Lola

Wandmosaik an der ehemaligen Berufsschule Naumburg/Saale

„I met her in a place down in old Soho where you drink champagne but it just tastes like cherry cola“ (The Kinks, Lola)

Nee, ganz so war es nicht. Es war nicht Soho, es war Wedding, hinterm Bretterzaun von der Baustelle vom U-Bahnhof Seestraße. Da wo es eng wird und wo trotzdem ein paar Stühle und Tische auf dem Gehweg stehen. Und es war auch nicht Champagner und auch nicht Cola sondern Kaffee und Pflaumenkuchen – mit Sahne, bei Thobens Backwaren für 1,95 Euro das Stück. Aber da kam tatsächlich diese Frau..

„She walked up to me and she asked me to dance“. Sie kam direkt auf mich zu, wie ich da so sitze vor dem Bäcker. Sie war ganz in Schwarz von Kopf bis Fuß: Schwarzer Hijab, Schwarzer Umhang, schwarze Turnschuhe und einen schwarzen Hackenporsche hinter sich. Niemand Ungewöhnliches also für die Gegend. Und sie fragte mich, nicht nach einem Tänzchen, natürlich, sondern „Kann ich ihr Geschirr reintragen?“. Das war seltsam. Nicht nur, weil muslimische Frauen in so einem Outfit einen als Mann normalerweise noch nicht mal anschauen und erst recht nicht ansprechen. Nur einmal ist mir das passiert, vor Jahren, als ich den Kinderwagen mit den Zwillingen vor dem Laden des Uhrmachers nicht weit von hier auf der Straße hatte stehen lassen, weil er nicht durch die Tür passte. Da kam eine Frau mit Kopftuch hinter mir her in den Laden und zische mich an: Sie können doch die Kinder nicht alleine draußen stehen lassen, nicht hier in der Gegend.“ Aber das ist eine andere Geschichte. Die Frau hier war anders. Als sie aus dem Backshop wiederkam, stellte sie sich neben mich und fing an zu erzählen.
„I asked her her name and in a dark brown voice she said, „Lola“ Nein,, Lola hieß sie natürlich nicht. Aber ihre Stimme war wirklich sehr dunkel. Und als ich mir sie weiter anschaue, sehe ich, dass auch ihre Hände sehr breit und knochig sind und dass ihr ein Zahn fehlt, ziemlich weit vorne. Aber sie erzählt immer noch und nestelt sich nervös an den silbernen Spangen, die ihr Kopftuch festhalten. Wovon sie erzählt hat weiß ich nicht mehr genau, es war irgendwas mit Äpfeln.

Dann ging sie weiter. Als ich meine Tasse in die Bäckerei zurückbringe frage ich die junge Verkäuferin: „Kennen sie die Dame?“ „Nee“, lacht sie verlegen. „Das habe ich noch nie hier erlebt.“

„Girls will be boys and boys will be girls
It’s a mixed up, muddled up, shook up world.“

Die Wespe

Es ist schön, Besuch zu haben. Auf der Terrasse des ehemaligen Terrassencafés Minsk in Potsdam (jetzt: Kunsthaus DAS MINSK) bin ich der einzige Mensch, der sich nach dem Regen hinaus getraut hat. Und sie ist die einzige Wespe hier. Wir beide können es gut miteinander aushalten. Aber während ich nichts anderes zu tun habe, als an einem Samstagnachmittag meinen Americano (wenn Erich das wüsste) mit Milch zu trinken und den Blick auf den goldenen Kuppeln der Stadt ruhen zu lassen, ist sie eifrig. Die leere Tasse und das halbleere Milchkännchen werden unablässig untersucht. Zwischendrin werden die Fühler geputzt und wieder ein neuer Anlauf zur Nahrungssuche gesucht. Vorsichtig balanciert sie auf dem Rand der Kanne, ohne vor Gier hinein zu fallen. Ein kluges Tier. Anscheinend findet sie dort genug, um sich mit Eiweiß zu versorgen, das sie zu Hause gleich an die Larven verfüttern kann. Schwer schleppt sie am dicken Leib hinter der Wespentallie. Ob sie genug Luft kriegt? Und ist das fair? Dass sie sich so abrackern muss, um ein Bisschen von dem zu bekommen, was ich mir gerade für ein bisschen Kleingeld von der Theke geholt habe? Na ja, Kleingeld: 3,50 Euro. Im Prospekt zur Renovierung des Cafés war auf einer Speisekarte aus den 1970ern zu lesen, dass hier ein Kännchen Kaffee – es gab nur Kännchen – mit Milch und Zucker 1,90 M kostete. Offizieller Wechselkurs zur D-Mark war 2:1; dann wieder 2:1 von D-Mark in Euro. Also habe ich gerade 14 M für eine Tasse Kaffee gezahlt. Dafür war es echter Bohnenkaffee und kein Mokka Fix, dafür ist die Terrasse frisch renoviert, ich muss nicht mehr auf den Kellner warten, der mich „platziert“ und über mir, am Brauhausberg, in der dunkelroten Festung sitzt nicht mehr die Kreisleitung der SED, nicht mehr der Brandenburgische Landtag sondern Hasso Plattner, einer der Gründer von SAP, der wertvollsten Software-Firma Europas, der draus jetzt eine Hochschule für Wirtschaft und Recht machen will. Also für das Recht der Wirtschaft, würde ich mal vermuten. Das Café gehört ihm jetzt auch, oder seiner Stiftung. Dafür darf ich mir jetzt hier seine Sammlung von DDR-Kunst anschauen. Ist doch ein guter Deal, oder? Samstagsnachmittagsgedanken.

Die Wespe ist immer noch da. Anscheinend hat sie noch nicht genug zusammen bekommen für ihre Königin und deren Brut. Wer hängt eigentlich noch von dem ab, was ich übrig lasse? Wer arbeitet für mich, damit ich hier in Ruhe in die Luft schauen kann? Das Treppenhaus muss ich nicht putzen am Wochenende, das erledigt immer eine junge Frau mit Kopfhörern auf den Ohren, von der ich vermute, dass sie Ukrainerin ist. Die Wiese hinter dem Haus muss ich auch nicht mähen, und auch nicht das Laub harken, obwohl mir das mal gut täte. Das macht drei Mal im Jahr ein Trupp Gartenarbeiter, die sich ihre Stullen selber mitbringen. Mein Moped repariert eine Werkstatt in Neukölln… Und wer kümmert sich um meine Brut? Ich gerade nicht.
Oh Gott, ich bin eine überflüssige Drohne ohne Stachel. Bei den Wespen sterben diese trägen Kerle, die von den Arbeiterinnen versorgt werden, im Herbst, wenn Königin ausfliegt, um ein neues Nest zu gründen. Ich schaue auf die Eifrige, die immer noch am Milchschaum kratzt. Gottseidank, sie will Eiweiß. Das sammeln Wespen nur im Sommer (so weiß ich jetzt auch, welche Jahreszeit sich gerade unter der Dauerregendecke verbirgt). Im Herbst gehen sie dann auf Obst und Süßes, um selber wieder Energie zu sammeln. Ein paar Monate habe ich also noch. Wenn die Wespen an meinen Pflaumenkuchen gehen, wird es gefährlich für mich.

Catwalk Wedding

Wenn es Frühling wird im Wedding, wenn es endlich wärmer wird, dann blüht das Leben auf den Straßen. Die Menschen zeigen sich wieder und zeigen wieder etwas von sich. Und jedem Beobachter, der sich etwas Zeit nimmt und die Szene von einem ruhigen Kaffeehausstuhl beobachtet, wird klar: Was man im Wedding zu sehen bekommt, das ist nicht das, was es woanders gibt. Diese Styles, diese Moves und diese Mode, das ist einmalig. Was die Influencer in den Sozialen Medien verkaufen wollen, lässt die Menschen hier unbeeindruckt. Neo-Hippie-Style, Strickmoden, Skinny-Jeans. Das ist nichts für das Sehen und Gesehenwerden auf den Boulevards des Berliner Nordens. Hier trägt man mit Stolz, was man anderswo noch nicht gesehen hat oder nicht mehr sehen will.Und doch erkennt man auch in diesem Frühjahr deutlich neue Trends, die das Straßenbild prägen.

Ganz klar: Der Frühling bringt das Ende des Schwarze-Daunenjacken-Diktats auf den Straßen. Aber die neue Saison bringt leider auch nicht die Rückkehr der Farbe und der Muster, der Karos oder der Streifen (außer den allgegenwärtigen drei von Adidas). Auch der farbenfrohe Ethno-Style ist selten geworden und nur die Essensfahrer von „flink“ mit ihren schwarzen oder farbigen Turbanen verbreiten manchmal noch exotisches Flair. Der Weddinger Dresscode für diesen Frühling ist eine Wiederkehr der Einfarbigkeit und der gedeckten Töne: Hosen und Jacken meist in Schwarz, manchmal in Leder, in Beige oder in Indigo. Wenige wagen grün. Es sind weniger offen getragenen Marken-Logos zu erkennen. Kaum Röcke, Bodenlanges nur in der islamisch geprägten Mode in Hellbraun und Hellgrau. Kinderwagen und Rollatoren bleiben ein beliebtes Accessoire, weiße Plastiktüten mit Obst und Gemüse sind weiter ein Muss und ein Zeichen der Street-Credibility. Die Schuhe eher sportlich nicht nur bei den jungen Aficionados, weiße Sneaker sind auf dem Rückzug, überhaupt ist Weiß weniger zu sehen. Ausgedient hat die Bierflasche als Zeichen der Ortsverbundenheit und des Savoir-vivre. Nur in der Nähe des Leopodplatzes und um den Gesundbrunnen sieht man sie noch häufiger. Dort auch öfter individuelle Style-Kombinationen mit Decken, Capes, Plaids und halben Schlafsäcken, die gekonnt um die Schultern drapiert oder als Schärpe getragen werden. Die Mutigen tragen schon leichte Pullover, manchmal ein vorsichtiges Rosa. Es ist noch wenig Haut zu sehen, und wenn, dann unfreiwillig im üppigen Hüftbereich der Damen Herren. Der Wedding ist ein Vorreiter der natürlichen Body Positivity. Auf dem Kopf maximal Caps ohne Logo, Kopftücher und Hoodies, kaum Hüte, auch nicht bei den Damen. Verfilzte Haare und Dreadlocks sind auch nicht mehr so angesagt. Mann trägt eher kurzhaarig. Und bei den Kindern abrasierten Seiten, fast irokesig. Auch sonst hinterlassen die Friseure und Barbershops, die es an jeder Straßenecke gibt viel Bleibendes auf den Köpfen der Passanten. Bei Vielen sieht es dort aber auch lässig improvisiert oder selbstgemacht aus. Dazu werden blasierte bis grimmige Großstadtgesicher getragen, selten glattrasiert, oft mit dem überforderten Heroine-Chic, kombiniert mit einem langsamen, fast flaneurhaften Gang, manchmal trippelnd, manchmal watschelnd. Goldkettchen sind nicht mehr so offensiv sichtbar. Überhaupt wenig Schmuck im Straßenbild – anders als die Vielzahl der Juweliere und Goldhändler in den großen Straßen vermuten lassen würden. Auch keine protzigen Uhren. Das Smartphone hat alle anderen Statussymbole abgelöst. Schnurrbärte kommen wieder. Manche tragen sie aus Tradition, manche als ersten Versuch nach dem Bartflaum, wie in den 1970ern. Bei den Frauen gleichen Alters viel „Clean Girl“-Ästhetik mit starkem Make Up, betonten Lippen, ohne Falten und Unreinheiten. Sonnenbrillen als Macho Accessoire tauchen eher am Abend auf oder werden durch das Seitenfenster überschwerer PKW sichtbar. Auch wieder sichtbar: Hosen aus lockerem Baumwolljersey um nicht zu sagen: Jogginghosen, Sweatpants, die Hosen, die man trägt, wenn man sich, wie Karl Lagerfeld sagte, selber aufgegeben hat.

Ich blicke an mir selbst herab: Jeans, kariertes Hemd, zerknautschte grüne Schimanski-Jacke. Klassische Herrenmode, würde ich sagen, zumindest Anfang der 1990er. „Ich beobachte, dass viele an irgendeinem Punkt in ihrem Leben aufgeben.“, schreibt die Modejournalistin Diana Weis im Tagesspiegel. „Weil sie sowieso immer die gleichen Sachen kaufen, nämlich welche, die sie auf dem Höhepunkt ihrer Attraktivität anhatten.“ Mir scheint, dieser Höhepunkt hält bei mir jetzt schon über dreißig Jahre an.

Berliner Folklore

Manchmal mag ich es, wenn zwischen mir und der Welt etwas ist, was uns voneinander fern hält. Heute ist es die große, dicke Glasscheibe in denn‘s Biosupermarkt. Wunderbar teilnahmslos schaue ich durch die Scheibe auf das tägliche Defillee der Versehrten und Verhärmten, der Humpelnden und Tanzenden, der Bunten und der Grauen. Es muss mich nichts angehen. Ich darf meinen Kaffee trinken und mich über meine Rechnung ärgern und mich wunderbar geborgen fühlen, in der klimatisierten sterilen Umgebung des wohltemperierten Überflusses. Schön ruhig ist es hier auch. Vom Verkehr auf der vierspurigen Müllerstraße kriegt man nichts mit. Denkt man, aber ich merke es doch, als es draußen keine Autos mehr gibt. Ein Polizeiwagen hat sich quer gestellt. Ein dicker Beamter und seine dicke Kollegin unterhalten sich gemütlich vor dem Wagen, auf dessen Dach eine grüne Fahne weht. Grüne Fahne heißt: Was Offizielles. Poliziekolonne, Staatsbesuch oder ne Demo. Da fällt mir ein, dass es heute ja der Tag ist, an dem traditionell Beamte aus dem ganze Bundesgebiet in Hunderterschaftsstärke ihre Kolleginnen und Kollegen in Berlin besuchen kommen. Jeder Beruf hat so seine Folklore. Und da kommen auch schon die blau-weißen Mercedes-Busse mit den schwarz getönten Scheiben. Zuerst kommen etwa zehn mit NRW-Kennzeichen und drehen artig eine Wende vor meiner Nase. Dann kommt Fußvolk mal mit martialischem Barret, mal mit freundlichem Basecap, aber immer zu dick angezogen für den freundlichen Frühlingstag und immer in schwarz mit Nummer auf dem Rücken. Früher gabs mehr Grün und mehr Helme. Interessiert mustere ich die bunten Landeswappen auf den Oberarmen. Langsam wäre es Zeit für einen Spielmannszug oder ein wenig Tanz. Und weil das Wünschen wieder geholfen hat, kommt ein Lautsprecherwagen von einer Leihfirma mit Boxen drauf. Schrammelige Antifamucke wird gedröhnt. Es könnte interessant werden. Ich verlagere meinen Platz nach draußen. Neben mir am Tisch nimmt eine Frau mit einer Schale Bulgur vom türkischen Laden nebenan Platz. Wir grinsen uns an: „Beste Plätze“ sagt sie. Auch bei der Tanzgruppe, die dem Wagen folgt, ist schwarz die vorgegebene Kleiderfarbe. Ein wenig verschlissener, nicht ganz so dick aber ebenso unpassend für die Witterung. Palästinensische Fahnen werden getragen. Aber ein freundlicher Vierfarb-Flyer-Verteiler klärt uns auf, dass es um Frieden geht. Frieden den Parkbänken, Kampf den Luxuswohnungen. Mir fällt auf, dass ich vor einem Neubau sitze, der außer einem überteuerten Bio-Laden weitere überteuerte Mikro-Appartments behaust. Nach hergebrachtem Brauch müssten jetzt Farbbeutel auf die Glasscheiben des Gentrifizierungssymbols fliegen, doch diese liebe Tradition hat die junge Generation zu üben vernachlässigt. Dafür werden über Generationen überlieferte Sprechgesänge skandiert. Geläufig ist mir der mit der internationalen Solidarität, die hoch ist oder hoch gehalten werden soll, der poetische Text ist da grammatisch nicht eindeutig. Auch wird nicht gesagt, von wem. So ist das mit der Volkskunst. Und dann ist es auch schon wieder vorbei. Ein wenig enttäusch schaue ich meine Nachbarin an. Die hat aufgegessen und verabschiedet sich gut gelaunt. Ich bleibe, bis sich die Nachhut der Gäste mit brandenburgischem Landeswappen und die Motorradstaffel verzogen haben. Eine Leere macht sich in mir breit, als ich zu meinem Moped stapfe und innerlich hoffe, dass keiner der gelangweilten Polizisten auf den Gedanken kommt, daran eine Verkehrssicherheitskontrolle vorzunehmen. Aber selbst das würde ich in Kauf nehmen, denn es würde mir das Gefühl geben, dass alte Bräuche, die ich noch aus meiner Jugend kenne, weiter gepflegt werden. Und das gibt einem Sicherheit in Zeiten wie diesen.

Rotzlöffel

Wieder so ein Feierabend. Sonne scheint, Luft riecht gut der Himmel hängt hoch. Endlich! Aber keiner da für ein bisschen dummes Gerede in einem Biergarten, oder einem Café. Keine Kraft, jemand anzurufen, warum immer ich? Nach Hause will ich nicht. Nach einem Wochenende mit meinen lauten Jungs ist die Wohnung immer so leer und leise. Schnecken haben sie nochmal gesammelt, nachdem uns der Regen im Park überrascht hat. Sie haben ihnen noch mal Nester aus Blättern und Stöckchen gebaut. Aber dann haben sie sich zerstritten und die Tiere draußen im Hof ihrem Schicksal überlassen.

Also schlinger ich ein bisschen durch die Stadt. Kenn ich. Alles was ich sehe, hab ich schon mal gesehn. Mal was Neues ausprobieren. SuperCoop? Da will ich nicht hin, muss aber. Muss man ja unterstützen, wenn sich 500 Leute zusammentun und einen Bio-Supermarkt gründen. Muss man? Die Idee käme aus New York, schreiben die jungen Rotzlöffel. Was wissen die denn? Hätten nicht nach Amerika fliegen müssen, die Klimaretter, hätten mich mal fragen sollen. „Wurzelwerk“ hieß der selbstverwaltete Bio-Laden im Friedrichshain, in dem ich schon in den 90ern im Vorstand war. Danach LPG und dann „Natürlich Bio“. Bis der letztes Jahr pleite ging. War nicht schade drum. Die überreifen Tomaten und welken Salate hab ich am Ende nur noch gekauft, weil ich die Besitzerin nach 10 Jahren nicht im Stich lassen wollte. Will ich mir jetzt wirklich wieder die Abende um die Ohren hauen wegen der Frage, ob man im Winter Paprika aus Ägypten ins Regal nehmen soll? Und dann sehen, dass deine Leute sie dann doch einfach bei Edeka kaufen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Die Coop-Regale in der alten Fabrikhalle haben den Charme eines Lebensmittellagers vom Roten Kreuz. Nur keine Begierden wecken. Freundlich erklärt mir die junge Frau mit den kunstvoll vernachlässigten Haaren die Konditionen für den Kennenlernabend und den obligatorischen Arbeitseinsatz. Nur nicht sagen, dass sie mir gefällt. Nur keine Begierden wecken. Keine Lust hier zu stöbern, keine Lust, was auszuprobieren. Lieber wieder wie gestern unbekannte Früchte und verlockend glänzende Berge gerösteter Nüsse beim Baharat-Markt kosten als krümmliges Knabbergebäck zum selbst Abfüllen. Raus hier. Gehe heute lieber zu Ramona ins Café Kibo. Ramona war mal blond, heute hat sie eine schwarze, stachlige Punk-Frisur. „Du wirst immer schöner“, fange ich an. „Hab ich gemacht, weil ich Frust hatte.“, winkt sie ab. Ihre Tochter, die mit meinen Jungs in der Kita war, hab ich schon lange nicht mehr gesehen. Den Vater auch nicht. „Wie willst du deinen Kaffee?“ Ein Satz, und ich fühle mich willkommen. Die Bistro-Tische sind klapprig, die Farbe ist abgeplatzt, nebenan hat einer in der Shisha-Bar das große Wort. „Sagt der: Du hast Bankkaufmann gelernt, für einen Dönerladen bist du total überqualifiziert..“ Dann gehts weiter mit Autos und Tricks bei den Versicherungen. Der Sound des Wedding. Nach einer Ewigkeit kommt der Kaffee. Der schlacksige Kerl, der ihn zu meinem Tisch balanciert ist neu hier und hat einen drolligen französischen Akzent. „Tut mir leid, hab dich total vergessen. Ramona sagt, der Kaffee geht aufs Haus.“

Heimatlos

Die Trinker von der „Gemütlichen Ecke“ stehn jetzt auf der Straße. Sie sind ihrer Kneipe treu, den ganzen Winter schon. Nur eben draußen. Ihr Bier holen sie sich von Jashims Tante Emma Laden. Da gehe ich auch gerade hin mit meinem Leergut von der letzten Woche, neues Bier holen. Eigentlich könnt ich mich dazustellen, denn jetzt ist es schön warm und sonnig. Aber ich will nicht mehr auf der Straße rumtreiben wie ein räudiger Köter. Ich will heim. Zu Mittag war ich im Fleischerimbiss, da gab’s ne gute Suppe. Aber keine Teller. In einen Pappbecher haben sie die gefüllt, wie Kaffee und damit musste ich dann raus auf die Straße. Hab mir einen Verteilerkasten von der Post gesucht und mein Süppchen draufgestellt. Schauen einen die Leute schon komisch an, wenn man da so vor sich hin löffelt. Sogar im Wedding. Woanders auch. Als ich im Westend mir bei „Butter Lindner“ mal Fleischsalat und ne Schrippe gekauft hab und mich damit auf eine Vorgartenmauer gesetzt habe, um zu essen, da haben die älteren Damen ganz wohlerzogen und ein bisschen belustigt „Guten Appetit“ gewünscht. Machten aber einen Bogen um mich. Eine Frau, die sich einen Döner gekauft hatte und verschämt reinbiss, zwinkerte mir zu: „So was macht man hier eigentlich nicht, aber geht ja grade nicht anders und ist ja eigentlich auch ganz lustig.“ Nee, ist gar nicht mehr lustig. Ich will wieder von einem Teller essen und an einem Tisch sitzen. Am Mexicoplatz gibts einen lecker Fleischerimbiss, und draußen vor der Tür gibs ein altes Bierfass, das vor einer geschlossenen Kneipe steht. Denkste geschlossen. Kaum stell ich mein Gulasch drauf, kommt schon der Kneipenmensch und vertreibt mich. Bin dann um die Ecke gegangen und habs auf einen Briefkasten gestellt. Eigentlich ist essen im Freien so ne Marotte von mir. Irgendwo hinsetzen, auf Treppenstufen, auf einen Poller oder eine Bank. Essen und Leute gucken, das mag ich. Sieht man ne Menge bei. Wer sich abhetzt, wer neidisch guckt, wer einen für einen Penner hält. So was. Mein Lieblingsplatz ist vor dem türkischen Cafe bei mir um die Ecke, wo ich mir morgens um 10 einen Kaffee hole und mich an den Stehtisch stelle, den sie da für die Raucher hingesellt haben. Das ist mein Ausguck. Komm ja sonst nicht unter Leute, wenn ich Homeoffice mache. Die Leute da kenn mich schon. Ein kleiner Kaffee, Becher bring ich selber mit und einen von den harten Keksen, die die Mutter vont janze backt. Die schmecken wie die Hasch-Kekse von früher, is aber nix drin. Kommt da neulich einer mit som kleinen Hund, der hinkt und fragt, ob ich mal drauf aufpassen kann. Na, da hab ich mir doch gleich gedacht, da hol ich mal die Polizei. Denn der Hund, dem gehts nicht gut, das sah man, den hat jemand verprügelt. Und der Typ sah auch gleich so aus. So mit Basecap und Trainingsanzug und rote Badelatschen. „Sach ma“, sag ich, als der wieder mit ner Tüte Brötchen rauskommt. „Sach mal, deinem Hund gehts nicht gut. Was haste denn mit dem gemacht?“ Wird der rot und sacht: „Den hab ich geklaut, mit meiner Mutter zusamm.“ Wie?“, sach ich. „Ja, der gehört einem in unserm Hinterhaus und jede Nacht hat man gehört, wie der den Hund geprügelt hat. Und als der den mal wieder raus aufn Flur geschmissen hat, da ham wir uns den geschnappt. Is n ganz Lieber. Ronny nennen wir ihn. Der Tierarzt meint, das Bein wird nicht wieder.“ Ja, so kann man sich täuschen. Aber Geschichten hört man nur, wenn, man einfach mal auf der Stelle stehn bleibt, in Ruhe einen Kaffee trinkt und sich die Leute anguckt.
Aber trotzdem nervts mit Corona. Als mein Bäcker zu hatte bin ich zu Edeka und wollte mir da einen Kaffee holen. Ist da so ein Piefke und sacht mir: „Sie haben den falschen Mundschutz an.“ Denk ich hab mich verhört und der meint: Sie ham den Mundschutz falschrum auf. Passiert ja manchmal. Aber der sacht „Mit OP-Maske is nich mehr, sie brauchen FFP 2.“ Ich sach dem Jüngelchen: „Und was is das auf deiner Nase? Ist doch auch nur ne OP-Maske. Sind deine Viren besser als meine?“ Sacht der Schnösel: „Für den Verkauf gibt es eine Ausnahmeregelung.“ Und weil es für alles eine Ausnahmeregelung gibt, konnt ich ihm noch nicht mal anders kommen. Aber seine Virenschrippen konnt er behalten.
Aber wissen se was wirklich schlimm ist? Nicht, dass man nicht mehr wie ein ordentlicher Mensch behandelt wird, nicht das man nicht mehr wegefahren kann, sondern, dass se einem auch noch die Träume nehmen. Wollt ich mir nämlich mal was Gutes tun und bin morgens zum „Simit Evi“ neben dem Jobcenter. Das ist ein türkisches Frühstückscafe das wirklich so aussieht wie in der Türkei. Sesamkringel und Frühstück mit Oliven, Schafskäse und Spiegelei und natürlich sind da echte Türken drin. Wenn ich mich da rein setze und so einen kleinen Tee im Tulpenglas trinke, dann is das wirklich wie damals, als wir auf unserem lezten Urlaub vor den Kindern, irgendwo zwischen Ankara und Kayseri in einer Raststätte halt gemacht haben. Irgendwo an der Landstraße und nur Landschaft um uns rum, den Schlüssel vom Mietwagen auf den Resopaltisch gelegt und in die Sonne geguckt. Aber was machen die Berliner Türken, als sie bei Corona nix mehr zu tun haben? Die bauen um. Jetzt hängen da stylische Lampen und man kriegt zwölf verschiedene Sorten Kaffee und Pizza. Das hat hier gerade noch gefehlt.
Ich sach euch, nach Corona is auch nich alles wieder gut. Schönen Abend noch.