Hauptstadtprosa

Foto: Gerd Danigel aus der Ausstellung „40 Jahre Fotogalerie Friedrichshain“ https://fotogalerie.berlin/austellungen/aktuell

V: Wann ist der Elternabend?

M: Heute um 18 Uhr.

V: Dann bin ich halb sechs bei dir und passe auf die Jungs auf.

M: Wie kommst du?

V: Mit der S 8.

M: Die S 8 fährt bis Ende September nicht. Komm mit der S 1 direkt zur Schule. Dann kann ich dir die Autoschlüssel geben. Dann kannst du eine halbe Stunde chillen und dann die Jungs direkt vom Sport abholen. Schau aber nach ob die S-Bahn wirklich kommt. Mit der S1 bin ich gestern stecken geblieben. Hat drei Stunden gedauert. Stellwerkprobleme.

V: Die Jungs gehen zum Sport?

M: Ich bin mir nicht sicher, ob sie gehen oder wieder in ihren Zimmern rumgammeln. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen mit ihren Fahrrädern fahren.

V: Wenn die Jungs mit den Fahrrädern fahren, dann nehme ich auch das Fahrrad mit und komme zur Sporthalle, dann fahren wir zusammen zurück.

M: Bin mir gerade nicht sicher, ob sie die Räder nehmen. Nimm lieber das Auto.

V: Ich fahr nicht gern mit dem Auto. Und wie kommst du dann zurück?

M: Wird schon gehen, vielleicht mit dem Bus.

V: Fährt dann noch einer? Ich hab keine Lust, erst die Jungs und dann dich abholen zu fahren.

M: Du kannst auch mit der S-Bahn kommen und direkt zum Sport gehen und dann kommt ihr alle mit dem Bus.

V: Vielleicht will ja auch nur einer zum Sport. Dann komme ich mit dem Moped zur Sporthalle. Einen Sturzhelm hab ich für Hintendrauf.

M: Du kannst ja auch mit dem Moped zu mir kommen und ich nehme dich dann mit dem Auto mit zur Schule.

V: Und ich krieg die Schlüssel, hol die Jungs mit dem Auto ab und dann komm ich mit dem Moped zu dir zur Schule.

M: Auf das wacklige Ding steig ich nicht auf.

V: Ach komm! Wir haben doch schon ganz andere Touren miteinander erlebt.

M: Nein! Am besten kommst du mit dem Moped hierher und wir sehen weiter. Dann kommst du auch wieder zurück nach Berlin, wenn die S-Bahn nicht fährt.

V: Und wann? Ich brauche mindestens eine halbe Stunde zu euch.

M: Ich ruf dich noch mal an. Aber vergiss auf keinen Fall, drei Brötchen mitzubringen. Das ist unser Ritual nach dem Sport.

V: Mach ich ja nicht zum ersten Mal

M: Ich sag‘s ja nur…

A Farewell to Yoga #2

Tage drei bis fünf: Ruhig, nicht gut, nicht schlecht. Wenig Yoga und ein gutes Buch (Michael Degen: Es waren nicht alle Mörder, hab ich im Bücherregal hier gefunden). Spazieren gehen und über Vergänglichkeit nachdenken. Schön ist dieser Ort, in seiner bunt zusammengeflickten Einfachheit. Die Barracken aus DDR- Zeiten, die großen alten Bäume, das verfallende Bootshaus am See. Lange geht das hier nicht mehr. Die Betreiber haben es 30 Jahre lang geschafft, Aussteiger, Berliner Yogis, Jugendgruppen und Urlauber mit Wurst auf dem Grill nebeneinander leben zu lassen. Jetzt sind sie alt. Die großen Bäume vor dem Haus, in denen ich bei meinem letzten Fasten im Frühling noch die Hummeln brummen hörte, mussten schon gefällt werden. Es regnete schon immer wenig in den Klapperbergen, jetzt fast gar nicht mehr. Die Hütten sind morsch und im Dorf nebenan hat sich der „König von Deutschland“ versucht breit zu machen (Aber das Volk wehrt sich). Ein Trost ist die Gruppe. Einige kenne ich schon lange, denn ich mache das schon seit 10 Jahren, andere sind neu. Mit einigen kommt man ins Gespräch, andere wollen ihre Ruhe, aber alle sind freundlich und respektvoll zueinander. Alle helfen in der Küche (für Tee, Saft und Fastensuppe). Keiner spricht über seine Arbeit. Alle sprechen übers Essen. 🙂

Sechster Tag: Ich fang jetzt nicht an mit: „Überirdisch schöner Tag!“, oder so. Aber es war schon besonders. Bei vielen in der Gruppe merkte man heute entspannte Gesichter und Theo, mit dem ich gestern auf der Terrasse saß und der mir sein Leben erzählt hatte, meinte, der Tag sei zu schön, um heute mit dem Auto in die Sauna zu fahren. Tatsächlich war alles ganz strahlend hell und der Himmel blitzeblau und die Luft mild. Wir waren beide mit dem Rad angereist. 10 km waren es bis zur Sauna in der alten Mühle, flache Strecke, das konnte ja nicht die Welt sein. Aber unsere Muskeln kriegten keinen Schwung, keine Kraft mehr und der Mund war trocken. Es war eine Quälerei. Und blöderweise kamen mir bei der Schinderei die KZ-Häftlinge in Ravensbrück in den Kopf, die auch ohne was im Bauch Schwerstarbeit leisten mussten. Dieses Gefühl der Schwäche allein ist schon entwürdigend, das kann ich jetzt nachvollziehen. Da braucht es keine Schikane durch die Aufseher mehr. Eine Stunde haben wir über Holperpflaster und Sandpisten, vorbei am leeren Dorf-Konsum, durch die weiß blühenden Strauchalleen bis zur Mühle gebraucht. Aber wir haben es geschafft, ohne stehenzubleiben. Beim Zähne zusammenbeißen bin ich gut, übe ich jede Nacht.
An der Sauna waren schon die Andern, die mit dem Auto gefahren waren, und lobten unseren Heldenmut. Ich war erst einmal so erledigt, dass ich mich draußen auf eine Bank in die Sonne legte, bis das Leben in meinen ausgepumpten Körper zurückkam und sah dann zu, wie einer nach dem anderen aus der Sauna in den eiskalten See sprang. Nachdem ich mir einen kleinen Spaziergang gegönnt und mir Galloway-Kälbchen auf der Wiese angeschaut hatte, war ich wieder soweit, dass ich mich eine Runde in die Sauna trauen konnte. Ich wollte Teil der Vertrautheit sein, die durch den gemeinsamen Saunagang entsteht. Es war gut und die Haut prickelte danach im kalten See. Mutig entschieden wir uns, auch für die Rückreise die Fahrräder zu nehmen, obwohl wir sie hätten ins Auto stellen können. Es lief wunderbar! Neue Kraft, als hätten wir durch die Quälerei eine Barriere durchbrochen. Abends zurück setzte unser Yogalehrer sich zu mir auf der Treppe vor dem Gutshaus. Wir sprachen über Astralkörper. Und ich war sein geduldiger Schüler im goldenen Schein der untergehenden Sonne, die auf seine goldorange Jacke und unsere geröteten Gesichter fiel. Aber ich glaubte ihm kein Wort. Ich habe wirklich versucht ihm zu folgen in die Sphären der Phänomene, die sich nur in Sanskrit ausdrücken lassen, in seinen Glauben, dass Kali-Yuga, die Zeit der Verblendung, schon seit 300 Jahren seinen schlimmsten Punkt überschritten hat…. Aber ich merke, dass ihm dieser Glaube Energie gibt, die Energie, hier 20 Leute ohne etwas zu Essen, nur mit Lächeln, Rumpfbeugen und Mantrasingen eine Woche glücklich zu machen. Und das ist ja nicht Nichts.

Letzter Tag: Oh Gott! Bin ich energiegeladen! Bin seit heute Morgen um sechs Uhr unterwegs. Habe heute früh sogar die „Aufladeübung“ mit dem Lehrer im Freien und bei kaltem Wind hinter mich gebracht. Nach dem Abschied von der Gruppe und der Idylle in der Uckermark heute früh bin ich noch 20 km mit Gegenwind und Gepäck nach Fürstenberg geradelt. Hab wieder meinen Kräutertee im Bahnhofscafe getrunken (und die Frau hinter der Theke hat sich gemerkt, dass ich Honig in den Tee haben will!), habe zu Hause alle meine Sachen gewaschen (beim Fasten riecht man nicht gut), habe ein langes Bad genommen, habe und danach auch noch die Fotos, die großartigen, die ich von jedem und jeder in der Gruppe gemacht habe, sozusagen als Hoffotograf unseres Lehrers, bearbeitet und an die Anderen verschickt. Jetzt ist es 11 Uhr abends und ich komme nicht zur Ruhe. Ich bin biegsam wie ein junger Löwe und habe gerade auch mal keine Schmerzen nirgends. Schön! Ich hab keinen Hunger aber ich will essen. Beim Anblick von Knäckebrot werde ich sehnsüchtig. Aber sind erst die „Aufbautage“. Noch zwei Tage mit Süppchen Salat und Buttermilch, dann darf ich wieder richtig essen. Schlafen kann ich nicht, nicht daran zu denken! Ich mache das Handy an. Wikipedia, Suchbegriff: Yoga. Und da steht alles, alles, was ich bisher nicht verstanden habe. Ganz einfach erklärt. Wenigstens für eine Nacht bin ich erleuchtet – zumindest vom Display meines Smartphones.
Ein Farewell to Yoga, war diese Woche, zumindest von den sportlichen Übungen des  Hatha-Yoga. Aber ein Hallo zu Fasten, zu dieser Gruppe, die ein bisschen meine Familie geworden ist. Alles freiwillig, einmal im Jahr, immer ein paar Neue und immer ein paar Erfahrene. Und ich bin ein Teil davon.

A Farewell to Yoga #1

Erster Tag: Mal wieder Fasten und Yoga im Gutshaus.
Es ging leicht, diesmal, der Einstieg  ins Fasten zu Hause, neben den zwei letzten Arbeitstagen im Homeoffice. Mein Körper wusste schon, was ich von ihm wollte, aber zwischen Computerbildschirm und Sofa hing ich etwas matt in der Gegend herum (bis ich einen Flash bekam und innerhalb von zwei Stunden in meiner Ablage Frühjahrsputz machte). Die Sachen packte ich in der letzten Minute aber immerhin: kein Hunger, keine Sehnsucht nach Essen. Mit der Bahn und vollgepacktem Rad nach Fürstenberg. Von da sind es noch 20 Kilometer bis zum Gutshaus. Gleich in Fürstenberg nahm ich Platz auf eine Tasse Kräutertee im fröhlichen Bahnhofscafé, für das ich immer dankbar bin, dankbar für das kleine Stück Berlin in Brandenburg.  Auf dem Weg vorbei am KZ Ravensbrück wurde mir klar: Heute fährst du den geraden Weg, nicht den Auf-und-Ab-Weg durch den Wald, durch Himmelpfort an der Draisinenstrecke entlang, sondern die Autostraße, die beständig leicht ansteigt. Langsam mit wenig Kraft, aber kontinuierlich kam ich voran. Genau danach war mir, auch weil das Rad unter den Paktaschen verdächtig schwankte. Ich schaffte es tatsächlich, ohne zu schieben, bis auf den Hügel des alten Gutshofs, der zu DDR-Zeiten als Ferienanlage für ein Berliner Elektrowerk ausgebaut worden war. Japsend, aber stolz.  Und wurde empfangen von Christa, der großen, rothaarigen Hippiefrau, die ich schon von einigen Seminaren kenne. Ach je, was ich schon alles probiert habe…

Zweiter Tag: heute Morgen war ich spät dran. Um so gegen Neun stand ich auf den Stufen des Yogaraums und drehte wieder ab. Lieber ein Gang durch die Wiese und den Wald zum See. Auf dem Bootssteg brach der Himmel auf, und das Wasser wurde vom Wind unter mir her getrieben. Mit meinen zwei Jacken übereinander saß ich geschützt und der Wind konnte mir nichts anhaben. Ich sah alles wie zum ersten Mal, dabei war ich mindestens schon zehn Mal hier. Allein, oder mit den Jungs im Sommer.

Morgen werde ich früh aufstehen! Ich will bei den Aufladeübungen um halb sieben dabei sein. Denn das ist es, was allen den Jahren vom Yoga in meinem täglichen Leben übrig geblieben ist: In einer abgespeckten Version praktiziere ich sie jeden Morgen fünf Minuten. In Meditation werde ich nie reinkommen und bei den Asanas (Körperübungen) kann ich mit meinen zerfressenen Gelenken und zusammengeflickten Knochen nicht mehr mithalten. Denn fast alle um mich herum sind von unserem über siebzig Jahre alten Lehrer selber ausgebildete Yogalehrerinnen und einige Lehrer….(Wird fortgesetzt)

PS: Der Text ist ein kleines Experiment. Ich wollte über meine ereignisreiche Woche berichten, fand aber keinen Ansatz, der mich zum Schreiben gebracht hätte. Da habe einfach meine mit der Hand geschriebenen Tagebuchnotizen genommen, und sie in mein IPhone diktiert. Das ging erstaunlich gut und flott. Aber der Stil ist ein ganz anderer, als der, den ich sonst schreibe.
Die Idee kam mir, als ich sah, wie meine Jungs mit ihrem Telefon umgehen, wenn sie eine Nachricht schicken wollen: Sie tippen nicht mehr, sie quatschen mit dem Gerät. Beschränkt wird der Beitrag erst Mal durch die Technik, denn Apple lässt wohl nur 500 Wörter zu. Sagt mal, ob´s gefällt, dann werd´ ich morgen weiterdiktieren (hab ich schließlich noch gelernt (Punkt und Schluss).

Das andere Leben

Die Briefmarken gibt es hier in der Apotheke. Ich hatte gefragt, ob man in dieser Einkaufswagenburg aus Aldi, Rewe und dm, die um einen quadratischen Parkplatz gebaut wurde, irgendwo Briefmarken für die Weihnachtspostkarten kaufen kann. „Ne, weiß ich nicht. Weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal eine Postkarte geschrieben hab.“, sinniert die Apothekerin jovial. Dann greift sie unter den Ladentisch und holt eine Rolle Marken hervor. „Aber ich kann ihnen ein paar von unseren geben. Aus der Portokasse, sozusagen. Wieviel brauchen sie denn?“. So ist das hier. Die Bedürfnisse werden von Aldi, Rewe und dm und der Tankstelle völlig befriedigt. Was es hier nicht gibt, braucht hier keiner. Etwas anderes gibt es sowieso nicht. Oder doch? Es gibt noch einen Rewe auf der andern Seite der Bahn, und einen Norma, und vorne an der Kreuzung, neben dem Rathaus und der Schule und der Mehrzweckhalle gibt es Kaufland (und einen Post-Shop, das weiß ich inzwischen) und Rossmann und ein paar Dekoläden. Ich bin im Speckgürtel von Berlin.

Seit zwei Wochen wecke ich die Kinder um halb sieben, scheuche sie die Treppe runter. Zwei fahren Rad, einer mit dem Bus. Wenns gut geht. Danach an den Laptop, mit dem ich hier ein provisorisches Homeoffice aufgebaut habe. Die versehrte Mutter hat sich noch mal hingelegt um das geschiente Bein zu schonen. Wenn ich zumeiner Zahnärztin nach Kreuzberg will, bin ich eine Stunde unterwegs, zur Arbeit auch. Reine Fahrzeit, wenn die S-Bahn mal kommt. Ich lerne wieder Auto fahren. Um die Kinder zu kutschieren. Zum Sport, und wenn einer partout nicht radeln will im Dunkeln. So ein Leben wollte ich nie. Jetzt muss es sein. Hatte ich je ein anderes? Vermisse ich den täglichen Rausch auf den überfüllten Straßen des Wedding? Die Dönerbuden, Asialäden, den Park, die vielen kaputten, die verrückten und die vielen anderen Leute? Den täglichen Kick auf den Fahrradstreifen beim Überlebenstrrainig auf dem Weg zur Arbeit? Das Yoga in Mitte?

In rosa Gartenschuhen bringe ich die Restmülltonne an den Straßenrand. Der erste meiner Jungs kommt mit dem Rad angeflogen, zurück von der Schule. Er ist freundlich, obwohl es heute Morgen großes Gezeter gab. Drei Speichen sind gebrochen. Ich baue das Rad aus und fahre zum Radladen, der neben dem anderern REWE liegt. Ist morgen fertig. Auf dem Rückweg kaufe ich ein Kilo Brot bei Steinecke. 6, 50 Euro für ein Kilo, geschnitten. Inzwischen kenne ich die Preise und es schmeckt halt wie es schmeckt und morgen brauchen wir schon wieder eins. Bei mir hielt das Bio Brot von der hippen Hansi Bäckerei eine Woche. Irgendwie liebe ich es zu funktionieren und bei allem Geschrei und Gezeter gebraucht zu werden.

Nach Hause fahrn

Warum habe ich nicht gefragt? Es hätte sich sicher jemand gefunden, der mich mitgenommen hätte. Aber ich bin es nicht mehr gewohnt, um Hilfe zu bitten. In Berlin schon gar nicht. Da ist sich jeder selbst der nächste. Dabei war ich wirklich in Eile. Die S-Bahn hatte uns mal wieder in der Dunkelheit am abgelegensten Bahnhof ausgespuckt. „Weichenstörung“, war diesmal die wenig originelle Ausrede. War die Strecke nicht schon Monate zuvor gesperrt gewesen, weil angeblich neue Weichen eingebaut wurden? Egal. Stumm und ergeben trabten wir vom hell erleuchteten Bahnsteig ins dunkel dräuende Nichts Brandenburgs. Glück hatten die, die sich von einem Auto abholen lassen konnten. Partner erschienen mit geübter Routine am Ende der Treppe. Trostlose Innenbeleuchtungen funzelten auf und zeigten müde Gesichter, die sich nichts mehr sagen brauchten. Und doch waren es Lichter der Hoffnung. Wer hier einstieg, würde bald zu Hause sein. Warum habe ich nicht gefragt? Eine kleine Gefälligkeit? Ich hätte sagen können „Ich muss schnell nach B. Die Mutter meiner Kinder hat sich den Fuß gebrochen und sitzt jetzt im Rollstuhl. Drei Kinder springen herum und warten darauf, von ihrem Vater ins Bett gebracht zu werden.“ Das hätte den skeptischsten Speckgürtelbewohner weich werden lassen – und es wäre noch nicht mal gelogen gewesen. Als Beweis hätte ich meine zwei schweren Taschen zeigen können, in denen ich das Nötigste für die kommende Woche und mein komplettes Homeoffice verstaut hatte. „Grab your things. I gonna take you home, back home.“ Die Zeile von Peter Gabriels „Solsbury Hill“ ging mir schon seit Tagen durch den Kopf. Jetzt wusste ich, warum. Pop-Orakel nenne ich das. Ein Lied taucht auf, geht mir nicht mehr aus dem Kopf – und irgendwann wird klar, was das Lied mir sagen will. Manchmal ist es dann zu spät.

Also auf nach Hause. Mein neues zu Hause? Sechs Wochen mindestens, hatte der Arzt gesagt, wahrscheinlich länger dauert es, bis der Fuß wieder belastbar ist. Und danach? Wer weiß, ob wieder alles beim alten ist. Drei Kilometer Luftline sind es zu meinem neuen Heim und meinem neuen Job als Krankenpfleger, Haushaltshilfe und Gouvernante. Aber es gibt keinen Ersatzbus und bis zum Linienbus ins nächste Dorf sind es zwei Kilometer. Und wer weiß, wann der fährt und ob? Also gleich weiter. Zu Fuß mit schwerem Gepäck.

Was mich so klaglos laufen lässt, ist die Erinnerung an den Sommer, als ich vor lauter Übermut mit dem Rad hier durch die Wiesen streifte und eine Abkürzung über die Weiden fand. Überlegenes Wissen, Aussicht auf ein kleines Abenteuer und die Überraschung, es trotz aller Widerstände doch noch rechtzeitig zu schaffen, um die Medikamente aus der Apotheke zu holen, ließen mich von der Allee in den sumpfigen Seitenweg einbiegen. Allerdings war da jetzt ein weißes Band, wie von einem Elektrozaun vor den Weg gespannt. Das war im Sommer nicht da. Auch scheint mir der Weg enger als ich ihn in Erinnerung hatte. Aber er führt genau auf das kleine Wäldchen zu, an dem ich damals von der Straße abgebogen war. Im Halbdunkel schnaubt ein Pferd und kommt erwartungsvoll auf mich zugetrabt. Ich habe keine Angst vor Pferden, vor allem nicht, wenn sie hinter einem Zaun stehen. Aber Pferde gab es im Sommer hier auch nicht. Und dann stehe ich vor dem Fließ. So nennt man die sumpfigen Wasserläufe, die hier den Boden entwässern. Ein paar hundert Meter weiter ist die Straße, auf die ich wollte, aber es ist kein Durchkommen. Der Weg läuft weiter am Wasser nach Norden, zurück zur Bahn. Meine Arme werden langsam lahm von den Taschen. Pferdemist klebt an meinen Schuhen. Da kommt ein Licht auf mich zu. Gleißend und blendend. Automatisch sage ich „Guten Abend“ zu dem Licht und der Gruß kommt als Echo zurück. Dann ist es wieder dunkel und ich sehe vor einem eisernen Gatter. Ich will noch nicht aufgeben und mache mich an dem Bolzen zu schaffen, der als Verschluss dient. Schließlich komme ich vom Land und kenne die Dinger. Da wird es hell. „Was machen sie da?“ fragt mich das Licht. „Ich muss nach B.“, sage ich. Die S-Bahn hat mich hier rausgeworfen.“ Als sei das eine Erklärung dafür, dass ein Mensch mit Büroschuhen, langem Wollmantel und zwei Taschen nachts vor einem Pferdegatter steht. „Da war eine Absperrung vor dem Weg“, murrt das Licht hinter dem ich, nachdem meine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt haben, eine blonde Pferdefrau entdecke. Reiterhosen, Stiefel, Daunenjacke. Ich schweige wieder. Und wieder könnte ich die Geschichte mit dem Rollstuhl und den Kindern erzählen. Aber da hat die Pferdefrau schon das Gatter geöffnet. Das sei ein Pferdezuchtbetrieb erklärt sie streng, da dürfe nicht jeder herumlaufen. Doch es scheint ihr lieber zu sein mich über das riesige Betriebsgelände zur Straße zu lotsen, als mich über die Pferdekoppeln zurück zu schicken. Als ich in B ankomme steht schon ein Nachbar vor der Tür. Er hat die Medikamente geholt, bevor die Apotheke zugemacht hat. „So ist das hier auf dem Dorf.“, doziert er stolz. „Man hilft sich ohne zu fragen.“

Herrentage

Als ich den Friseurladen Almaya betrete, sagt mir keiner „Guten Tag“. Ein Friseur ist mit einem. Kunden beschäftigt und summt leise die Worte des melancholischen arabischen Liedes nach, das durch den Raum dudelt, der andere sitzt auf einem Frisierstuhl und schneidet sich selber den dunklen Bart. Ich war lange nicht mehr hier. Der Laden hatte lange zu. Jetzt hat er mit neuen Leuten und neuer Einrichtung wieder eröffnet. Alles etwas protziger als vorher. Dunkle Stühle mit dicken Metallbeschlägen aus billigem Gold-Imitat. Eine Mischung aus Art-Deco und World of Warcraft. Ich setze mich auf das üppige Ledersofa und warte bis der junge Barbier mit seinem Bart zufrieden ist. Zeitungen gibt es nicht mehr, stattdessen liegt ein Zettel mit QR-Code auf dem Tisch. Endlich zieht er sich seinen Frisierumhang vom Hals und bittet mich auf seinen Stuhl. Endlich das Gebrumm der elektrischen Schneidemaschine auf meinem Kopf und die Hoffnung auf eine kleine Massage mit kühlem Haarwasser zum Abschluss. Endlich bin ich wieder in meinem Viertel, bei Männern, die es für ein bisschen Geld gut mit mir meinen. Gestern war ich auch unter Männern, beim Herrentagsausflug in Zühlsdorf in Brandenburg. Nur fünf Kilometer jenseits des Berliner Autobahnrings, aber in einer anderen, sonnenbeschienen, feindlichen Welt. Dabei hatten wir Glück. Nach einem langen Gezeter mit meinen Jungs waren wir mit unseren Freunden mit nur einer Stunde Verspätung zu unserer Radtour aufgebrochen, hatten uns auf dem unbefestigten Weg durch ein Sumpfgebiet über Stock und Stein gequält und tatsächlich eine offene Gaststätte an einem Bahnhof gefunden, vor der laut lachende Männer in Gruppen auf Bierbänken gegrillte Haxen und Würste aßen. Ein Vatertagsidyll. Aber Freude wollte bei uns nicht aufkommen. Nicht nur, weil es keine Pommes gab, auf die die Jungs sich während der Fahrt gefreut hatten, nicht nur, weil es natürlich in einer Brandenburger Vatertagskneipe kein vegetarisches Menü gab, wie mein Freund es erhofft hatte, sondern weil wir zuvor die breit ausgebaute Dorfstraße unter einem Spalier von AfD-Wahlplakaten entlangfahren mussten. Jeder dritte Mann hier wird im Juni zur Europawahl rechtsradikal wählen. Nur einigen von ihnen sah man an, dass sie sich von unserer Gesellschaft verabschiedet hatten. Grimmig dreinblickende Kerle mit Bärten oder Tatoos, oder beidem. Wenn man es romantisch sehen wollte, wozu man als Städter auf Landpartie neigt, würde man sie als Waldschrate oder Holzknechte sehen wollen, die nun mal hier am Rande der Schorfheide leben. 30 Kilometer stadteinwärts würde man sie korrekt als „Menschen die als Mann gelesen werden wollen“ bezeichnen. Sie selber schreiben sich ihr Mannsein lieber in Fraktur auf die Haut, damit es keine Diskussionen gibt. Aber erschreckender war die Vorstellung, dass auch die andern, die mit dem Rad oder mit dem Kremserwagen angereist waren, die scherzend wie kleine Jungs mit der Bedienung flachsten und von ihr genauso bestimmt und jovial zurechtgewiesen wurden, ihr Kreuz in einem Monat bei den Nazis machen werden. Es gibt in der Verfilmung von „Cabaret“ mit Liza Minelli eine Szene in einem sonnigen Biergarten, in den sich die Berliner an einem Sommertag verlustieren. Und in diesen Biergarten kommt eine Gruppe HJ in Uniform und singt ein deutsches Lied. Der ganze Biergarten applaudiert ihnen. Die AfD singt nicht. Aber sie bekommt stillen Applaus, der auf dem Wahlzettel sichtbar werden wird.

Der arabische Friseur hat sein Werk vollendet. Der arabische Sänger klagt immer noch aus den Lautsprechen, mäandernd wie ein gregorianischer Choral. Der schüchterne Lehrjunge fegt die Haare zusammen, die ich lassen musste. Meinem Kopf geht es besser. Nur das Finale fehlt noch. Ich deute auf meinen Kopf und sage „Haarwasser“. „Waschen?“, fragt mein Friseur. „Nein, Parfüm“, erkläre ich. „Ach so, Aftershave“, lacht er, besprüht mich mit etwas Kühlem, das gut riecht und massiert es in meine Kopfhaut ein. Es tut gut, verstanden zu werden.

Oh wie schön ist Brandenburg

Wir hatten einen Plan. Einen bescheidenen Plan, wie ich finde. Zwei Tage Hamburg sollten es sein. Ein ordentliches Hotel, ein bisschen Zeit zusammen und keine Kinder. Die Großmutter war als Babysitterin geordert und ihre bissigen Bemerkungen darüber, dass wir zwei, nach Jahren der Trennung mal wieder ein Wochenende gemeinsam verbringen hätte es gar nicht gebraucht, denn es wurde natürlich nichts draus. Und ehrlich gesagt, hatte ich auch nicht wirklich daran geglaubt.
Drei Tage vor Abreise kriegte der Älteste Fieber und Husten, was bei ihm keine Seltenheit ist. Aber dass es eine Woche nach den letzten Fieber und Husten-Tagen wieder los ging, erstaunte uns dann doch. Aber als dann am Tag zwei vor der Abreise der Corona-Test ganz leicht hellblau wurde, war auch dieses Rätsel gelöst und statt an der Elbe zu spazieren hingen wir am Telefon und Computer, um der Großmutter abzusagen, dem Hotel abzusagen, die Bahn-Tickets zu stornieren und den Traum von ein paar unbeschwerten Stunden, wie das meine Eltern, die ich jetzt viel besser verstehe, es genannt hätten, zu begraben. Tschüüs Hamburg, willkommen Berliner Speckgürtel. Denn dort steht das Haus, in dem meine Söhne mit ihrer Mutter wohnen. Ich schnappte mir mein Fahrrad, klingelte vor der Tür und war entschlossen, trotzdem ein wildes Wochenende zu verbringen. Wenn nicht mit der Mutter, dann mit den Söhnen. Wenn man sich nur genug anstrengt, dann hat die sandige Mark Brandenburg sogar Geheimnisse zu bieten. Geheimnisse, die es zu erforschen gilt. Ein Dammwildgehege, einen Sumpf oder ein altes Gasthaus, das nur per Boot oder über einen versteckten Schleichpfad hinter der Autobahnbrücke zu erreichen ist.
Wenn es nicht regnet. Den lange vermissten Brandenburger Landregen, der ab Mittag in wuchtigen Wellen gegen die Isolierglasfenster prasselte. Sogar der automatische Rasenmäher hatte sich in seine Dockingstation verkrochen.

Schön eigentlich, ein Wetter um sich mit einer Zeitung und einer Tasse Tee melancholischen Gedanken hinzugeben, aber eine Katastrophe, wenn man drei Jungs zu Abenteuern vor die Tür locken will, weil sie Bewegung und frische Luft brauchen. Ja, richtig gelesen: Drei! Denn dem einstmals hustenden Corona-Sohn ging es natürlich wieder prächtig, so prächtig, dass er mit seinen Brüdern das durch den Regen von der Außenwelt abgeschlossenen Einfamilienhaus in ein Tollhaus verwandelte, wenn sie sich nicht in ihren Betten mit dicken Büchern verbarrikadierten. Am Ende half nur Bestechung. Den Weg zur dörflichen Eisdiele, in der das einst üppige Angebot um die Hälfte reduziert war und in der lange Listen darüber berichteten, wie teuer die Zutaten geworden waren, wurde zwischen zwei Schauern geradelt. 1,80 EUR eine Kugel Eis. Als ich nach Berlin zog, war es mal gerade eine Mark. Die Kinder waren glücklich, aber nicht so glücklich, dass sie sich abends ohne Widerpruch in ihre Betten getrollt hätten, in denen sie schon den halben Tag verbracht hatten. Irgendein Streit über die Spielzeit auf der Konsole brachte einen der Zwillinge so sehr auf, das er noch um halb 12 Uhr wach war. Danach legte ich die Streitschlichtung in die gottergebenen Hände der Mutter und versuchte im Keller zu schlafen.
Der Sonntag wenigstens machte seinem Namen alle Ehre. Aber die Jugend blieb unbeeindruckt vom blauen Himmel, der sich über sattgrünen Wiesen spannte. Immerhin den Jüngsten lockte ich aus dem Haus zum Brötchenholen. Aber der Aufbackbäcker neben dem Norma-Discounter hatte das lange Wochenende genutzt, um dem Brandenburger Elend zu entfliehen. Wer kann’s ihm verdenken? Immerhin erspähte mein geübtes Berliner Auge in der Ferne einen Dönerladen, der morgens um 10 Uhr seine Türe offen hatte. Ein frisches Ekemek-Fladenbrot ist auch eine Beute, die man von einem Jagdzug mit dem Sohn durch die Brandenburger Wildnis als Trophäe mitbringen kann. Der Kleine kriegte vom Dönermann auch noch einen Lolli und es kam das für einen Mann erhebende Gefühl in mir auf, in so einem menschenleeren Landstrich genug erbeutet zu haben, um meine Familie zu ernähren. Doch zurück zu Hause fand sich keiner, der die frisch erlegte Strecke zu würdigen wusste. Träge krochen die Halbtoten der nächtlichen Diskussionsschlachten gegen 11 Uhr ihren Betten. Und als auch gegen Mittag noch nicht die ganze Familie am Frühstückstisch saß, keimte in mir und der Mutter meiner Kinder der verwegene Gedanke auf, die ganze undankbare Brut einfach für ein paar Stunden mit ihren Büchern alleine zu lassen und das einsame gutbürgerliche Gasthaus, das ich mit den Jungs erradeln wollte, einfach zu zweit zu besuchen. Letzte Reste elterlicher Fürsorge ließen uns an unseren Jüngsten denken, der alleingelassen von seinen großen Brüdern in die Zwickmühle genommen werden würde. „Aber ich will eine Pizza!“, machte er zur Bedingung für unsere Rettungsaktion und ich war schon bereit, den Nachmittag an den schäbigen Alutischen im Vorraum eines Pizza-Services zu verbringen, als ich die Mutter mit einer aus der Verzweiflung genährten Kaltblütigkeit lügen hörte: „Der Weiße Schwan ist eine Pizzeria, der hat nur einen deutschen Namen.“

Diese kleine Lüge war der Schlüssel zum Paradies. Wir entdeckten den Schleichpfad, der hinter den Bahngleisen des Henningsdorfer Stahlwerks verborgen liegt und fanden uns auf einer Zeitinsel. Ein Haus wie aus Kaisers Zeiten mit einem Biergarten, der von alten Kastanien überschattet wurde. Drinnen gab’s Spitzendeckchen, viel Verschnörkeltes und eine freundliche Kellnerin. Auf der Speisekarte stand nicht viel mehr als Schnitzel mit frischen Pilzen und Eierkuchen. Aber das war genau das, was wir wollten. Ein riesiger Eierkuchen für den Kleinen. Einen Eierkuchen, wie ich ihn seit meiner Kinderzeit nicht mehr gesehen hatte. Mit Zimtzucker und Apfelmus. Von Pizza war keine Rede mehr. Hinterher sammelten wir Kastanien und verfütterten sie an die Ziegen auf der Koppel hinter dem Haus. Große Ziegen, so große Ziegen, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Sie waren verrückt nach den Kastanien und unser Kleiner traute sich, sie sich von der flachen Hand wegknabbern zu lassen. Sogar die Sonne kam für einen Moment durch die Wolken und wir wärmten uns in den Strahlen.

Zurück zu Hause hatten die Zwillinge unsere Abwesenheit nicht mal bemerkt.
Vielleicht sind wir in Wirklichkeit auch nie weg gewesen.