Berliner Folklore

Manchmal mag ich es, wenn zwischen mir und der Welt etwas ist, was uns voneinander fern hält. Heute ist es die große, dicke Glasscheibe in denn‘s Biosupermarkt. Wunderbar teilnahmslos schaue ich durch die Scheibe auf das tägliche Defillee der Versehrten und Verhärmten, der Humpelnden und Tanzenden, der Bunten und der Grauen. Es muss mich nichts angehen. Ich darf meinen Kaffee trinken und mich über meine Rechnung ärgern und mich wunderbar geborgen fühlen, in der klimatisierten sterilen Umgebung des wohltemperierten Überflusses. Schön ruhig ist es hier auch. Vom Verkehr auf der vierspurigen Müllerstraße kriegt man nichts mit. Denkt man, aber ich merke es doch, als es draußen keine Autos mehr gibt. Ein Polizeiwagen hat sich quer gestellt. Ein dicker Beamter und seine dicke Kollegin unterhalten sich gemütlich vor dem Wagen, auf dessen Dach eine grüne Fahne weht. Grüne Fahne heißt: Was Offizielles. Poliziekolonne, Staatsbesuch oder ne Demo. Da fällt mir ein, dass es heute ja der Tag ist, an dem traditionell Beamte aus dem ganze Bundesgebiet in Hunderterschaftsstärke ihre Kolleginnen und Kollegen in Berlin besuchen kommen. Jeder Beruf hat so seine Folklore. Und da kommen auch schon die blau-weißen Mercedes-Busse mit den schwarz getönten Scheiben. Zuerst kommen etwa zehn mit NRW-Kennzeichen und drehen artig eine Wende vor meiner Nase. Dann kommt Fußvolk mal mit martialischem Barret, mal mit freundlichem Basecap, aber immer zu dick angezogen für den freundlichen Frühlingstag und immer in schwarz mit Nummer auf dem Rücken. Früher gabs mehr Grün und mehr Helme. Interessiert mustere ich die bunten Landeswappen auf den Oberarmen. Langsam wäre es Zeit für einen Spielmannszug oder ein wenig Tanz. Und weil das Wünschen wieder geholfen hat, kommt ein Lautsprecherwagen von einer Leihfirma mit Boxen drauf. Schrammelige Antifamucke wird gedröhnt. Es könnte interessant werden. Ich verlagere meinen Platz nach draußen. Neben mir am Tisch nimmt eine Frau mit einer Schale Bulgur vom türkischen Laden nebenan Platz. Wir grinsen uns an: „Beste Plätze“ sagt sie. Auch bei der Tanzgruppe, die dem Wagen folgt, ist schwarz die vorgegebene Kleiderfarbe. Ein wenig verschlissener, nicht ganz so dick aber ebenso unpassend für die Witterung. Palästinensische Fahnen werden getragen. Aber ein freundlicher Vierfarb-Flyer-Verteiler klärt uns auf, dass es um Frieden geht. Frieden den Parkbänken, Kampf den Luxuswohnungen. Mir fällt auf, dass ich vor einem Neubau sitze, der außer einem überteuerten Bio-Laden weitere überteuerte Mikro-Appartments behaust. Nach hergebrachtem Brauch müssten jetzt Farbbeutel auf die Glasscheiben des Gentrifizierungssymbols fliegen, doch diese liebe Tradition hat die junge Generation zu üben vernachlässigt. Dafür werden über Generationen überlieferte Sprechgesänge skandiert. Geläufig ist mir der mit der internationalen Solidarität, die hoch ist oder hoch gehalten werden soll, der poetische Text ist da grammatisch nicht eindeutig. Auch wird nicht gesagt, von wem. So ist das mit der Volkskunst. Und dann ist es auch schon wieder vorbei. Ein wenig enttäusch schaue ich meine Nachbarin an. Die hat aufgegessen und verabschiedet sich gut gelaunt. Ich bleibe, bis sich die Nachhut der Gäste mit brandenburgischem Landeswappen und die Motorradstaffel verzogen haben. Eine Leere macht sich in mir breit, als ich zu meinem Moped stapfe und innerlich hoffe, dass keiner der gelangweilten Polizisten auf den Gedanken kommt, daran eine Verkehrssicherheitskontrolle vorzunehmen. Aber selbst das würde ich in Kauf nehmen, denn es würde mir das Gefühl geben, dass alte Bräuche, die ich noch aus meiner Jugend kenne, weiter gepflegt werden. Und das gibt einem Sicherheit in Zeiten wie diesen.

Friedenspflicht

“Morgen ist Feiertag.“, sagt mein Friseur. „Deutsche Einheit“. „Deswegen bin ich hier.“ , sag ich, erstaunt über so viel staatsbürgerliche Bildung in einem arabischen Laden. „ Morgen muss ich schick sein, ich geh auf die Demo.“ „Ah, Demo, prima. Was für eine?“ „ Gegen Raketen in Deutschland und gegen mehr Waffen für die Ukraine“ „Alles klar!“, grinst mein Figaro und geht mit seinem freien Arm einmal über die Köpfe seiner vier Kollegen, der Männer auf den Frisierstühlen und des Lehrjungen. „Wir kommen alle mit.“ Er hat gute Laune und spinnt die Sache weiter: „Ist das mit Auto?“ „Nee“, sag ich. „Zu Fuß“. „Ah, das ist mir zu anstrengend, da bleib ich lieber im Bett.“ „Kannst auch mit dem Fahrrad kommen.“ „Da muss ich mir erst mal ein Fahrrad kaufen. Ich komm mit E-Roller. Ist das ok?“ Er ist jetzt fertig mit meinem Haaren. Jetzt sind die Ohren dran. „Soll ich die versengen?“ Ich zucke kurz, wegen der Wortwahl, weiß dann aber was er meint und nicke. „Feuer!“, ruft er durch den Laden und der schüchterne Lehrjunge bringt ihm ein Einmalfeurzeug. Es klickt ein paar mal. Viele kurze Flammen lecken in meine Ohrmuschel. Dann kommt er mit einem Gerät, das aussieht wie eine gläserne Laserpistole. Vorne leuchtet sie blau. Der Friseur drückt ab. Doch statt eines tödlichen Laserstrahls trifft mich eine Wolke von Aftershave und nebelt mich ein. „Ist auch ne Waffe.“, lacht er. Für die Demo bin ich jetzt gut gerüstet.

Falsche Friedensfreunde?

War es doch die falsche Demo? Endlich hatte ich mich samstagmorgens durchgerungen, gegen den Krieg auf die Straße zu gehen, da kriege ich abends von den Nachrichten um die Ohren gehauen, dass da die falschen Leute waren. Doch wieder falsch gemacht?
Ja, so richtig wohlgefühlt habe ich mich nicht bei der Demo, zu der Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer aufgerufen hatten. „Überwiegend lebensältere Menschen“ waren da, sagen die Nachrichten und soweit teile ich die Einschätzung. Überwiegend alte Männer, würde ich ergänzen. Die alten Meckerköppe, Besserwisser und sonstige Graubärte. Ein bisschen wie auf der Rosa-Luxemburg-Demo Ende Januar. Es wurde die linke Zeitung „Junge Welt“ verteilt, deren Schlagzeilen so jung sind wie die Männer um mich herum. Es fehlten nur die Kirchenleute, und es hätte es ein Klassentreffen meiner Generation sein können, die ‘83 in Bonn im Hofgarten für atomare Abrüstung demonstriert hat. Viele Fahnen mit Friedenstauben und die einzige Parole, die von den meisten mitgerufen wurde war „Frieden schaffen ohne Waffen“. Wie damals. Aber damals war Frieden – oder zumindest kein heißer Krieg in Europa. Es ging es darum, dass die Regierungen glaubten, dass der Frieden nur durch immer stärkere und immer mehr atomare Waffen erhalten werden konnte. Heute ist es vorbei mit dem Frieden. Russland hat die Ukraine überfallen. Und da klingt das schräg. „Wenn man angegriffen wird, und sich nicht wehrt, dann ist das kein Frieden sondern Besatzung.“, steht auf einem der vielen Mahnmale vor der russischen Botschaft. Ganz ehrlich: Ich bin froh, dass die Ukraine erfolgreich Widerstand geleistet hat. Denn nur deshalb kann ich mir jetzt auf der Straße unter den Linden einen zerstörten russischen Panzer anschauen. Und irgendjemand hat sogar daran gedacht an den Panzerketten ein Schild und Kerzen aufzustellen „Wir trauern um alle Toten des Krieges“. Denn auch wenn ich froh bin, dass der Panzer es nur als Schrotthaufen nach Berlin geschafft hat: In dem Schrotthaufen sind auch Menschen gestorben. Russen.
Auf der Kundgebung später sehe ich auch noch ein paar jüngere Menschen, mehr Frauen und weniger alte Zausel. Heftige Diskussionen: „Geht doch zurück in eure Scheiß-DDR!“, schreit ein sonnenbankgebräunter Mann in weißer Daunenjacke ein paar grau gekleidete Herren an. „Wenn für euch eh immer nur die Amis an allem Schuld sind.“ Tatsächlich konnte auch bei den Reden von der Bühne den Eindruck haben, dass es darum ging, die Rolle Amerikas zu kritisieren. Der Krieg habe schon 2013 angefangen, mit einer von der USA geplanten Entmachtung des ukrainischen Präsidenten Janukowitsch, wird da von einem US-Amerikanischen Professor steil behauptet. Das ist mir zu platt. Und endgültig abgehauen bin ich, als die Pfiffe kamen, gegen das Verbot, die Flaggen der Russischen Föderation zu zeigen – was aber nur wenige getan haben. Dafür gab es Deutschlandfahnen, was ich auf einer Friedensdemo noch nie gesehen habe. Und unter den Fahnen standen die Pfeifen. Und wenn man ganz genau hinschaute, dann waren bei einigen in das Schwarz-Rot-Gold ein Adler eingedruckt, ob’s der russische war, oder der des deutschen Kaisers konnte ich nicht erkennen. Das ist so die Art der Nazis, mit Verboten umzugehen. Warum er pfeife, frage ich einen feisten Mann in meinem Alter. „Darüber will ich nicht diskutieren.“, grinst er mich an und verschränkt die Arme. „Dann sind sie hier falsch“, gebe ich ihm zurück. Der will keinen Frieden, mit niemandem. Aber in Wirklichkeit bin ich hier falsch. Ich hätte ja auch gestern demonstrieren können, mit den Ukrainerinnen und Ukrainern. Aber ich will mich auch nicht unter die Fahne der Ukraine stellen, deren Vertreter von einem Siegfrieden auf der Krim träumen. Mich fröstelt. Ich gehe im Schneegestöber gegen den Strom der Demonstranten zurück. Vorbei gehe ich am sowjetischen Ehrenmal, an dem seit 1945 die Panzer stehen, die Berlin von den Nazis befreit haben. Viele Blumen liegen auch da. Rot und Weiß. Das ist der Krieg den ich kenne. Der Krieg, von dem meine Eltern erzählt haben. Ein Krieg, der vorbei war. Ich will keinen neuen.
Ich weiß es nicht. Wie schön war es doch, als man einfach für den Frieden sein konnte, ohne sich für eine Seite entscheiden zu müssen. Dass muss es doch noch irgendwo geben? Gestern Abend war ich auf einem Blues-Konzert in einer Kneipe. Auch was für alte Männer – aber für die Netten. Die Kneipe hieß „Idyll“.

Herbei, herbei zum 4. Mai

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Geschlossen war zum 1. Mai seit hundert Jahren nur eins: Die solidarische, unbezwingbare Arbeitereinheitsfront, die auf den Plätzen und Straßen gegen ihr Elend  und die Macht des Kapitals kämpfte. Doch in diesem Jahr ist alles anders. Die Plätze verwaist, die Straßen im Griff des Ordnungsamtes, das mit strengem Blick darauf achtet, dass das Volk nicht zusammenkommt und die Gewerkschaften demonstrieren online.
Aber ich habe da einen Verdacht: Ich vermute,dass die Absage der großen DGB-Demos, die sonst mit Trillerpfeifen das Schweinesystem erschütterten, geht nicht auf die staatsragende Einsicht der Einheitsgewerkschaften in coronabedingte polizeiliche Auflagen zurück, sondern auf Scham.
Denn was würde dieses Jahr unter roten Bannern zur Schau gestellt?  Wohlstandsbürgerinnen und Bürger fortgeschrittenen Alters in den immergleichen Plastikleibchen mit Gewerkschaftslogo?  Das wäre schon schlimm genug. Aber dieses Jahr kämen herausgewachsene Blondierungen, ausgewaschene Dauerwellen, graue Streifen in vormals schwarzen Haaren, büschelweise Haare in den Ohren und verzottelte VoKuHilas dazu.
So darf die stolze organisierte Arbeiterschaft sich nicht auf der Straße zeigen, will sie sich nicht mit dem alten Schimpfwort „Lumpenproletariat“ verhöhnen lassen. Natürlich ist das ein perfider Schachzug der Bourgeoisie. Warum wohl dürfen die Friseure erst nach dem 1. Mai öffnen, die kleinen Geschäfte aber schon seit vergangener Woche? Eben!
Wusste die herrschende Klasse doch, dass die erzwungene Schließung der Friseurläden tiefere Einschnitte in die Kampfkraft der Vertretungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bewirkt, als es alle bisherigen Finten des Kapitals vermocht haben.
Doch was soll ich tun? Auch in mir steckt ein kleinbürgerlicher Reaktionär. Auch ich meide schamhaft die Nähe meiner Kolleginnen und Kollegen, weil ich ihren Spott fürchte. Meine ansonsten von freundlichen arabischen Männern auf 9 mm Einheitsschnitt getrimmten Resthaare nehmen barocke Formen an. Barock nicht im Sinne einer gepuderten Lockenpracht sondern barock im Sinne eines „gesprengten Giebels“. Das heißt: Links und rechts wuchert es verspielt und üppig und in der Mitte klafft eine Lücke, die nichts anderes ausdrückt als Vergänglichkeit. In die moderne Popkultur ging diese Form der Frisur ein als Erkennungszeichen verrückter Wissenschaftler. Auch im Comic ist sie beliebt. Der Chef der hoffnungslosen Bürohengstes Dilbert trägt sie.

Wenn ich wenigstens in der Wüste oder in der Eifel lebte, wo mich nichts an meine Verunstaltung erinnerte. Aber nein! Ich lebe wahrscheinlich in dem Stadtteil mit der höchsten Friseur-Dichte Deutschlands. Ich leide Tantalusqualen, wenn ich durch die Straßen gehe. Denn in meinem Bezirk gibt es amtlich gezählte 67 Friseurgeschäfte, – im Wedding legt man viel Wert auf gepflegtes Aussehen – aber was nützt mir das?
Alle, alle haben zu!

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Das kleine Vergnügen eines Friseurbesuchs, das Eintauchen in die fremden Welten, das kurze Glück exotischer Sprachen und Düfte habe ich auf diesem Blog schon oft beschrieben. Aber gerade heute, wo ich das erhebende Gefühl, sich mit frisch gestutztem Haar sich wieder als Teil der zivilisierten Welt fühlen zu dürfen besonders brauche, wird mir diese kleine Wohltat verweigert. Und sogar die Hoffnung, das mein Leiden am 4. Mai ein Ende haben wird, wird mir verwehrt. Denn wenn wir auch  alle wissen, dass nach der Krise nichts mehr so sein wird  wie es vorher war, hat mich dieser Aushang im Salon „Aufhübschstation für die Dame und den Herrn“ doch sehr erschüttert.

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Vorbei die Zeit, als ich mich aus einer Laune heraus nach Feierabend in einen Frisiersalon fallen lassen konnte, um mich zu entspannen. Vorbei die Zeit als ich ungewaschen den Salon verlassen konnte, und ja, auch vorbei die Zeit, in der ich selbst bestimmen konnte, ob ich mir Wimpern oder Brauen färben lassen wollte. Das ist jetzt alles für mich geregelt. Na ja, wenn’s der Infektionsbekämpfung dient… Wir müssen ja alle Opfer bringen. Aber für gute Ratschläge, welche Wimpernfarbe sich am schnellsten wieder auswaschen lässt, wäre ich dankbar.

Das ist eine Geschichte mit Happy End (gesehen in einem Kunstsalon in der Otavistraße).

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