Nachtschatten

Wie ein Pinselstrich im Gemälde der nächtlichen Stadt. Vertuscht verschwommen. Nur einen Augenblick sichtbar, und doch Teil des Gewebes. Wie ein blitzender Faden auf dem Lichtteppich der Straßen. Teil des Bildes und doch nichts Bleibendes. Unbemerkt und doch da. Auf einer geraden Bahn auf den nassglänzenden Straßen, die dafür gemacht sind ihn zu tragen und doch verloren im Gewirr. Zielstrebig aber doch an jeder Ecke neu entscheidend. Zwangsläufig aber doch frei.

Not to touch the sky, not to touch the sun. Nothing left to do but run run run…

In der riesigen Kulisse spielt er keine Rolle, aber ohne ihn wäre es ein anderes Stück. Das Theater ist da für ihn und alle andern. Es gibt keinen Dirigenten, aber jeder ist ein Ton in der Großstadtsymphonie. Jede Sekunde eine Uraufführung. Jeder ist ein Solist und der Star des Abends, solange er dabei ist.

Gute-Laune-Nudeln

Ich komme von der Arbeit und habe Glück: Vor dem angesagten „Mr. Noodle Chen“-Restaurant steht ausnahmsweise mal keine Schlange. Schon ein Mal hatte ich mit meiner Tochter versucht, hier rein zu kommen, denn der Laden erinnert sie an die Nudel-Bars in Hongkong, wo sie zum Studium war. Aber wir haben nach einer Viertelstunde in der Schlange enttäuscht aufgegeben. Es ging einfach nicht vorwärts und wir gingen ins DUKKI um die Ecke. Koreanisch und auch sehr lecker. 
Heute steht nur ein junger Mann vor der Tür und ich frage ihn, ob er die Schlange ist. Er findet das nicht witzig, denn anscheinend wartetet schon eine Weile darauf, hinein gelassen zu werden, während an uns vorbei Essenslieferanten mit ihren riesigen Thermo-Taschen ein und aus gehen. Durch die Glastür sehen wir wie der Mann an der Kasse, der hier alles kontrolliert dann endlich auch dem arabische Grüppchen vor uns seine riesige Take-Away-Bestellung in die Hand gedrückt hat – dann dürfen wir beide rein. Alles ist hell und übersichtlich. Keine goldenen Drachen oder anderer China-Kitsch. Auch die Speisekarte ist sehr klar: Nudelsuppe mit oder ohne Fleisch. Nur bei den vielen Nudelsorten brauche ich Entscheidungshilfe. Der Mann an der Kasse ist auch dafür da. Ich entscheide mich für die dreieckigen Nudeln, die vor meinen Augen frisch gemacht werden. Hab ich noch nie gegessen. Als ich mich setze, sehe ich um mich rum fast nur junge Chinesen. Das Studentenwohnheim ist um die Ecke und das Restaurant ist wohl der Platz, an dem man sich abends trifft. Zu mir setzen sich, ohne groß zu fragen drei junge Kerle, die sich  fröhlich auf Chinesisch Zoten erzählen und ständig lachen. Sie stellen ihre riesigen Trinkflaschen auf den Tisch. Sein Getränk darf man hier wohl mitbringen. Durch sie lerne ich auch, wo man das Besteck findet: In einer Schublade unter dem Tisch. Wie früher bei uns zu Hause. Der größte und munterste von ihnen hat das kleinste und billigste Gericht bestellt. Aber ständig ruft er die Bedienung und sie bringt ihm mit ausdruckslosem Gesicht  immer neue Schalen mit frisch gemachten Bandnudeln. „Are they for free?“, frage ich. „Yes, for free. Order some.“, läd er mich auf beiden Backen kauend ein. Ich lehne dankend ab. Meine Schale mit der dicken Brühe war mehr als genug. Und ich habe aufgetankt zwischen all den jungen Kerlen (sind nur wenige Frauen da, die heimlich angeschmachtet werden.) Die gute Laune der Burschen, die sich hier für kleines Geld satt essen können, war ansteckend.

Entwertet

Es ist Herbst, die Zeit, in der das Leben sich verabschiedet und wir uns vorbereiten auf die karge Zeit, die vor uns liegt. Und während der Landmann die Früchte des Jahres in die Scheuer fährt und mit eisernem Pflug den Acker umbricht, schwinge ich mich auf mein Moped und fahre mit den letzten Sonnenstrahlen zum letzen Postamt in unserem Viertel. Auch wenn das Erntedankfest schon lange Vergangenheit ist, hoffe ich eine Ernte einzufahren, die Ernte fast 10 Jahren eifrigen Sparens und auch ich will mich verabschieden: Von meinem Postsparbuch, das mich begleitet, seit ich 16 wurde. Es ist kein leichter Abschied. Und er ist nicht freiwillig.
Ein Sparbuch bei der Post, das war in den späten 1970er-Jahren ein Ticket in die Freiheit. Ohne ein Konto zu eröffnen, was die Unterschrift der Eltern verlangt hätte, konnte ich mein Geld einzahlen, das ich in der Fabrik, mit Zeitungsaustragen und Nachhilfestunden verdient hatte und konnte bei jedem Postamt in ganz (West-)Europa Geld abheben. Kostenlos. Keine Eurochecks, keine American Express Travelerschecks, keine Kreditkarte. Und es klappte wirklich überall. Im Dorfpostamt im County Galway und im prächtigen marmornen Postpalast von Bologna (oder war es Perugia?) In Schottland und in Alicante. Später sogar in Hoyerswerda und im Hauptpostamt Leipzig, von wo ich Telegramme in den Westen schickte. Aber da war die Welt schon eine andere.

Ich bin der Post immer treu geblieben, auch als es dann EC-Karten und Geldautomaten gab. Die Post sich selber leider nicht. Es war das erste Mal in Manchester, in den späten 1980ern, als ich einem Brief in einen Schreibwarenladen aufgeben musste, der nachlässig ein Pappschild „Post Office“ ins Schaufenster gelegt hatte. Die Royal Mail hatte den Service „privatized“. Mein Weltbild war endgültig erschüttert, als ich sah, dass man auch Telefone dort einfach so kaufen konnte. Wozu fragte ich mich? Wer einen Telefonanschluss bei der Bundespost beantragte, der bekam das Telefon -grau und stabil – doch gleich mit dazu. Andere Telefone, bunt und mit Tasten und ohne Prüfung und Zulassungssiegel der Deutschen Bundespost: Das konnte doch nichts taugen. Wie für W. I. Lenin war für mich die Deutsche Post das Maß aller Dinge.

Die Frau hinter dem Schalter ist weißhaarig. Ihr müder Kollege am Schalter daneben und die kleine Frau, die im Lagerraum ein Paket wegträgt auch. Es sind wohl die letzten Postbeamten des Wedding. Und auch vor dem Schalter: alte Leute wie ich, wenn man mal von denen absieht, die Pakete nach Vietnam oder in die Türkei abgeben wollen. Gibt es eigentlich den „Postrentendienst“ noch, mit dem früher pünktlich zum Monatsersten alle Rentnerinnen und Rentner ihr Ruhegeld am Schalter bekamen? Was es auf jeden Fall noch gibt, ist der behördliche Tonfall. Wie in den alten Zeiten werde ich erstmal angepflaumt: „Ihr Sparbuch auflösen? Da wären se mal besser vor 14 Uhr jekomm!“ Davon stand nichts in der Nachricht der Postbank, die mir mitgeteilt hatte, dass sie „…den Service Postsparbuch…“ in Kürze einstellen will. Aber weil das Berlin ist kommt nach der Schnauze das Herz, und die Frau hinter dem Schalter macht sich mit einem sarkastischen „Na, dann jeben se mal her.“ trotzdem an ihre traurige Pflicht. Sie tippt, lässt sich meinen Ausweis geben und ein Drucker fiept. Ein kleiner weißer Kasten, der noch so solide aussieht als sei er aus der BTX-Zeit der Bundespost, spuckt viele weiße Zettel aus, die die Postfrau akkurat mit viel Theater auf die grauen Seiten meines Sparbuchs klebt. „Was das alles für ein Abfall macht…“, seufzt sie. Es ist eine lange Prozedur und ich glaube, sie fühlt genau wie ich, dass wir beide hier etwas tun, was uns bald fehlen wird, dass wir ein sinnlos gewordenes Ritual aus längst vergangenen Zeiten ein letztes Mal gemeinsam zelebrieren. 2016 hatte ich noch einmal persönlich etwas eingezahlt. Seitdem lag das Buch in der Schublade. Von 2009 bis 2015 wurde die Postbank nach und nach von der Deutschen Bank übernommen. Was der Drucker ausspuckt ist ernüchternd: Bis 2017 gab es jedes Jahr noch ein paar Euro Zinsen und einen extra Bonus für treue Sparer. Zwischen 2018 und 2022 waren es noch 7 Cent Zinsen – pro Jahr – und Boni gab nur noch für die Manager der Deutschen Bank. „Das sind mehr als 0,01 %,. Da könn se sich nich beschweren.“, nimmt mir die erfahrene Kundenbetreuerin mir meine Enttäuschung aus dem Mund und haut noch einen drauf: „Is ja besser als nix.“ Langsam ahne ich, wer die Kosten der Bankencrashs von 2008 bezahlt hat.
Aber auch die paar Cent müssen natürlich genau verbucht werden. Da ist die Postfrau noch richtig amtlich. Die Seiten in meinem Sparbuch reichen nicht. Aus grauem Papier legt sie Extraseiten an und stempelt sie einzeln ab. Ganz zum Schluss schneidet sie die rechte untere Ecke ab und geht nach hinten. Ich höre den harten Knall eines eisernen Handstempels, wie man ihn nur in der Post hören kann, dann bekomme ich das Buch zurück.“Entwertet“ steht jetzt auf der letzten Seite. „Warten se noch ne Woche, bevor sie das Buch ihren Enkeln zum Spielen jeben.“, verabschiedet sie sich. „Dann sollte das Geld auf ihrem Konto sein.“, gibt sie mir auf den Weg und es klingt so, als würde sie es selbst nicht glauben. Es ist viel schief gelaufen bei der Deutschen Post, seit sie wiedervereinigt und privatisiert wurde und das sitzt der gestandenen Postbeamtin in jeder Falte ihrer dünn gewordenen Dienstbluse.

Auf dem Rückweg durch die lange Halle mit der gar nicht mehr so langen Schlange der Wartenden komme ich an einem Ständer mit Postkarten vorbei. 50 Prozent Nachlass gibt es bis zum Jahresende auf auf kitschige Hochzeits- und schwarz-weiße Trauerkarten. Vielleicht verabschiedet sich die Postbank nur von ihrem Papiergeschäft, das sie nebenbei in der Filiale betreibt. Vielleicht verabschiedet sie aber auch gleich von ihrer Filiale und Ihren letzten Beamten. Meine Pakete gebe ich schon seit Jahren beim Zeitschriftenladen an der Ecke ab. Der wird von einem indischen Pärchen betrieben. Der Laden ist gerade zu. Die beiden sind wohl krank geworden.

Hinterhofgespräche

Die schmale Haustür steht offen und gibt den Blick frei in einen schattigen Hinterhof mit etwas Grün. Grün im grauen Wedding? Neugier zieht mich in den dunklen Flur. Ein altes Schild „Kinderwagen und Fährräder abstellen strengstens untersagt!“ Ein neues Schild einer neuen Hausverwaltung aus Halle, die das füttern von Tieren im Hof verbietet, weil das „Ungeziefer“ anlocke. Der Hof war mal groß, jetzt wird er zum Nachbarhaus durch eine graue Wellblechwand getrennt, an der überfüllte Mülltonnen stehen. Die gefiederten hellgrünen Blätter von zwei wild gewachsenen Ebereschen machen das Grau der grob verputzen Hauswände nur noch dunkler. In den vergitterten Fenstern im Parterre des Vorderhauses sind schmuddelige Kuscheltiere eingeklemmt. Als ich ein Foto davon mache, steht plötzlich ein Mann neben mir. 1,90 groß, breite Schultern, schwarze Basecap, irgendwas in Frakturschrift auf seine schwarze Hose gedruckt. Security? Hausmeister? Nazi?  Ich versuch‘s mit Dreistigkeit. „Wissen Sie, wieso die Kuscheltiere dort hängen?“ Die Antwort verstehe ich nicht gleich. Er sucht die richtige Reihenfolge für die deutschen Worte. „Wasserpfeifen“, verstehe ich und „Dampf“ und ich reime mir zusammen, dass er die Shisha-Bar im Vorderhaus meint. „Weil die immer Dampf in den Hof blasen, und das so freundlicher ist, für die Nachbarn“, verstehe ich. Und, er deutet auf die Mülltonnen: „Weil man dann was Schönes sieht und nicht den Dreck.“ „Wenn du Kinder hast: Nimm mit.“, läd er mich ein. „Drei Söhne“, fange ich an zu plaudern. „Aber die sind aus dem Alter raus.“ „Ich hab auch einen Sohn, 25, aber nicht ganz gesund. Lebt nicht bei mir.“ Trauriges Thema. Er kommt von selbst auf was anderes. Erzählt, dass er schon lange hier lebe und, dass die Hausverwaltung gewechselt habe. „Kein Hausmeister. Immer wenn du was willst, musst du ein Formular schreiben.“ Aus dem Treppenhaus des Hinterhauses kommt ein Mann mit einer Werkzeugtasche und läuft geschäftig an uns vorbei. Ein Handwerker, und das an einem Samstagmorgen. „Kein Hausmeister?“, runzle ich die Stirn. „Und was ist das?“ „Das ist für die neuen Häuser.“, sagt er. Ich suche mit den Augen einen Neubau, bis ich verstehe, dass die Handwerker leerstehende Wohnungen im Haus renovieren, die teuer neu vermietet werden. „Beim Nachbarn ist der Boiler kaputt. Seit drei Monaten. Da kommt niemand.“ Wir reden weiter über Politik, über Gaza und die kaputten Schulen und die Jobcenter. Da ist er Kunde. „Wird jetzt schwieriger, wegen der Regierung.“ Zwei Jahre habe er noch. Er sei 65, selber nicht mehr ganz gesund. Gutachten, Ärzte, Formulare. Er hoffe, dass er bald die Rente bekomme. „Ich hab auch noch zwei Jahre“. „Wenn die Regierung uns nicht noch länger warten lässt.“, flachst er ironisch zurück. Wir wünschen uns Glück, Gesundheit und ein gutes Wochenende.

Hauptstadtprosa

Foto: Gerd Danigel aus der Ausstellung „40 Jahre Fotogalerie Friedrichshain“ https://fotogalerie.berlin/austellungen/aktuell

V: Wann ist der Elternabend?

M: Heute um 18 Uhr.

V: Dann bin ich halb sechs bei dir und passe auf die Jungs auf.

M: Wie kommst du?

V: Mit der S 8.

M: Die S 8 fährt bis Ende September nicht. Komm mit der S 1 direkt zur Schule. Dann kann ich dir die Autoschlüssel geben. Dann kannst du eine halbe Stunde chillen und dann die Jungs direkt vom Sport abholen. Schau aber nach ob die S-Bahn wirklich kommt. Mit der S1 bin ich gestern stecken geblieben. Hat drei Stunden gedauert. Stellwerkprobleme.

V: Die Jungs gehen zum Sport?

M: Ich bin mir nicht sicher, ob sie gehen oder wieder in ihren Zimmern rumgammeln. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen mit ihren Fahrrädern fahren.

V: Wenn die Jungs mit den Fahrrädern fahren, dann nehme ich auch das Fahrrad mit und komme zur Sporthalle, dann fahren wir zusammen zurück.

M: Bin mir gerade nicht sicher, ob sie die Räder nehmen. Nimm lieber das Auto.

V: Ich fahr nicht gern mit dem Auto. Und wie kommst du dann zurück?

M: Wird schon gehen, vielleicht mit dem Bus.

V: Fährt dann noch einer? Ich hab keine Lust, erst die Jungs und dann dich abholen zu fahren.

M: Du kannst auch mit der S-Bahn kommen und direkt zum Sport gehen und dann kommt ihr alle mit dem Bus.

V: Vielleicht will ja auch nur einer zum Sport. Dann komme ich mit dem Moped zur Sporthalle. Einen Sturzhelm hab ich für Hintendrauf.

M: Du kannst ja auch mit dem Moped zu mir kommen und ich nehme dich dann mit dem Auto mit zur Schule.

V: Und ich krieg die Schlüssel, hol die Jungs mit dem Auto ab und dann komm ich mit dem Moped zu dir zur Schule.

M: Auf das wacklige Ding steig ich nicht auf.

V: Ach komm! Wir haben doch schon ganz andere Touren miteinander erlebt.

M: Nein! Am besten kommst du mit dem Moped hierher und wir sehen weiter. Dann kommst du auch wieder zurück nach Berlin, wenn die S-Bahn nicht fährt.

V: Und wann? Ich brauche mindestens eine halbe Stunde zu euch.

M: Ich ruf dich noch mal an. Aber vergiss auf keinen Fall, drei Brötchen mitzubringen. Das ist unser Ritual nach dem Sport.

V: Mach ich ja nicht zum ersten Mal

M: Ich sag‘s ja nur…

Bilder von zu Hause

Andere gehen ins Museum oder in die Kirche, um Bilder zu betrachten, ich fahre ins Parkhaus. Zuerst aufs Dach einer echten Fortschrittskathedrale: Dem ehemaligen Karstadt-Parkhaus (jetzt: Lidl). Dort gibt es Luft, Sonne, schöne Einblicke und Glasfensterkunst wie in einer Kirche für umsonst:

Dann gehts weiter zu Kaufland am Gesundbrunnen. Das Projekt www.liebezurkunst.de hat hier die Wände des Parkhauses zu Leinwänden gemacht. „Urban Canvas Parkhaus Wedding“ nennt sich die Ausstellung, die durch Einkaufswagen, parkende Autos und schöne Ausblicke auf die S-Bahn ergänzt wird.

Und dann gibt es noch das:

Das ist kein Parkhaus, sondern eine Kunstgalerie, gebaut von russischen Architekten. Drinnen kann man noch mehr Beton sehen: Stadtplanungen von Architekten aus der DDR. Pläne und Träume – mein Thema dieses Jahr.

Und was dabei herauskommt, wenn sich ein junger Architekt in ein altes Parkhaus im Wedding verguckt, darüber habe ich hier geschrieben: Beton- Es kommt drauf an, was man draus macht

Und dann wollte ich keinen Beton mehr sehen, und bin ab an die See…

Lola

Wandmosaik an der ehemaligen Berufsschule Naumburg/Saale

„I met her in a place down in old Soho where you drink champagne but it just tastes like cherry cola“ (The Kinks, Lola)

Nee, ganz so war es nicht. Es war nicht Soho, es war Wedding, hinterm Bretterzaun von der Baustelle vom U-Bahnhof Seestraße. Da wo es eng wird und wo trotzdem ein paar Stühle und Tische auf dem Gehweg stehen. Und es war auch nicht Champagner und auch nicht Cola sondern Kaffee und Pflaumenkuchen – mit Sahne, bei Thobens Backwaren für 1,95 Euro das Stück. Aber da kam tatsächlich diese Frau..

„She walked up to me and she asked me to dance“. Sie kam direkt auf mich zu, wie ich da so sitze vor dem Bäcker. Sie war ganz in Schwarz von Kopf bis Fuß: Schwarzer Hijab, Schwarzer Umhang, schwarze Turnschuhe und einen schwarzen Hackenporsche hinter sich. Niemand Ungewöhnliches also für die Gegend. Und sie fragte mich, nicht nach einem Tänzchen, natürlich, sondern „Kann ich ihr Geschirr reintragen?“. Das war seltsam. Nicht nur, weil muslimische Frauen in so einem Outfit einen als Mann normalerweise noch nicht mal anschauen und erst recht nicht ansprechen. Nur einmal ist mir das passiert, vor Jahren, als ich den Kinderwagen mit den Zwillingen vor dem Laden des Uhrmachers nicht weit von hier auf der Straße hatte stehen lassen, weil er nicht durch die Tür passte. Da kam eine Frau mit Kopftuch hinter mir her in den Laden und zische mich an: Sie können doch die Kinder nicht alleine draußen stehen lassen, nicht hier in der Gegend.“ Aber das ist eine andere Geschichte. Die Frau hier war anders. Als sie aus dem Backshop wiederkam, stellte sie sich neben mich und fing an zu erzählen.
„I asked her her name and in a dark brown voice she said, „Lola“ Nein,, Lola hieß sie natürlich nicht. Aber ihre Stimme war wirklich sehr dunkel. Und als ich mir sie weiter anschaue, sehe ich, dass auch ihre Hände sehr breit und knochig sind und dass ihr ein Zahn fehlt, ziemlich weit vorne. Aber sie erzählt immer noch und nestelt sich nervös an den silbernen Spangen, die ihr Kopftuch festhalten. Wovon sie erzählt hat weiß ich nicht mehr genau, es war irgendwas mit Äpfeln.

Dann ging sie weiter. Als ich meine Tasse in die Bäckerei zurückbringe frage ich die junge Verkäuferin: „Kennen sie die Dame?“ „Nee“, lacht sie verlegen. „Das habe ich noch nie hier erlebt.“

„Girls will be boys and boys will be girls
It’s a mixed up, muddled up, shook up world.“

Der Gurkenkönig

Samstagnachmittag im Eurogida, einem großen türkischen Gemüseladen im Wedding. Ich brauch noch Obst und Gemüse für‘s Wochenende. Und hier ist es um die Zeit noch günstiger als auf dem Markt hinter dem Rathaus. 70 Cent für eine abgepackte Schale Tomaten auf der noch das Etikett „Kaufland“ klebt, 1,50 Euro für eine Schale Nektarinen. Der Verkäufer draußen an der Waage stopft alles in einen Plastikbeutel. Ob er es nicht wiegen wolle, frage ich, denn ich weiß, dass man es später an der Kasse nicht mehr wiegen kann. Er schüttelt den Kopf und winkt mich weiter. Drinnen gibts drei Avocados für 1 Euro. Ich trage sie brav zur Waage im Laden, aber der junge Mann, der genau so schweigsam ist wie sein Kollege, winkt ab und deutet zur Kasse. Nur wegen der Gurke, die ich mir von einem Stapel geholt habe, meckert er mich an, zieht sie mir aus der Tasche, wiegt sie, klebt ein Etikett drauf und steckt sie zurück in den Beutel. Bei Edeka kosten alle Gurken das Gleiche.

Der Kassierer ist ein stämmiger Kerl mit dunklem Bart und Stiernacken, der auch Türsteher in einem Club sein könnte. Er trägt schwarze Handschuhe und liegt lässig auf seinem Drehstuhl als wäre es der Schalensitz seines Maserati. Vor mir ein eleganter Herr mit gebräuntem Gesicht und gestutztem weißen Bart. Als er meine Avocados auf dem Band sieht, fängt er ein Gespräch an. Wo ich die denn her hätte? Auf dem Markt habe er heute keine gefunden und so weiter. Schon hat er seine Finger auf meiner Ware und drückt sie. Ja, die seien genau richtig, lobt er. Ich lege demonstrativ eine Aluminiumstange zwischen sein Obst und meins. Dann fängt der mit dem Kassierer eine Diskussion an, ob er ihm einen Euro mehr zahlen könne, damit er sich hinterher dann noch die Avocados holen könne. Der Kassierer schaut ihn stoisch an. „6 Euro 50“, ist alles, was er sagt. „Er versteht mich nicht.“, sagt der Mann resigniert zu mir und zuckt die Schultern. Da ruft der Kassierer seinem Kollegen drei Regale weiter etwas zu und kommandiert den Avocado-Mann „Du gehst zu Ihm. Und 7 Euro 50.“ Das wäre geklärt. Ich verabschiede mich und wünsche meinem Gemüsefreund viel Glück. Jetzt bin ich dran. Wortlos wird mein Einkauf über die Kasse gezogen. Aber bei der Gurke stutzt er. Das Etikett ist abgefallen. „Die musst du wiegen lassen.“, brummt er und zeigt mit der Gurke nach da wo ich her komme. „Die hat dein Kollege schon gewogen.“, brumme ich schlecht gelaunt zurück. Ein Blick, dann ein schneller Dreh auf dem Stuhl, ein Ruf und meine Gurke fliegt durch den halben Laden, bis sie der Mann an der Waage auffängt. Rückwärts geht es vorsichtiger über eine alte Frau mit Kopftuch, von Hand zu Hand. Jetzt hat meine Gurke ein Etikett, „0,57 Euro“ und wird über den Scanner gezogen. Bei Edeka hätte es länger gedauert.

Mein kleiner grüner Kaktus

War ein wildes Wochenende. Fing damit an, dass mein Sohn, jetzt 13, zum ersten Mal allein mit der S-Bahn zu mir gekommen ist. Na ja, fast. Eigentlich muss man drei Mal umsteigen, und bevor er mir dabei verloren geht, hab ich ihn beim ersten Umsteigebahnhof abgeholt. Aber immerhin. Ein erster Schritt. Für ihn und für mich. Und als wir am nächsten Tag von der Bibliothek kommen ist auf dem Sportplatz in unserem Viertel ein Fußballfest. Der 3. Africacup Berlin. Stand nirgendwo – außer bei Instagram, aber da bin ich nicht. Aber eine Menge los. Alles junge Leute mit afrikanischen Wurzeln. Und obwohl das Viertel in dem ich wohne das Afrikanische Viertel ist und an der Afrikanischen Straße liegt, habe ich noch nie so viele schwarze Menschen meinem Viertel gesehen. Und so gut gelaunt. Fußball war Nebensache (ist es sowieso), es war mehr Party und ein stolzes Zusammenkommen der Community. Damit das alle in meinem Viertel erfahren bin ich schnell nach Hause und hab meinen Fotoapparat geholt. Dann habe ich den Jungs am Eingang gesagt, dass ich von der Presse bin und wir haben VIP-Bändchen bekommen, in Gold, mit dem Buchstaben VIP drauf. Das hat meinem Sohn natürlich gefallen. Ich hab wild geknipst aber das Eigentliche hab ich mich nicht getraut: Die vielen unterschiedlichen Gesichter. Ich hätte fragen müssen, die Spieler und die Spielerfrauen, die Köche an Ständen mit den frittierten Kochbananen und den Fischen. Hab ich aber nicht. Aber ein bisschen Atmo kommt hoffentlich doch rüber.

Dann hat es angefangen zu regnen und wir sind nach Hause gegangen. Ich hab den Artikel für unseren Kietz-Blog getippt und mein Sohn hat die Comics gelesen, die er aus der Bibliothek mitgebracht hat. Dann haben wir die Kochbanane gebraten, die wir uns mitgenommen hatten. Mein Sohn hat sie tapfer probiert und ich hab den Rest gegessen – mit Pflaumenmus, passt ganz gut mit den ganzen Nelken und dem Zimt dadrin. Nächsten Tag sind wir ins Kino gegangen in einen Zeichentrick über Außerirdische, die dicke Panzer anhaben aber darunter kleine Würmer sind. Im Kino lernt man was fürs Leben. Mein Sohn hat gelernt, dass er beim nächsten Mal nicht wieder einen ganzen Eimer salziges Popcorn bestellt, den hat er nämlich doch nicht geschafft. Ich hab ihn dann wieder in die S-Bahn gesetzt und bin zu meiner großen Tochter gefahren. Die wohnt in Neukölln, das ist am anderen Ende der Stadt, aber was macht man nicht alles. Sie hat gesagt, ihr Fahrrad sei kaputt. Also hab ich Werkzeug eingepackt. Aber als ich angekommen bin, ging es gar nicht um das Rad, sondern um die IKEA-Küche, die sich über eBay gebraucht gekauft hatte. Aber das war keine Küche sondern eine Ansammlung von weißen Würfeln aus Presspappe und Blech. Aber sie hat gewußt, wie das zusammengehört. Und obwohl ich noch nie eine Küche zusammengebaut habe, und obwohl wir uns erst mal bei der Nachbarin mit den zottligen rotgefärbten Haaren eine Wasserwaage leihen mussten (meine Tochter dachte, das geht auch mit dem iPhone, ging aber nicht) haben wir das in zwei Stunden so einigermaßen hingestellt. Wir waren richtig stolz auf uns. Das Fahrrad haben wir auch noch repariert und ich hab meiner Tochter die Luftpumpe dagelassen, denn Luft war das Einzige was fehlte. Dann bin ich noch zu meiner ehemaligen Kollegin nach Kreuzberg gefahren, das ist um die Ecke, die in der SPD ist. Wir haben eine Flasche Sekt geleert und uns überlegt, wie das weitergehen kann mit der SPD. Ich bin nicht in der SPD, aber wir haben viele Jahre zusammen politisch gearbeitet, und wenn man helfen kann… Wir sind aber auf keine Idee gekommen auf die nicht Frau Reichinek oder Frau Wagenknecht auch schon gekommen sind. Trotzdem bin ich nach Mitternacht ziemlich fröhlich zurückgeradelt. Auf der Friedrichstraße war die Polizei noch dabei, die letzten Herumtreiber von „Rave the Planet“ zusammen zu sammeln, die auf einem Baugerüst des ehemaligen Kaufhauses Lafayette turnten. Ich glaube, ich habe da nix verpasst.

Und warum kleiner grüner Kaktus? Weil ich, als mein Sohn auf dem Sofa seine „Brainrot“-Filmchen geguckt hat, einfach auf mein Balkon gegangen bin. Da steht ein Blumentopf in den ich ein Tütchen Wiesenblumen gesäht habe, die ich mal als Werbegeschenk vom Behindertenbeauftragten der Bundesregierung geschenkt bekommen habe – nicht persönlich natürlich, aber sein Logo und der Bundesadler waren auf der Verpackung. Nicht alles was die Regierung säht, gedeiht, aber die Blumen stehen mittlerweile in voller Blüte – immer eine Sorte nach der anderen. Und weil die Schönheit so vergänglich ist, habe ich meine Kamera genommen, das Objektiv verkehrt herum draufgeschraubt (so kriegt man ein improvisiertes Makro-Objektiv- hab ich bei You Tube gelernt) und bin ganz nah dran gegangen. Man muss sich ein bisschen konzentrieren und etwas Geduld haben, aber das ist ja das Entspannende. Ich mag es, wenn die Bilder etwas enthüllen, was mit bloßem Auge nicht zu sehen ist, eine eigene Welt und es gefällt mir auch, dass die Blüten, anders als die Smartphone-Fotos, ein bisschen unscharf werden, und wirken wie eigene Wesen. Na ja, schaut selbst.

Catwalk Wedding

Wenn es Frühling wird im Wedding, wenn es endlich wärmer wird, dann blüht das Leben auf den Straßen. Die Menschen zeigen sich wieder und zeigen wieder etwas von sich. Und jedem Beobachter, der sich etwas Zeit nimmt und die Szene von einem ruhigen Kaffeehausstuhl beobachtet, wird klar: Was man im Wedding zu sehen bekommt, das ist nicht das, was es woanders gibt. Diese Styles, diese Moves und diese Mode, das ist einmalig. Was die Influencer in den Sozialen Medien verkaufen wollen, lässt die Menschen hier unbeeindruckt. Neo-Hippie-Style, Strickmoden, Skinny-Jeans. Das ist nichts für das Sehen und Gesehenwerden auf den Boulevards des Berliner Nordens. Hier trägt man mit Stolz, was man anderswo noch nicht gesehen hat oder nicht mehr sehen will.Und doch erkennt man auch in diesem Frühjahr deutlich neue Trends, die das Straßenbild prägen.

Ganz klar: Der Frühling bringt das Ende des Schwarze-Daunenjacken-Diktats auf den Straßen. Aber die neue Saison bringt leider auch nicht die Rückkehr der Farbe und der Muster, der Karos oder der Streifen (außer den allgegenwärtigen drei von Adidas). Auch der farbenfrohe Ethno-Style ist selten geworden und nur die Essensfahrer von „flink“ mit ihren schwarzen oder farbigen Turbanen verbreiten manchmal noch exotisches Flair. Der Weddinger Dresscode für diesen Frühling ist eine Wiederkehr der Einfarbigkeit und der gedeckten Töne: Hosen und Jacken meist in Schwarz, manchmal in Leder, in Beige oder in Indigo. Wenige wagen grün. Es sind weniger offen getragenen Marken-Logos zu erkennen. Kaum Röcke, Bodenlanges nur in der islamisch geprägten Mode in Hellbraun und Hellgrau. Kinderwagen und Rollatoren bleiben ein beliebtes Accessoire, weiße Plastiktüten mit Obst und Gemüse sind weiter ein Muss und ein Zeichen der Street-Credibility. Die Schuhe eher sportlich nicht nur bei den jungen Aficionados, weiße Sneaker sind auf dem Rückzug, überhaupt ist Weiß weniger zu sehen. Ausgedient hat die Bierflasche als Zeichen der Ortsverbundenheit und des Savoir-vivre. Nur in der Nähe des Leopodplatzes und um den Gesundbrunnen sieht man sie noch häufiger. Dort auch öfter individuelle Style-Kombinationen mit Decken, Capes, Plaids und halben Schlafsäcken, die gekonnt um die Schultern drapiert oder als Schärpe getragen werden. Die Mutigen tragen schon leichte Pullover, manchmal ein vorsichtiges Rosa. Es ist noch wenig Haut zu sehen, und wenn, dann unfreiwillig im üppigen Hüftbereich der Damen Herren. Der Wedding ist ein Vorreiter der natürlichen Body Positivity. Auf dem Kopf maximal Caps ohne Logo, Kopftücher und Hoodies, kaum Hüte, auch nicht bei den Damen. Verfilzte Haare und Dreadlocks sind auch nicht mehr so angesagt. Mann trägt eher kurzhaarig. Und bei den Kindern abrasierten Seiten, fast irokesig. Auch sonst hinterlassen die Friseure und Barbershops, die es an jeder Straßenecke gibt viel Bleibendes auf den Köpfen der Passanten. Bei Vielen sieht es dort aber auch lässig improvisiert oder selbstgemacht aus. Dazu werden blasierte bis grimmige Großstadtgesicher getragen, selten glattrasiert, oft mit dem überforderten Heroine-Chic, kombiniert mit einem langsamen, fast flaneurhaften Gang, manchmal trippelnd, manchmal watschelnd. Goldkettchen sind nicht mehr so offensiv sichtbar. Überhaupt wenig Schmuck im Straßenbild – anders als die Vielzahl der Juweliere und Goldhändler in den großen Straßen vermuten lassen würden. Auch keine protzigen Uhren. Das Smartphone hat alle anderen Statussymbole abgelöst. Schnurrbärte kommen wieder. Manche tragen sie aus Tradition, manche als ersten Versuch nach dem Bartflaum, wie in den 1970ern. Bei den Frauen gleichen Alters viel „Clean Girl“-Ästhetik mit starkem Make Up, betonten Lippen, ohne Falten und Unreinheiten. Sonnenbrillen als Macho Accessoire tauchen eher am Abend auf oder werden durch das Seitenfenster überschwerer PKW sichtbar. Auch wieder sichtbar: Hosen aus lockerem Baumwolljersey um nicht zu sagen: Jogginghosen, Sweatpants, die Hosen, die man trägt, wenn man sich, wie Karl Lagerfeld sagte, selber aufgegeben hat.

Ich blicke an mir selbst herab: Jeans, kariertes Hemd, zerknautschte grüne Schimanski-Jacke. Klassische Herrenmode, würde ich sagen, zumindest Anfang der 1990er. „Ich beobachte, dass viele an irgendeinem Punkt in ihrem Leben aufgeben.“, schreibt die Modejournalistin Diana Weis im Tagesspiegel. „Weil sie sowieso immer die gleichen Sachen kaufen, nämlich welche, die sie auf dem Höhepunkt ihrer Attraktivität anhatten.“ Mir scheint, dieser Höhepunkt hält bei mir jetzt schon über dreißig Jahre an.