Im Königreich Gardinestan

Manchmal möchte ich ja dem Motto meines Blogs wieder Ehre machen. Dann fasse mir ein Herz und gehe durch einer der Türen, die in unserm Viertel immer offen stehen. Und manchmal entdecke ich dabei ein verborgenes Märchenland: Gardinestan! Es hat einen geheimnisvollen Namen. Es liegt gleich neben Babylon und nicht weit weg von den Kabul Nights. Manchmal ist es schwer zu finden, doch nie war es ganz verschwunden. Jetzt ist es wieder in voller Pracht aufgetaucht: Nicht hinter den sieben Bergen, nicht im wilden Kurdistan, sondern wieder in der Müllerstraße im Wedding. Und um seine Bewohner und ihre Schätze zu entdecken, muss man nur durch die neue goldene Pforte treten. Und manchmal trifft man dabei eine orientalische Prinzessin, die keine sein will.

Es ist kein Reich voll Tüll, Taft und Teppichen, auch wenn der orientalische Name etwas anderes vermuten lässt. „Gardinestan“, egal wer sich diesen Namen ausgedacht hat, er hat einen Treffer gelandet. Der markante gold-blaue Schriftzug bevölkert schon lange die Blogs und Instagram-Profile über den Wedding. „Gardinestan“, das klingt wie ein fernes Land, das irgendwo zwischen Afghanistan und Usbekistan an der Seidenstraße liegen könnte, ein geheimes Königreich, aus dem legendäre handgeknüpfte Teppiche kommen. Und gleichzeitig könnte es eine selbstironische Anspielung sein auf das Multi-Kulti im Wedding, auf orientalische Teppichhändler und auf das, was hier wirklich verkauft wird: Schimmernde Fenstervorhänge und – na ja: Gardinen.

„Vielleicht ist es auch nur eine Abkürzung von ‚Gardinenstange'“, vermutet der nüchterne Verkäufer, der mich durch den Laden führt. Er ist durch und durch Händler. „Schauen sie!“, wirbt er für seine Ware. „Das ist ein wirklich lichtdichtes Gewebe.“ Zum Beweis hält er seine Handy-Lampe unter eine Stoffprobe. Der Lichtfleck dringt nicht durch. Zum Vergleich zeigt er mir ein leichter gewebtes Stück: blickdicht, aber nicht lichtdicht. Einen Unterschied, den mir bei IKEA, wo ich bisher meine Vorhänge kaufte, keiner gezeigt hat. Und vielleicht ist diese Expertise und die Leidenschaft für den Stoff das wirklich Exotische an diesem Geschäft: „Gardinestan“ ist das letzte Gardinen-Fachgeschäft an der Müllerstraße. Erst vor Kurzem hat das „Ideal“-Gardinenhaus aufgegeben und die Gardinenabteilung von Karstadt am Leopoldplatz ist seit vergangenem Jahr Geschichte.

Aber um das Königreich hinter den seidigen Stores muss man sich keine Sorgen machen, auch wenn der markante Schriftzug für eine Weile von der Fassade verschwunden war – das Haus wurde renoviert. Denn die Kundschaft kommt nicht nur aus dem Wedding, sondern aus ganz Berlin und Brandenburg, verrät mir Fatih Genc, einer der Inhaber. Deshalb, und wegen des guten Online-Geschäfts, sei man durch die Veränderungen und die Geschäftsschließungen in der Müllerstraße auch nicht zu stark betroffen. Man habe Angebote zwischen 20 Euro und 300 Euro pro Meter Gardine. Damit sei man unter den etwa 60 Gardinenläden in Berlin noch nicht im obersten Preissegment, ergänzt sein Verkäufer eifrig. Im Schnitt werde im Wedding 100 Euro pro Meter ausgegeben. Für seine eigene Zwei-Zimmer-Wohnung habe er 1200 Euro für Gardinen und Vorhänge angelegt, verrät er mir. Teppiche habe man auch, aber eher Zusatzangebot und als Sonderangebot für die Laufkundschaft. Soviel zum Thema Wunschvorstellungen.

Im Hinausgehen versuche ich Aişe Genc, der Tochter von Mitgründer Cengiz Genc, zwischen edlen S-Linien-Gardinen und Lamellen-Rollos doch noch das Geheimnis des magischen Namens zu entlocken. 
Im Handelsregister eintragen ist die Firma als „Jung CFO GmbH“. Der Name sei eine Verbindung der Anfangsbuchstaben der drei Brüder Cengiz, Fatih und Oktay Genc, die das Geschäft gemeinsam führen und der deutschen Übersetzung ihres Nachnamens – Genc heißt jung, verrät Frau Genc. Ein Rätsel gelöst. Bleibt noch das Geheimnis um „Gardinestan“. „Er hat schon was mit Ländern wie Afghanistan zu tun,“, lächelt sie, „obwohl mein Vater und seine beiden Brüder aus der Türkei stammen.“ Ihr Vater habe die Idee gehabt. Mehr verrät sie nicht. Ob sie später mal das Geschäft übernehmen wolle, sozusagen als Kronprinzessin von Gardinestan, frage ich sie. „Nein“, lacht sie. „Ich studiere Bio-Informatik an der FU.“

Dornröschen und der böse Lindemann

Wir fahren tapfer mit dem Rad von Leipzig nach Berlin. Durch Sachsen und Brandenburg. Es gibt viel Schönes zu sehen und viel Trauriges.

Und natürlich blühende Landschaften!

Als wir Wandervögel die blaue Blume gefunden haben, finden wir auch das Ende des Regenbogens.

Das Trostlose dieser Welt verschwindet. Und am Ende des Regenbogens steht das Haus am See.

Wir lassen uns hineinziehen in den zugewucherten Park und stehen bald vor einem echten Traumschloss.

Da kommt schon der Wächter des Schlosses (mit Ölkanne und Akkuschrauber). Er hat seinen Kafka nicht gelesen und weiß nicht, dass er uns abweisen muss. Er öffnet uns die Tür…

Das Schloss schläft seit dreißig Jahren.

Viele Stunden sind wir im Banne des Kastellans. Unglaubliches erzählt er in seiner unglaublichen Sprache. Über viele hundert Jahre spannt er den Bogen. Vom starken August bis zum magischen Investor, der hier alles bestimmt. Bis er uns endlich von dem Geist erzählt, der in diesen Mauern haust. Es ist ein Geist aus der Zeit des gottlosen Sozialismus. Es ist der Geist von Werner Lindemann, der vor sechzig Jahren, als sich das Haus „Kulturhaus“ nannte, der Herr des Schlosses war.

Und nur sein böser Sohn Till, ein berühmter Geisterbeschwörer, kann das Schloss von seinem Fluch befreien und es zu neuem Leben erwecken. Aber wo ist das Dornröschen, das er wach küssen könnte?

Dornröschen ist abgehauen. Wir sehen sie an der nächsten Bahnstation. Sie hat den bösen Till schon getroffen. Geküsst hat sie ihn dabei hoffentlich nicht…