolken“ von Reinhard Mey. Ist doch seltsam.

Früher wurde wenigstens auf Demos gesungen. Politische Lieder gab es, die Mut machten und Gemeinsamkeit schufen. “Unser Marsch ist eine gute Sache, weil er für eine gute Sache ist…“ Schön wars. Neulich bin ich am Tag vor meinem Geburtstag aus Versehen in eine Demo geraten, die sich “Klimastreik“ nannte. Um mich herum fröhliche, zuversichtliche Gesichter. Es war keine schlechte Stimmung. Aber für mich war es wie auf einem Schweigemarsch. Einmal gab es den Versuch, eine Parole zu skandieren, aber dann war wieder Stille. Dafür habe ich dann bei meinem Geburtstagsfest ein Tag später eine Tombola veranstaltet. Wer von meinen Freunden noch ein Lied aus den alten Zeiten vortragen konnte, durfte einen schönen Zierteller mit nach Hause nehmen. Zur Auswahl standen 19 unterschiedliche Motive, die jene 19 Atomkraftwerke zeigten, die bis nächstes Jahr stillgelegt werden. Soll ja keiner sagen, unsere Generation hätte nichts bewirkt. Und was soll ich sagen? Es wurde ein richtig schöner Abend. Von “Wehrt euch, leistet Widerstand“ bis zu Degenhards “Schmuddelkindern“ wurden mit geröteten Wangen Lieder gesungen, an denen mal viele Hoffnungen hingen. Und heiter gings weiter. Leider habe ich vergessen, meine Tochter zum Singen zu animieren. So als Vater-Tochter Duett. Das wäre doch schön gewesen. Aber das haben wir eine Woche später nachgeholt, als wir uns in einer menschenleeren Pizzeria trafen. In der leeren Räumen klang plötzlich Reinhard Mey, „Über den Wolken“, alle Strophen. „Wind Nordost, Startbahn 03..“ Der blasse italienische Kellner wurde noch blasser, aber es ist schön, ein gemeinsames Lied zu haben.