Wie ein Pinselstrich im Gemälde der nächtlichen Stadt. Vertuscht verschwommen. Nur einen Augenblick sichtbar, und doch Teil des Gewebes. Wie ein blitzender Faden auf dem Lichtteppich der Straßen. Teil des Bildes und doch nichts Bleibendes. Unbemerkt und doch da. Auf einer geraden Bahn auf den nassglänzenden Straßen, die dafür gemacht sind ihn zu tragen und doch verloren im Gewirr. Zielstrebig aber doch an jeder Ecke neu entscheidend. Zwangsläufig aber doch frei.
Not to touch the sky, not to touch the sun. Nothing left to do but run run run…
In der riesigen Kulisse spielt er keine Rolle, aber ohne ihn wäre es ein anderes Stück. Das Theater ist da für ihn und alle andern. Es gibt keinen Dirigenten, aber jeder ist ein Ton in der Großstadtsymphonie. Jede Sekunde eine Uraufführung. Jeder ist ein Solist und der Star des Abends, solange er dabei ist.
Mein Osterei fand ich schon vor einer Woche im Briefkasten. Es war eine Überraschung, über die ich mich sehr gefreut habe: Matthias hat es nach drei Jahren geschafft, den dritten Band seiner Geburtstagsanthologie für Charles Bukowski „BUK 100“ herauszugeben. Damit hatte ich nicht mehr gerechnet. Das Heft ist wieder sehr schön geworden. Mit Texten von Bukowski himself , von seinen Weggefährten und von seinen modernen Adepten über das Schreiben und über Bukowskis Philosophie (Ja, er hatte eine, er hat auch klassische Musik gehört – es war nicht alles Sex and Drugs and Races, das war seine Kunstfigur Hank Chinaski). Die Geburtstagsausgabe mit ihrem groben Papier und dem einfachen Layout fühlt sich ein wenig so an wie ein echter Bukowski, der viele seiner Gedichte und Geschichten in den 1960ern erstmal in billig produzierten Underground-Magazinen veröffentlicht hat. Auch ein Bierdeckel mit einer Bukowski- Kalligrafie als Lesezeichen gehört zur liebevollen Ausstattung der Ausgabe. Passt!
Und noch ein Osterei habe ich gleich darauf gefunden – ich hatte es mir schon lange selber ins Nest gelegt: Nach seinen zwei ersten „BUK 100“- Heften, hatte Matthias mich gebeten, einen Text über mich und Bukowski zu schreiben. Und tatsächlich gibt es etwas, was den bitteren Poeten und mich verbindet: Der Geburtsort. Wir sind mit ziemlich genau 50 Jahren Abstand im gleichen kleinen Fachwerkstädtchen am Rhein geboren. Und hier ist der Text dazu:
Die Bukowski-Therapie
Es hat lange gedauert, bis ich Hank Chinaski begegnete. Erst als wir beide gleich alt waren, so Mitte 50 fing ich an, seinem Leben zu folgen. Aber dem echten Bukowski bin ich viel früher über den Weg gelaufen, oder sagen wir besser: Ich hätte ihm über den Weg laufen können – vor mehr als 40 Jahren, Im Mai 1978 in Andernach am Rhein. Er besuchte seine Geburtsstadt und ich ging dort zur Schule. Vielleicht sind wir uns wirklich begegnet, wer weiß? Für einen 17-Jährigen sehen alle Männer über 50 gleich aus. Andernach war damals eine Stadt mit einer alten Stadtmauer, einem Gymnasium für Jungen, einem für Mädchen und mit einer großen „Landesnervenklinik“, einem Haus für Menschen, die mit dem Leben draußen nicht klar kamen und in dem schon mein Großvater starb. Wen man bei uns sagen wollte, dass jemand verrückt war, dann hieß es: „Der gehört nach Andernach.“ Charles Bukowski gehörte nicht nach Andernach. Seine Bücher standen nicht in der Bibliothek, und im Englischunterricht lasen wir Stücke von Edward Albee. Bukowski war ja auch nicht verrückt. Er ist aus dieser Stadt abgehauen, so bald er konnte. Viel später, in Berlin, ziemlich zur gleichen Zeit als ich die Bekanntschaft mit Hank Chinaski und mehreren Nervenärzten gemacht hatte – von denen einige sehr nette Kerle waren – hilft mir Hank nicht verrückt zu werden. Mein Psychiater verzieht leicht angewidert das Gesicht, als ich ihm von Bukowski erzähle. „Destruktiv, reduziert, altes, unbefreites Männerbild.“, ist sein Kommentar. Er versteht nicht, dass Hanks Geschichten für mich entspannender sein können als die Pillen, die er mir verordnet. Aber warum kann gerade ein dirty old man mir helfen, mich in meinem bürgerlichen Leben zurecht zu finden? Vielleicht, weil er so aus der Zeit gefallen ist. Weil es Hank egal ist, wie er aussieht und welchen Eindruck er auf andere macht. Weil seine Welt überschaubar und seine Bedürfnisse klar sind. Wenn ich die Geschichten lese, fällt die Last der Welt von mir ab. Ich denke nicht mehr daran, was andere Menschen über mich denken könnten, wenn sie in meine Wohnung kommen, die nicht staubfrei ist. Ich kümmere mich nicht mehr um die Flecken, die vielleicht auf meiner Hose sein könnten und ich mache mir keine Gedanken darüber, wie ich korrekt auf Frauen zugehe. Weil es solche Gedanken bei Hank nicht gibt. Es gibt nicht die Frage, ob man den Müll in die richtige Tonne geworfen hat und ob man damit die Welt ein Stück besser gemacht hat. Es gibt nur Müll. Und er liegt in seiner Wohnung rum und er betrachtet ihn, beschreibt ihn, ohne dass er sich groß Gedanken darüber macht. Er schuldet der Welt nichts und er verlangt nichts von ihr. Er will nichts richtig machen, will die Welt nicht retten. Er will einfach nur über den Tag kommen, ohne dass er zu viele Nackenschläge abbekommt. Hanks kleiner Kosmos in South Hollywood, das Leben zwischen Post Office, Bars und Rennbahnen erscheint mir fast schon als Sehnsuchtsort. Eine Welt in die ich mich gerne flüchte, wenn ich in der wirkliche Welt von heute, einer Welt voller Selbstoptimierer und Instagram-Junkies, die Orientierung zu verlieren drohe. Bukowski bringt mich runter, wenn die Nerven flattern. Bei Woody Allen hat Humphrey Bogart in „Mach’s noch einmal Sam“ den Part des Lebensberaters für einen Stadtneurotiker übernommen. Bei mir ist es Hank. Er ist meine Beruhigungspille in aufgeregten Zeiten. Aber ich muss aufpassen, dass ich keine Überdosis davon nehme.
Schon oft habe ich mir auf diesem Blog Sorgen um ihn gemacht, dachte, er wäre ein Opfer der Klimakrise geworden und habe ihm sogar ein aufmunterndes Gedicht auf den Weg gegeben. Es sah wirklich schlecht für ihn aus, von draußen: die Farbe abgeblättert, die Auslage verstaubt und dann war auch noch auf einmal ein Ladenfenster leer geräumt. Aber man soll sich nicht von Äußerlichkeiten täuschen lassen. Und vor allem: Man soll nicht immer das Schlimmste denken. Und überhaupt: Wenn du denkst, es geht nicht mehr… Genau. Und so ist es auch hier ganz anders als befürchtet. Weder sind böse Kapitalisten im Spiel, noch wollen Hippster die Bude übernehmen. Es geht einfach weiter mit dem alten Laden, dem Laden mit den Madenautomaten, der so was wie ein Markenzeichen des Wedding geworden ist, und der bürgerlich „Angelhaus Koss“ heißt. Der Laden, an dem ich morgens immer auf dem Weg zur Arbeit vorbei komme. Und jetzt habe ich mich sogar getraut mal rein zu gehen und für unser Kiez-Magazin zu fragen, wies denn geht, und so. Und so einiges mehr. Und dabei habe ich viel darüber erfahren, dass Angler ganz anders sind als man denkt, dass das Internet nicht alle kleinen Läden kaputt macht und ich habe seit langem mal wieder einen sehr entspannten Menschen kennen gelernt: Alexander, den Mann hinter dem Madenautomaten. Der Herr der Fliegen, sozusagen.
Wird es weitergehen mit dem Angelhaus?
Ja, es wird weitergehen. Wir mussten einen Teil des Ladens räumen, weil das Haus grundsaniert werden muss. Es steht auf einer „Torfblase“. Das Gebiet wurde früher zum Torfstechen genutzt. Zuerst dachte man, dass das Haus komplett geräumt werden muss, aber jetzt könnten wir theoretisch wieder zurück in den alten Laden. Aber wir haben uns dafür entschieden, den Teil unseres Geschäftes, den für die Wetterkleidung, zu räumen und zu renovieren. Jetzt ziehen wir langsam hier rüber. Bis wir fertig sind, wird es noch eine Weile dauern. Aber wir werden wieder unser volles Sortiment anbieten: Angelgeräte, Wetterkleidung und Pokale.
Für einen leerstehenden Laden in der begehrten Gegend gibt es wahrscheinlich viele Interessenten.
Bei uns hat jeden Tag jemand nachgefragt, ob er den Laden haben kann. Ich habe auch nichts gegen die Veränderung im Kiez. Es gibt hier einen guten Zusammenhalt und man hilft sich untereinander.
Gibt es denn noch genug Kundschaft für einen so speziellen Laden?
Wir sind einer der wenigen Angelläden in Berlin, die noch durchhalten. Viele sind schon weggestorben oder haben aufgegeben. Unsere Kunden kommen aus ganz Berlin und Brandenburg. Der Beratung wegen. Aber auch, weil man eine Angelrute oder eine Spule in der Hand gehabt haben muss, bevor man sie kauft. Und wir sind sehr bekannt in Anglerkreisen in Ost- und Westberlin. Als die Mauer aufging, wussten die Angler aus dem Osten genau, wo sie hingehen mussten.
Wandern nicht immer mehr Kunden ins Internet ab?
Wahrscheinlich. Aber wir kriegen auch junge, neue Kunden, die sich YouTube-Videos angeschaut haben und dann genau die eine High-Tech-Rute haben wollen, die sie im Internet gesehen haben. Mit einem Stock, einer Schnur und einem Korken, wie wir damals angefangen haben, fängt heute keiner mehr an. Alle wollen Raubfische angeln und an verschiedenen Plätzen angeln. Mir ist das recht. Wenn die Youngster 300 Euro für eine Rute anlegen wollen, können Sie die bei mir bekommen. Aber wir haben auch günstigere Angebote. Einen echte Veränderung haben auch die Wetter-Apps gebracht. Wenn die Kunden sehen, dass es am Wochenende regnet, bleiben sie zu Hause.
Gibt es denn auch noch die schweigsamen älteren Männer, die sich alleine an den Kanal stellen – das alte Angler-Klischee?
Zum Angeln muss man nich Schweigen. Das ist ein Gerücht. Aber ja, es sind meistens Männer, die angeln. Durch alle Schichten hindurch. Arbeitslose, Sportler oder Ärzte. Aber es werden auch immer mehr Frauen. Gerade in der Coronazeit sind mehr Frauen gekommen. Die meisten angeln aber mit Ihrem Partner.
Kann man in Berlin überhaupt noch angeln?
Es wird einem schon schwer gemacht. Man muss eine Prüfung ablegen, um einen Fischereischein zu bekommen und braucht eine Angelkarte von dem Pächter des jeweiligen Gewässers. Für den Plötzensee werden seit vergangenem Jahr keine Angelkarten mehr ausgegeben. Man kann sich natürlich auch an das Ufer des Nordhafens stellen. Das mache ich auch manchmal. Aber wenn es Starkregen gibt, sterben die Fische in den Kanälen oft massenhaft, wegen der Abwässer, die in die Kanäle abfließen, wie neulich im Landwehrkanal. Dann ist der Kanal voll mit toten Fischen. Und in Brandenburg ist es im Sommer an den Seen schwer noch ein ruhiges Plätzchen zu finden, wegen der Badetouristen. Da kann man sich dann nur noch mit einem Boot weiter helfen. Angler haben eben keine gute Lobby.
Sie sind jetzt 63 Jahre alt. Wie lange werden Sie weiter machen?
Weiß nicht. Ich weiß nur: Wenn ich hier aufhöre, bin ich in einem Jahr tot.
Und den Madenautomaten, wird es den auch weiter geben?
Ja, er klemmt nur immer öfter, weil irgendwelche Leute Plastikscheiben oder Sonstwas in den Münzschlitz stecken. Und wir füllen ihn nur noch am Wochenende. Die Maden leben ja. Und bei der großen Hitze verpuppen sie sich schneller. Dann haben sie statt Köder irgendwann ganz normale Stubenfliegen in der Schachtel. Das sind oft ganz dicke Brummer.
Matthias hat mir geschrieben, dass er sich freuen würde, wenn ich auf sein drittes Buch zu Ehren des 100sten Geburtstags von Charles Bukowski hinweisen würde. Das tue ich gerne, denn ich habe schon die ersten beiden limitierten Geburtstagseditionen geliebt. Die anspruchsvoll gestalteten “Chapbooks“ aus Matthias Verlag Newington Blue Press bieten eine völlig neue Sicht auf den Poeten, der den meisten wohl vor allem als “dirty old man“ mit einer Bierflasche in der Hand bekannt ist. Bukowski war ein großer Briefeschreiber, der mit viel Humor andere Autoren zum Schreiben ermutigte, und einiges aus dieser Korrespondenz ist im Original abgedruckt. Daneben die Berichte von Weggefährten und neue Gedichte und Erzählungen, von Menschen, die sich von Bukowski haben inspirieren lassen. Eine Entdeckungsreise durch die Underground-Literatur von heute.
Aber es gibt noch einen Grund, warum ich Mattias Edition im Besonderen und Bukowskis Gedichte sowieso empfehlen möchte. Das ist ein Gedicht von Bukowski, das mir Matthias vor zwei Jahren unter einen Beitrag postete, den ich geschrieben hatte, als die erste Coronawelle vorbei war und ein wenig Licht am Ende des Tunnels sichtbar schien. Das Gedicht, geschrieben von einem Mann, der bis in seine 50er wenig Gutes vom Leben hatte, hat mich in seiner Zuversicht einfach umgehauen.
The Laughing Heart
«your life is your life don’t let it be clubbed into dank submission. be on the watch. there are ways out. there is a light somewhere. it may not be much light but it beats the darkness. be on the watch. the gods will offer you chances. know them. take them. you can’t beat death but you can beat death in life, sometimes. and the more often you learn to do it, the more light there will be. your life is your life. know it while you have it. you are marvelous the gods wait to delight in you.»