Jeht schon

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Der fette Typ sitzt auf meinem Platz. Dreckiges Lachen, dreckige Jogginghose und ein Plautze, die zu den Knien reicht. So ein Typ, denke ich, der den Tag rauchend und feiste Sprüche klopfend verbringt – auf meinem Platz. Mein Platz, draußen vor dem türkischen Back-Shop, meine Rettungsinsel in Tagen der Elternzeit. Seit einem Monat schiebe ich jeden Morgen halb Neun meinen Jüngsten durch den Kietz bis er einschläft. Und kaum hat er die Augen zu, steuert Vattern zum Türken, um sich den ersten Kaffee des Tages zu gönnen, die Augen zu schließen und die viel zu kurze Nacht zu vergessen. Wenn die ersten Sonnenstrahlen mein Gesicht wärmen, kann ich endlich entspannen. Allein! In Ruhe! Und jetzt dieser Typ. Ich setze mich neben ihn, so, dass ich in nicht ansehen muss, tue so, als würde ich den Kinderwagen schaukeln. Aber ich höre ihn. Er atmet schwer, hustet mit seiner Zigarette – widerlich. Die hübsche Backwaenverkäuferin, die mich immer mit einem grimmigen Blick mustert, kommt zu uns heraus. Sie wechselt ein paar Worte mit dem Dickwanst. Die beiden haben ein Geheimnis, das sehe ich aus den Augenwinkeln. Und der Dicke hat neue Informationen für sie. Sie lächelt, verschwindet, kommt noch mal raus, lacht und verschwindet wieder. Neid und Neugier wallen in mir auf. Was hat er, was ich nicht habe? Ich muss es wissen und fange ein Gespräch an. Was er mit „der Kleenen“ hat, verrät er mir nicht, aber dass er sich Kindern auskennt. „Is immer jut, wenn die Jörn schlafen,“ schnauft er mit Blick auf meinen Kinderwagen. Er schweigt wieder. Ist wohl doch keiner von den Schwätzern, die einem in fünf Minuten ihr Leben erzählen und Gott und die Welt für ihr Elend verantwortlich machen. Ich muss bohren. Das kann ich gut. Ja, Frührentner ist er, nach 40 Jahren Arbeit, erst Heizer, dann Eisengießerei. „Hab mer die Knochen kaputt jemacht und die Lunge ooch. 500 Euro krieg ich und muss ooch noch zum Sozialamt loofen. Aba jeht schon.“ Ich bekomme Ehrfurcht vor diesem ehrlichen Arbeiter, diesem alten Weisen. Meine Rente wird deutlich höher sein, obwohl ich keine 40 Jahre gearbeitet habe und meine Knochen heile sind. Trotzdem hab ich Angst, es könnte nicht reichen. Warum eigentlich? Ich muss los. Der Alte sitzt in der Sonne, ich gönne ihm die einfache Freude. Ich hab noch ein paar Stunden vor mir mit meiner süßen Last. Auch nicht immer einfach. Aba jeht schon…

Du darfst!

Markt

„Deutschland ist ein tolles Land“, ruft der türkische Melonenverkäufer und weist mit ausgebreiteten Armen über sein süßes Reich, „schaut was es hier alles zu essen gibt!“ Er hat seine riesigen Früchte zu einem Berg aufgetürmt, von dem herab er seine frohe Botschaft über den ganzen Marktplatz verkündet. Es ist Marktag auf dem Parkplatz hinter dem Rathaus Wedding. Für ein paar Stunden verwandelt sich die öde Asphaltfläche in einen türkischen Bazar. Hier kann ich eintauchen, den grauen Stadteil vergessen und mich fühlen wie im Urlaub. Sorglos, neugierig und probierfreudig. Umschwirrt von türkischem und arabischem Stimmengewirr gibt es hier von allem alles und vor allem viel! Die Stände brechen fast zusammen vor bunten Früchten aus aller Welt. Manche sorgsam gestapelt, manche hingekippt aber immer mit Verve angepriesen. Was hier landet ist nicht immer erste Klasse. Es ist oft das, was auf dem Großmarkt schnell weg musste, weil es nicht mehr lange hält. Verkauft wird deshalb schnell und in großen Mengen. Unter einem Kilo geht hier nichts, und wenn ich eine halbe Melone haben will, kriege ich eine ganze. Keine Diskussion. Denn was heute nicht verkauft wird, landet endgültig auf dem Müll. Aber das macht für mich gerade den Reiz aus: Aus dem Angegammelten das Gute finden, für einen Spottpreis. Die Tasche voll zu haben, und damit auch noch was Gutes tun. Denn was für eine Verschwendung wäre es, wenn das alles weggeworfen würde?Wie gut, dass ich es vor dem Verderb rette. Und mit dieser edelen Einstellung darf ich endlich ungehemmt schlemmen. Denn während ich im Supermarkt stundenlang darüber meditieren kann, was nun umweltverträglicher ist: Die Bio-Äpfel aus Chile oder die Lagerhausbirnen aus Italien, kann ich hier einfach zuschlagen. Auf dieser Resterampe der Globalisierung ist alles erlaubt: Trauben aus Südafrika? Für nen Euro das Kilo nehm ich die doch mit! Avocados aus Peru? Bevor Sie sie wegwerfen- her damit! Für ein bisschen Kleingeld ist ruck-zuck die Tasche voll und es bleibt noch was übrig für ein Gläschen frisch gepressten türkischen Granatapfelsaft. Soll ja gut sein gegen alles.

Aber wehe, wehe wehe, wenn ich auf das Ende sehe! Auf dem Rückweg muss ich, mit den Früchten meiner Lust vollbepackt, vorbei an meinem Bio-Laden. „Natürlich Bio“ heißt er, ist noch original aus den 80ern, ist natürlich selbstverwaltet und natürlich bin ich Mitglied in der Genossenschaft. Aus seinem dunkelen, nach Räucherkerzen und Ziegenkäse heimelig nostalgisch riechenden Inneren ruft es: Du musst! Also trete ich mit schuldbewusst gebeugtem Haupt ein, kaufe dunkles Brot und deutsche Kartoffeln, bezahle für eine handvoll das Gleiche wie für meine ganze Markttasche – aber wenn ich wieder ins Licht heraustrete, freue mich, dass ich heute nur Gutes getan habe.

 

 

 

Locke und Glatze

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Der haarige, dunkle Mann wischt sich erst ein mal die Rotze von der Nase, schmiert sie mit der Hand an sein Kaputzenshirt und fragt: „Wie lang?“ Ich sitze in einen Stuhl gepresst, einen Umhang um meine Schultern, und etwas in mir sagt mir, dass ich am besten hier schnell verschwinden sollte. Aber das Gefühl hatte ich schon oft, und doch ist meistens alles gut gegangen – meistens. Die Neugier siegt über den Ekel und ich  antworte mechanisch „Neun Milimeter“. Der Mann grunzt und  legt los.  Mit einem Gerät, das an einen Faustkeil erinnert, fährt er grob über meinen Schädel. Mein Kopf nickt und schwankt willenlos. Ich bin beim Frisör.

Jeden Monat einmal stürze ich mich dieses Abenteuer. Vom abgeschabten „Salon für den Herrn“ mit Wirtschaftswunderinterieur über die ungezählten türkischen oder arabischen Barbiere bis zu hippen Salons, die so kreative Namen wie „Ware Schönheit“  führen: Ich probiere die Haarkünstler in meinem Kietz aus. Friseurläden gibt es im Wedding noch häufiger als Handy-Shops, Spätis oder Dönerbuden – und das will was heißen. Und wenn ich etwas liebe, dann ist es mich in einem überreichen Angebot treiben zu lassen und die Vielfalt zu genießen. Angst verunstaltet zu werden habe ich dabei nicht. Mit dem Alter wächst nicht nur die Freifläche auf meinem Haupt, sondern auch der Wagemut. Und den brauche ich. Denn lange konnte ich keinen Friseurladen betreten, ohne schmerzhaft das kindliche Trauma zu spüren, das der Dorffigaro meiner Jugend in und auf meinem Kopf hinterlassen hat. Es trägt den Namen „Faconschnitt“. Das ist jene one-size-fits-all-Frisur der späten Sechziger, die bei mir immer dazu führte, dass sich meine Haare am Hinterkopf wie elektrisch aufgeladen in die Höhe stellten. „Sträußchen“ nannte das meine Mutter. Meine Schulkameraden hatten weniger schmeichelhafte Worte dafür. Nun sind die Zeiten vorbei, an denen ein Friseur an meinen Haaren etwas ge- oder verunstalten könnte. Vorbei auch die Zeiten, in denen ich mich darauf verlassen konnte, dass die Menschen, die mit Messer und Schere an meinem Kopf hantieren ihr Handwerk auf ordentliche Weise gelernt hatten. Heute darf das jeder. Aber das macht die Sache für mich erst richtig spannend. Schon mit der Art, mit der mir die Kreppapierkrause umgelegt wird, merke ich, ob der Haarkünstler in meinem Nacken in seinem vorherigen Beruf  Schafe geschoren hat oder ob er sein Fach von der Pike auf gelernt hat. Wenig Hoffnung, heil aus der Sache raus zu kommen habe ich mittlerweile bei schlecht blondierten Damen, die ein 400-Euro Job in das Gewerbe gelockt hat. Sie schnippeln und schaben so lange hilflos auf meiner empfindlichen Haut herum, bis sie in meinem Nacken aussieht wie bei einem Ferkel mit Rotlauf. Aber was mich immer wieder für die kleinen Mißgeschicke entschädigt, ist das wohlige Gefühl, wenn ich an einen Meister gerate, der mit Liebe bei der Sache ist und mich für 8 Euro verwöhnt, als säße ich bei Udo Walz persönlich. Der das Rasiermesser (und eine frische Klinge) auspackt und die Übergänge fein säuberlich nacharbeitet, der sich um Ohren und Augenbrauen kümmert und mich vielleicht noch mit kühlendem Rosenwasser erfrischt. Wenn ich dann frisch frisiert auf die Straße trete, fühle ich mich wie ein gepflegter Mann von Welt. Viel zu schick eigentlich für den schäbigen Kietz.

Mittlerweile hat mein haariger Meister im Salon „Haarbibi“seine Arbeit wortlos beendet. So wie er meinen Kopf hin und hergeworfen hat,  gehört er ganz eindeutig zu der Sorte „Schafscherer“ und ich ahne nichts Gutes. Ich bedeute ihm, den Spiegel von der Wand zu holen, damit ich sein Werk betrachen kann. Sieht gut aus, erstaunlich gut. Er merkt meine Zufriedenheit und sagt: „An der Seite habe ich 6 Milimeter gemacht, da sind die Haare dicker.“ Es gibt viele unentdeckte Künstler im Wedding.

Rabimmel Rabammel

Die Fahrstuhltür geht auf und plötzlich ist da dieser Duft. Ich weiß nicht wie er zustande gekommen ist und wann ich ihn das letzte Mal gerochen habe, aber mit einem Mal bin ich wieder in der Grundschule und stehe in der Schlange für die Milchspeisung. Für ein wöchentliches Milchgeld bekamen wir täglich ein kleines Päckchen Milch mit Strohhalm und diese Milch war warm, aufgewärmt mitsamt dem Tetra-Pack, der aussah wie ein kleines Häuschen. Würde heute ja keiner mehr machen, wegen der Weichmacher, den Stabilisatoren oder sonstwelchem chemischen Bedrohungen für kleine Kinder, die sich beim Wärmen lösen, aber Mikrowelle gabs halt noch nicht. Und deswegen roch es in der ganzen Schule so, wie heute Morgen im Aufzug: Ein bischen chemisch, ein bisschen nach warmem Wachs und ein bisschen nach „au weia, ich hab das Milchgeld vergessen“. Ich war dankbar für die Blitzreise in meine Kurze-Hosen-Zeit. Warum? Weil gestern Martins-Tag war und ich gehofft hatte, rührseelige Jugenderinnerungen beim Laternenumzug mit meinen Jungs wachrufen zu können. Aber wie das so ist, wenn man das Glück erzwingen will: Es klappt nicht. Ich war extra früher von Arbeit weggegangen, um das, was mir aus meiner  Kindheit auf dem Dorf als heimeliges, ehrfurchtgebietendes Gemeinschaftserlebnis in Erinnerung war, gemeinsam mit meinen Jungs erleben zu können. Laut singend waren wir damals am Martinstag mit unserem Lehrer aus dem Dorf bergan gezogen, hinter einer Blaskapelle und dem respekabelen Gaul eines ganz echt aussehenden Sankt Martin. Die Lieder hatten wir natürlich geübt in der Schule. Und sie stimmten: „Dort oben funkeln die Sterne und unten funkeln wir.“ Es war wirklich dunkel, wir sahen die Sterne, keine Autos, keine Straßenbeleuchtung, nur vereinzelte Grablichter in den Fenstern, die vom Totensonntag übrig geblieben waren, für die Vermissten des Krieges, der damals erst 20 Jahre zu Ende war und für die Brüder und Schwerstern von drüben. Die Straße gehörte uns und den Laternen, von denen nicht alle oben ankamen, weil die Kerzen umkippten und die selbstgebastelten Kunstwerke aus Transparentpapier in Flammen aufgingen. Es wurde viel geheult. Besser dran waren da die großen Kinder, die sich gruslige Fackeln aus Futterüben geschnitzt und auf einen Besenstil aufgepflanzt hatten, damit konnten sie prima herumspringen und die Kleinen erschrecken. Auf dem Berg angekommen machte die freiwillige Feuerwehr das, was sie, neben Durst löschen, am liebsten machte: Feuer! Ein filigraner Turm aus Baumstangen, Sperrmüll und Autoreifen war da aufgetürmt und a ls wir ankamen,brannte er schon  licht zum Himmel empor. Sehr beeindruckt standen wir und warteten, bis alles knackend und funkensprühend in sich zusammenfiel.  Manchmal zogen einige besonders aufgekratzte Jungs einen brennenden Autoreifen aus der Glut und ließen ihn zu Tal rollen. Dann war alles vorbei, die Feuerwehr hielt Bandwache und wir gingen zurück zur Schule, wo es warmen Kakao und einen „Hirzemann“ mit Tonpfeife für jeden gab.

Und heute, oder beser: gestern? Gestern drückte ich meinen müden Jungs um fünf Uhr Nachmittags vor der Kita zwei Plastikstäbe in die Hand, an derern Ende eine Leuchtdiode funzelte. Daran hängten wir die selbsgebastelte Laterne (immerhin noch aus Transparentpapier) und machten uns auf dem hell erleuchteten Bürgersteig schweigend mit den anderen Kita-Kindern auf den Weg. Statt Blaskapelle gab’s eine einsame Posaune und statt Sankt Martin gabs ein Pony aus dem Kinderzoo. Vermengt mit Kinderwagen, Fahrradanhängern und verständnislosen Passanten zuckelte der Zug zum nächsten Stadtplatz. Dort gab es eine kleine Pause und der Posaunist gab sein Bestes. Aber keiner sang. Statt die Lieder mit den Kindern zu üben, hatten die Erzieherinnnen den Eltern einen Zettel mit den Texten in die Hand gedrückt, den natürlich im Halbdunkel keiner entziffern konnte. Ich schmetterte mit dem Posaunisten tapfer mein tief sitzendes „Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind“, textsicher bis zur letzten Strophe. Keiner sang mit. Statt dessen fragten mich einige Mütter, ob ich eine christliche Erziehung genossen hätte? (sie meinten wohl: in welchem Jahrhundert ich die Lieder gelernt hätte).  Zurück an der Kita drängte sich alles auf dem schmalen Hinterhof zwischen Kita und Kirche. Aus Lautsprechern schepperten Kinderchöre ein „Laterne, Laterne“ und dann hieß es noch eine halbe Stunde anstehen, bis die Kinder auch ihre Martins-Gans aus Zuckerkuchen bekommen hatten. Etwas abseits brannten in einer Eisenschale fünf Holzscheite, um die sich fünfzig Leute scharten. Auf dem Weg nach Hause fragte ich meine Jungs , was ihnen denn gefallen hatte beim Laternenumzug. „Das Pferd hat Kacka gemacht auf den Weg und Lasse ist reingetreten“, kam es promt zurück. Ich bin ja mal gespannt, woran sich meine Jungs erinnern, wenn sie in fünfzig Jahren einen Aufzug betreten, der nach frischen Pferdemist riecht.

Oh wie schön ist Ravensburg!

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Es ist eine dieser tropischen Nächte. Eine Nacht, in denen das Leben sich selber feiert. Eine Nacht, wie es sie nur in Berlin geben kann. Alle Fenster stehen offen. Es ist heiß, bis weit nach Mitternacht und jede Lebensregung ist öffentlich. Bis in den zweiten Hinterhof klingen die ungehemmten Stimmen der Feiernden im Vorderhaus, im Nachbarhaus und wahrscheinlich sogar aus dem Altersheim am Ende der Straße. Es ist ein An- und Abschwellen in allen Sprachen dieser Welt, ein Klingen von Gläsern und Gelächter, natürlich: Gelächter. Ausgelassenes, lebensfrohes, extatisches Gelächter. Dann plötzlich eine Pause, und in die Stille hinein brüllt der nächste Düsenjet im Anflug auf den nahen Flughafen. Ja, das ist Großstadt, das ist Leben, das ist der Wedding! Deshalb bin ich hierher gezogen! Gegen alle Vorbehalte, gegen alle Warnungen. Allerdings hatte ich damals noch gute Nerven, keine kleinen Kinder, und das unerschütterliche Vertrauen, dass der Hauptstadtflughafen am anderen Ende der Stadt termingerecht fertig würde. Darauf warte ich seit Jahren. Jetzt wäre ich froh, wenn ich noch Träume hätte. Aber für Träume brauche ich Schlaf und für Schlaf brauche ich Ruhe. Ruhe! Meine übernächtigten Augen irren in der Wohnung umher, finden das Puzzle, das meine Söhne heute stolz gebastelt haben und mein schlaftrunkenes Hirn macht daraus ein Paradies: Ravensburg! Du Stadt der Stille, du Hort der ordentlichen und friedliebenden Menschen! Alles ist sauber und ordentlich. Frohe, unaufgeregte Menschen finden ihr ihre Seeligkeit darin, den Müll zu trennen und ein Schwätzchen mit dem Müllwerker zu halten. Hier braucht man keine Rauschdrogen um glücklich zu sein. Nur ganz hinten und ganz versteckt gibt es eine Trinkhalle. Aber in Ravensburg werden die Trinker wahrscheinlich abends mit dem Müllauto vor die Stadttore gefahren, oder mit der Kehrmaschine ausgefegt. Damit Ruhe herrscht, wundervolle, himmlische Ruhe…

Nach einem viel zu kurzen, unruhigen Schlaf gehe ich am nächsten Morgen an überfüllten Müllcontainern vorbei zum Backshop in meiner Straße. Ich ordere ein Schokobrötchen. Die Besitzerin taxiert mich  kurz und mitfühlend: „Da braucht wohl einer Nervennahrung.“  Sie kennt ihre Nachbarn.

Halt durch

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Halt durch, tapferer alter Wetterladen!

Schon bald werden Sonnenschein und Hitze nur noch eine Erinnerung sein.

Dann werden feine Niesel fallen und schwer die Morgennebel aus den Flüssen steigen.

Verschwunden sind dann die leicht Bekleideten von den Ufern der Seen.

Eingehüllt in deine Öljacken werden wir schweigend am Wasser stehen:

Missmutig wie immer, aber endlich wieder in unserem Element.

Erklär mir mal einer die Welt

Denn ich versteh sie nicht mehr. Ich meine die türkischen Händler bei uns im Wedding. Sie verschönern die Straßen bis tief in die Nacht mit ihren leuchtend bunten Obstständen. Riesige Auslagen mit Früchten aus aller Welt, prall, bunt, üppig und verlockend. Helal e Pazari. Und billig! Billig, billig, billig. Die Verkäufer vor den Läden kennen nur dieses eine Wort, ihr Glaubensbekenntnis, das sie wie Muezzine in einem an- und abschwellenden Singsang ihren Kunden vorbeten. Doch im Gegensatz zu ihren Kollegen auf den Minaretten, kann man den Wahrheitsgehalt ihrer Prophezeiungen sofort überprüfen: Sie stimmt! Sommers wie winters. Na gut, ab März sollte man bei den Äpfeln vorsichtig sein aber ansonsten: Frische Ware für wenig Geld. Der Wedding, ein Ort, an dem sich jeder eine gesunde Ernährung leisten kann. Ein Paradies der Vitamine. Und das macht mich natürlich misstrauisch. So glücklich ich über eine Annanas für 99 Cent bin, in mir bohrt die Frage: Wie kann das möglich sein? Was können die, was Edeka nicht kann? Was ist ihr Geheimnis? Bei den Granatäpfeln und den Melonen bin ich ihnen dahinter gekommen. Die kommen mit großen Lastwagen direkt aus der Türkei, werden gleich vom Laster in Bretterkisten auf den Bürgersteig gestellt. Meist sehen sie den Abend nicht mehr, weil wankende kleine Frauen sie in dünnen Plastikbeuteln zu ihren Familien getragen haben. Aber die Apfelsinen? Wie geht das mit den Apfelsinen? Seit Wochen gibt es allerbeste saftige spanische Navelinas für 89 Cent das Kilo. Gute Orangen im Februar, mein Glück kennt kein Ende. Besonders weil der erfahrene Käufer in mir zu wissen glaubte, dass spätestens im Januar die Südfrüchte nichts mehr taugen, strohig und fade schmecken und zu meiden sind. Was ist da passiert in Spanien? Ist das der Klimawandel ? Ist das eine neue, genveränderte Sorte? Und wer pflückt die Früchte für die paar Cent und wer fährt sie für das Geld hierher? Der türkische Verkäufer sagte mir nur „billig im Großmarkt“. Na ja, und der Strom kommt aus der Steckdose. Ich weiß nur, dass es Massen an Apfelsinen geben muss – denn vor meinem Edeka steht jetzt auch eine große Kiste aus Spanien. 89 Cent das Kilo.

…oder kann das weg?

Ist das Kunst

„Jeder Mensch ist ein Künstler“, behauptete Joseph Beuys, der meines Wissens nie im Wedding war. Es würde ihn freuen zu sehen, wie hier seine emanzipatorische These jeden Tag aufs Neue belegt wird. Nicht in den Galerien, die sich langsam auch hier breit machen und die die ewig gleichen Acrylbilder und Schwarz-Weiß-Fotos zeigen. Echte Kunst kommt, wie alles im Wedding, von der Straße und lebt auch dort. Und wie sie lebt! Jeden Morgen kann ich auf dem Gehweg genießen, was anonyme Kreative über Nacht geschaffen haben. Zur Zeit sind medienkritische Werke en vouge. Grundbestandteil ist meist ein Röhrenfernseher, immer mit dem Bildschirm nach unten, und immer ist die Röhre zerbrochen und die einst wertvolle Elektronik im Umkreis zerstreut. Land Art? Dekonstruktion? Aktionskunst? Schwer einzuordnen, aber radikaler kann die Abkehr von der Verdummung durch die Konsum- und Mediengesellschaft kaum gezeigt werden. Oft wird diesem Grundwerk ein weiterer Aspekt in Form eines ausgedienten Polstermöbels oder einer zusammengefallenen Schrankwand hinzugefügt. „Schluss mit der bürgerlichen Gemütlichkeit!“,  schreit diese Skulptur einen an. Richtig so! Die Grenze der unerträglichen Provokation ist damit aber noch lange nicht erreicht. Radikale garnieren die Installationen mit Hundekot und Essensresten. Meist handelt es sich hier um Künstlerkollektive, die intiutiv zusammen arbeiten. Einer fängt mit dem allfälligen Fernseher an, die anderen folgen spontan. Ebenso spontan werden die Themen gewechselt. Nach jedem Einsatz der Berliner Stadtreinigung blühen neue Ideen. Die Fernseher werden ersetzt durch Teile von Waschmaschinen, Kühlschränken oder Teppichböden. Versöhnlichere Töne werden nur zu Jahresbeginn angeschlagen, wenn über Wochen abgelegtes Tannengrün sanft die schrillen Ensembles abdeckt. Diese gefühlvolle, menschliche Komponente berührt mich immer am meisten.

Thomas Morus hat in seiner Vision „Utopia“ vorhergesagt, dass die Menschen in der idealen Gesellschaft nur vier Stunden am Tag arbeiten müssten und sich den Rest des Tages mit Kunst und Philosophie beschäftigten würden. Er hat Recht behalten. Im Wedding arbeiten viele weniger als vier Stunden, Philosophen findet man an jedem Stehimbiss und die Kunst blüht!

PS: Mathias Eberling hat  auf Kreuzberg Südost einen Text von Philip K. Dick eingestellt, der die Schönheit der Straßenkunst sehr poetisch beschreibt und den Wind als Schöpfer mit ins Spiel bringt. Gefällt mir sehr.