Hinterhofgespräche

Die schmale Haustür steht offen und gibt den Blick frei in einen schattigen Hinterhof mit etwas Grün. Grün im grauen Wedding? Neugier zieht mich in den dunklen Flur. Ein altes Schild „Kinderwagen und Fährräder abstellen strengstens untersagt!“ Ein neues Schild einer neuen Hausverwaltung aus Halle, die das füttern von Tieren im Hof verbietet, weil das „Ungeziefer“ anlocke. Der Hof war mal groß, jetzt wird er zum Nachbarhaus durch eine graue Wellblechwand getrennt, an der überfüllte Mülltonnen stehen. Die gefiederten hellgrünen Blätter von zwei wild gewachsenen Ebereschen machen das Grau der grob verputzen Hauswände nur noch dunkler. In den vergitterten Fenstern im Parterre des Vorderhauses sind schmuddelige Kuscheltiere eingeklemmt. Als ich ein Foto davon mache, steht plötzlich ein Mann neben mir. 1,90 groß, breite Schultern, schwarze Basecap, irgendwas in Frakturschrift auf seine schwarze Hose gedruckt. Security? Hausmeister? Nazi?  Ich versuch‘s mit Dreistigkeit. „Wissen Sie, wieso die Kuscheltiere dort hängen?“ Die Antwort verstehe ich nicht gleich. Er sucht die richtige Reihenfolge für die deutschen Worte. „Wasserpfeifen“, verstehe ich und „Dampf“ und ich reime mir zusammen, dass er die Shisha-Bar im Vorderhaus meint. „Weil die immer Dampf in den Hof blasen, und das so freundlicher ist, für die Nachbarn“, verstehe ich. Und, er deutet auf die Mülltonnen: „Weil man dann was Schönes sieht und nicht den Dreck.“ „Wenn du Kinder hast: Nimm mit.“, läd er mich ein. „Drei Söhne“, fange ich an zu plaudern. „Aber die sind aus dem Alter raus.“ „Ich hab auch einen Sohn, 25, aber nicht ganz gesund. Lebt nicht bei mir.“ Trauriges Thema. Er kommt von selbst auf was anderes. Erzählt, dass er schon lange hier lebe und, dass die Hausverwaltung gewechselt habe. „Kein Hausmeister. Immer wenn du was willst, musst du ein Formular schreiben.“ Aus dem Treppenhaus des Hinterhauses kommt ein Mann mit einer Werkzeugtasche und läuft geschäftig an uns vorbei. Ein Handwerker, und das an einem Samstagmorgen. „Kein Hausmeister?“, runzle ich die Stirn. „Und was ist das?“ „Das ist für die neuen Häuser.“, sagt er. Ich suche mit den Augen einen Neubau, bis ich verstehe, dass die Handwerker leerstehende Wohnungen im Haus renovieren, die teuer neu vermietet werden. „Beim Nachbarn ist der Boiler kaputt. Seit drei Monaten. Da kommt niemand.“ Wir reden weiter über Politik, über Gaza und die kaputten Schulen und die Jobcenter. Da ist er Kunde. „Wird jetzt schwieriger, wegen der Regierung.“ Zwei Jahre habe er noch. Er sei 65, selber nicht mehr ganz gesund. Gutachten, Ärzte, Formulare. Er hoffe, dass er bald die Rente bekomme. „Ich hab auch noch zwei Jahre“. „Wenn die Regierung uns nicht noch länger warten lässt.“, flachst er ironisch zurück. Wir wünschen uns Glück, Gesundheit und ein gutes Wochenende.

Unglaubliche Begegnung

Wenn man sich Zeit lässt, sieht man was. Ungesehenes, Unglaubliches manchmal. Damit meine ich nicht den Staatsbesuch mit Motorradeskorte, in den ich vor dem Brandenburger Tor hineingeraten bin. Das passiert mir oft, weil das Hotel Adlon auf meinem Arbeitsweg liegt. Aber als ich nach Hause komme, so vor mich hin trödelnd, gar nicht von der Straße weg wollend, noch ein Eis essend (Milch und Honig mit Majoran – hmm!) sehe ich an der Straßenecke einen Wagen von der BSR, der Berliner Stadtreinigung, in den zwei orange Männer herumstehende Einkaufswagen einladen. Das hab ich noch nie gesehen! Die Einkaufswagen vermehren sich in unserer Straße wie die Tauben auf dem Dach. Wer sie da hin stellt und warum, ist mir ein Rätsel, Ich hab auch noch nie jemand gesehen, der mit einem Wagen vom Aldi oder Kaufland um die Ecke zu uns gekommen wäre. Vielleicht ist es ein nächtlicher Sport, vielleicht frühmorgendliche Langeweile. Auf jeden Fall habe ich auch noch nie jemand gesehen, der sie wieder abholt – bis heute. Ob ich von dem einmaligen Ereignis ein Foto machen darf, frage ich die beiden Männer, die gerade mit ihrer Hebebühne nach oben fahren.

Und schon haben die Jungs Lust, ein bisschen zu quatschen. Sonnengebräunt und kahlköpfig und mit schicker Brille der eine, rundlicher und schwarzhaarig der andere. Zeit für eine Zigarette. Ob die Supermärkte die Wagen denn wieder zurück haben wollen?, fange ich das Gespräch an. „Lidl schon, Kaufland auch, aber auch erst seit ein paar Jahren.“ „Die anderen kümmern sich nicht drum, da gehen die Wagen bei uns gleich in die Presse.“, ergänzt sein Kollege. Müll ist ein ergiebiges Thema: Ich höre von einem Haufen aus 250 Autorreifen in der dunklen Straße hinter dem Goethepark, die ein Händler dort abgekippt hat. Es geht weiter zu Asbestplatten am Großmarkt und Kühlschränken, die schneller auf die Straße gestellt werden, als die fleißigen Müllwerker sie abholen können. Manchmal sei der Wagen schon voll, bevor sie an ihren Einsatzort kämen. Ein mal die Woche kämen sie hier im Viertel durch und ich weiß, dass wir nun im Bereich der Sagen und Märchen angelangt sind. „Drei Monate hat es gedauert, bis der Kühlschrank vor unserem Haus abgeholt wurde, den ich dem Ordnungsamt gemeldet habe.“, versuche ich den Realitätscheck. Aber die Männer in Orange kann so schnell nichts aus ihrer „Kurz vor Feierabend-Gute-Laune“ bringen. „Ja im Winter, da müssen wir ja auch noch die Streufahrzeuge fahren.“, kommt es mit einem letzen Zug aus der Zigarette. Erst jetzt fällt mir auf, dass keiner der beiden berlinert hat. Die Kippe wirft der Kahlköpfige auch nicht auf den Boden. Er gibt sie seinem Kollegen, der sie in den Mülleimer auf der anderen Seite bringt. Ich mag Männer mit Manieren und Männer, die ihren Beruf ernst nehmen. Und bevor er sich zum Gehen umdreht, höre ich mich sagen: „Einen schönen Abend noch. Und ich möchte Ihnen einfach mal Danke sagen, für ihre Arbeit.“ Das Lob gefällt ihm. Er nickt und ist schon wieder halb in seinem Wagen verschwunden. Er muss weiter, ich auch. Vor dem Eingang des Nachbarhauses haben zwei Polizeiwagen mit Blaulicht gehalten. Zwei Frauen unterhalten sich mit den Männern in Schwarz. Noch eine Geschichte heute Abend?

Stayn alive

Nein, Alkohol ist auch keine Lösung, obwohl das viele hier versuchen. Und nach der Sylvesternacht nüchtern durch mein Viertel zu gehen, ist an diesen unwirklichen Tagen zwischen den Jahren wirklich nicht einfach. Geflüchtet unter ein Brandenburger Flachdach komme ich am Neujahrstag zurück und mache meine jährliche Runde um den Block. Aber ich weiß immer noch nicht, ob das hier noch lebt, oder ob ich in einer untoten Stadt gelandet bin. Freunde waren im vergangenen Jahr in den USA und erzählten von Stadtzentren, in denen alle Läden geschlossen waren und sich auf den Straßen nur noch Menschen bewegten, die wie Zombies aussahen. Ich sach mal: Den Flug hätten sie sich sparen können. Hätten sie sich mal in die BVG gesetzt und wären mich besuchen gekommen. Allerdings: Weit wären sie damit nicht gekommen. Denn seit Sylvester fährt die Straßenbahn hier nicht mehr. Ausgestorben und leer sind die Haltestellen, verstummt die ratternden Schienen, ein großer Krater mitten auf der Strecke. Keine Kugelbombe wars, sondern ein 100 Jahre altes gusseisernes Wasserrohr ist gleich nach dem Feuerwerk geplatzt. Zu viel Vibration. Hätte längst ausgetauscht werden sollen, aber das hätte ja bedeutet, dass man die Straßenbahn hätte stilllegen müssen. Jetzt kann man hier Geisterbahn fahren, oder schnallt sich besser gleich die Rollschuhe unter.

Menschen, die unter einem Haufen Decken schlafen, und bei denen man nicht weiß, ob darunter noch ein lebender Körper liegt, gibt es hier auch in vielen Hauseingängen. So viele, dass ich sie schon nicht mehr wahrnehme. Einem, der immer würdevoll aufrecht vor einem neu renovierten leeren Ladengeschäft sitzt und aussieht wie eine Mischung zwischen Weihnachtsmann und indischem Guru hab ich gestern ein paar Münzen in die Filzpantoffel gesteckt, die er vor seinem Lager aufgestellt hat.

Bleiben die Zombie-Läden. Es werden immer mehr Läden in den Haupt- und Nebenstraßen, bei denen ich mich frage: Lebt da noch was? Machen die noch mal auf? Wird das noch was oder kommt da noch was Neues? Laden zu, Auslage leer und nicht immer ein Schild, das einem sagt was hier mal war, ob hier was kommt, oder ob einfach nur bis zum Ende der Weihnachtsferien zu ist. Der Uhrmacher, der Optiker und der Musikalienladen sind schon lange weg. Hier sind jetzt ein Shisha-Shop, eine Obdachlosenberatung oder auch einfach das Nichts eingezogen.

Und dann gibt es noch die Geschäfte, von denen man denkt, die sind doch bestimmt tot, da ist doch alles vorbei. Und dann brennt da doch noch ein kleines Licht, dann geht es doch irgendwie weiter. Die Fischerpinte am Plötzensee, die noch so lange leben darf, bis der Besitzer stirbt, der Angelladen, der gleich neben den leeren Schaufenstern seines alten Geschäfts ein neues Geschäft aufgemacht hat, der Buchladen, den die beiden Besitzer schon mehr als 40 Jahre führen und so lange offen halten wollen, bis sie umfallen. Und der windschiefe Kiosk von Herrn Nguyen, der die Nachbarschaft mit Schnaps und guten Worten versorgt. Und natürlich der Karstadt. Dieser riesige leere Betonklotz, der mit seinen zerrissenen und im Wind wehenden grauen Sicherungsnetzen an der Fassade schon von alleine aussieht wie eine Kulisse aus einem Endzeitfilm. Am Anfang des Jahres soll hier ein LIDL einziehen. Wenigstens ins Erdgeschoss. Na, ist doch was.

Ja und noch schöner ist es im neuen Jahr was wirklich Neues zu entdecken. Gleich neben dem nassen Loch in der Straßenbahntrasse sehe ich in der Nebenstraße diesen strahlenden Engel. Ein Geschäft mit Glamour und Schönheit in dieser grauen Ecke. Ja, ja: Es geht immer weiter. Und die Überraschungen hören nicht auf. Auch auf diesem Blog. Ein schönes neues Jahr wünsche ich euch.

Berliner Botanik

Ist eine Ärztin in meiner Leserschaft, oder wenigstens ein Botaniker? Bitte melden sie sich schnell. Es geht um Leben und Tod. Kalter Schweiß steht mir auf der Stirn und im Bauch ist mir blümerant.

Frau Doktor, nach einer harten Arbeitswoche ging ich Waldbaden. Soll man jetzt ja so machen. Ich ging also nur im Park so für mich hin, nach schmackhaften Früchten stand mir der Sinn. Ich kam an einem Baum, nein eher einem Strauch vorbei, der mich mit roten Beeren lockte. Sie müssen wissen, dass ich bei den Pfadfindern war und gelernt habe, im Wald Essbares zu finden. Bucheckern, Brombeeren, Blaubeeren, kaum gesehen wandert es in meinen Mund. Sogar Sauerampfer weiß ich im Sommer zu genießen. Meine Kinder denken, ich bin ein Pferd. Aber als Pfadfinder hab ich natürlich gelernt: Iss nie etwas, was du nicht kennst. Von Pilzen lasse ich die Finger. Von Vogelbeeren auch. Aber diese roten Dinger, sehen die nicht aus wie Kirschen? Oder sehen Kirschen nicht irgendwie anders aus? So mit Zacken an den Blättern?

Und ich weiß nicht wie’s passiert ist, schon hab ich so ein Ding im Mund. Nicht schlecht, ein bisschen sauer, Kern in der Mitte. Doch eine Kirsche? Aber ist die Kirschenzeit nicht schon vorbei? Wer weiß das heutzutage noch , wo es alles zu jeder Zeit im Supermarkt gibt? Das war doch jetzt nicht schlimm, oder? Ich meine, das ist doch ein öffentlicher Park, da darf doch gar nichts Giftiges wachsen. Da passt doch einer drauf auf, schon wegen der Kinder, so von Amts wegen? So richtig glaube ich das aber nicht mehr. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass sich die Berliner Grünflächenämter in die ewigen Ferien verabschiedet haben, wenn ich so in die Botanik schaue und sehe wie alles zuwächst.

Jetzt weiß ich nicht was ich tun soll. Klatschnass bin ich, was nicht daran liegen kann dass es nach dem letzten Schauer im heißen Park dampft wie im Urwald und dass ich eine Jacke anhabe, weils ja eben noch geregnet hat. Um es kann auch nicht am Schwedenbecher liegen, den ich im Eiscafe mit extra Eierlikör bestellt habe. Ach sie wissen nicht was ein Schwedenbecher ist? Ist auch egal. Irgendwas stimmt nicht mit mir. Bitte melden Sie sich schnell….

Rotzlöffel

Wieder so ein Feierabend. Sonne scheint, Luft riecht gut der Himmel hängt hoch. Endlich! Aber keiner da für ein bisschen dummes Gerede in einem Biergarten, oder einem Café. Keine Kraft, jemand anzurufen, warum immer ich? Nach Hause will ich nicht. Nach einem Wochenende mit meinen lauten Jungs ist die Wohnung immer so leer und leise. Schnecken haben sie nochmal gesammelt, nachdem uns der Regen im Park überrascht hat. Sie haben ihnen noch mal Nester aus Blättern und Stöckchen gebaut. Aber dann haben sie sich zerstritten und die Tiere draußen im Hof ihrem Schicksal überlassen.

Also schlinger ich ein bisschen durch die Stadt. Kenn ich. Alles was ich sehe, hab ich schon mal gesehn. Mal was Neues ausprobieren. SuperCoop? Da will ich nicht hin, muss aber. Muss man ja unterstützen, wenn sich 500 Leute zusammentun und einen Bio-Supermarkt gründen. Muss man? Die Idee käme aus New York, schreiben die jungen Rotzlöffel. Was wissen die denn? Hätten nicht nach Amerika fliegen müssen, die Klimaretter, hätten mich mal fragen sollen. „Wurzelwerk“ hieß der selbstverwaltete Bio-Laden im Friedrichshain, in dem ich schon in den 90ern im Vorstand war. Danach LPG und dann „Natürlich Bio“. Bis der letztes Jahr pleite ging. War nicht schade drum. Die überreifen Tomaten und welken Salate hab ich am Ende nur noch gekauft, weil ich die Besitzerin nach 10 Jahren nicht im Stich lassen wollte. Will ich mir jetzt wirklich wieder die Abende um die Ohren hauen wegen der Frage, ob man im Winter Paprika aus Ägypten ins Regal nehmen soll? Und dann sehen, dass deine Leute sie dann doch einfach bei Edeka kaufen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Die Coop-Regale in der alten Fabrikhalle haben den Charme eines Lebensmittellagers vom Roten Kreuz. Nur keine Begierden wecken. Freundlich erklärt mir die junge Frau mit den kunstvoll vernachlässigten Haaren die Konditionen für den Kennenlernabend und den obligatorischen Arbeitseinsatz. Nur nicht sagen, dass sie mir gefällt. Nur keine Begierden wecken. Keine Lust hier zu stöbern, keine Lust, was auszuprobieren. Lieber wieder wie gestern unbekannte Früchte und verlockend glänzende Berge gerösteter Nüsse beim Baharat-Markt kosten als krümmliges Knabbergebäck zum selbst Abfüllen. Raus hier. Gehe heute lieber zu Ramona ins Café Kibo. Ramona war mal blond, heute hat sie eine schwarze, stachlige Punk-Frisur. „Du wirst immer schöner“, fange ich an. „Hab ich gemacht, weil ich Frust hatte.“, winkt sie ab. Ihre Tochter, die mit meinen Jungs in der Kita war, hab ich schon lange nicht mehr gesehen. Den Vater auch nicht. „Wie willst du deinen Kaffee?“ Ein Satz, und ich fühle mich willkommen. Die Bistro-Tische sind klapprig, die Farbe ist abgeplatzt, nebenan hat einer in der Shisha-Bar das große Wort. „Sagt der: Du hast Bankkaufmann gelernt, für einen Dönerladen bist du total überqualifiziert..“ Dann gehts weiter mit Autos und Tricks bei den Versicherungen. Der Sound des Wedding. Nach einer Ewigkeit kommt der Kaffee. Der schlacksige Kerl, der ihn zu meinem Tisch balanciert ist neu hier und hat einen drolligen französischen Akzent. „Tut mir leid, hab dich total vergessen. Ramona sagt, der Kaffee geht aufs Haus.“

Auf dem Weg ins Paradies

Natürlich gibt es das Paradies auf Erden. Und es ist gar nicht so schwer, da hin zu kommen. Man muss in Wandlitz einmal links und einmal rechts abbiegen und dann noch zwei Kilometer geradeaus. Mehr wird hier nicht verraten. Denn sonst wäre es ja kein Paradies mehr, sondern noch ein überfüllter Badesee in Brandenburg. Im Paradies gibt es alles was man braucht – und nicht mehr. Eine grüne Wiese, die nicht zu voll ist, Schatten, Fischbrötchen (Bismarck und Matjes, wir haben beide Sorten) alkoholfreies Bier und nach dem Baden einen Kaffee und eine knusprige Waffel aus einem hübsch im rosa Retro-Wirtschafswunderstil renovierten Wohnwagen der „Waffeltanten“. Die Waffeln sind besser als die nach dem 50er-Jahre Rezept meiner Mutter (Kartoffelmehl war ihr Geheimnis) und die Tanten sind kesse Berlinerinnen, haben ein kleines Tatoo irgendwo und sind netter als meine Wirtschaftswundertanten. Die sahen nämlich so aus (der im Ringelpulli bin ich):

Sie rochen nach Drei-Wetter-Taft, Trevira und zu engem Mieder und hatten garantiert schlechte Laune, oder einen Likör zu viel.

Aber im Paradies darf man ja nicht ewig bleiben, ist nun mal so. Steht schon auf der Eintrittskarte. Außerdem: was wäre denn mit dem Rest der Welt, wenn man das Paradies immer um die Ecke hätte? Wie würde sich denn das anhören, wenn die Kolleginnen fragen: „Wohin fährst du in Urlaub?“ und ich jedes Mal antworte:„Nach Brandenburg, ins Paradies!“ Ne, irgendwann muss da mal was Abenteuerlicheres her. Also gehe ich jetzt meinen Freund besuchen, der seit einem Jahr auf Kreta lebt. „Musst nicht alles glauben, was da in der Katastrophenberichterstattung kommt. So mit 40 Grad, Waldbrand und Stürmen. Ist hier alles nicht so.“ Na, da bin ich ja beruhigt und muss auch kein schlechtes Gewissen haben, dass ich direkt nach Heraklion fliege und nicht wie ursprünglich geplant mit Interrailpass (für Senioren) und Fähre (Abenteuer!) runter fahre. Zur Sicherheit vereinbaren wir, dass er mich vom Flughafen abholt – und wenn ich abstürze, dann aus dem Meer. Ich baue ganz fest darauf, das er es auch tut. Er ist ein guter Freund und auf die Küstenwache ist im Mittelmeer kein Verlass mehr. Vorher werde ich aber noch die Apotheken und Drogeriemärkte abklappern, um ihm und seiner Frau all die Sachen mitzubringen, ohne die es sich im Garten Eden dann doch nicht glücklich sein lässt und komme mit dabei vor wie Leonardo de Caprio in „The Beach“, als er auf geheime Shoppingtour gehen musste für all die Mittelstandskinder, die zum absoluten Glück an der Beach dann doch noch Schokolade und Marshmellows brauchten. Und meine Steuererklärung will ich endlich noch abgeben, vor dem Urlaub. Ich bringe sie persönlich beim Finanzamt vorbei. Das sieht bei uns so aus:

Entspannt in der Sonne liegen könnte ich also eigentlich auch hier.

New kids on the block

Wie alle Traditionsunternehmen hat dieser nun schon viele Jahre bestehende Blog Sorgen – Nachwuchssorgen. Ja man könnte sagen, Nachwuchssorgen sind von Anfang an der Grund dafür gewesen, dass es diesen Blog überhaupt gibt. Denn hätten nicht meine drei Buben und ihre große Schwester mich ein übers andere mal mitten ins Leben und über meine Grenzen gebracht, wovon hätte ich dann zu erzählen gewusst?
Es ist nicht ruhiger geworden über die Jahre, aber ich werde älter, sitze öfter bei Ärztinnen und Ärzten als am Laptop und natürlich treibt mich die bange Frage um: Was wird aus meinem Blog, wenn ich mal nicht mehr kann? Da kommt mein Jüngster heute zu mir und fragt mich, ob wir eine Fotosafari einmal um den Block machen wollen? Ich mit meiner alten Kamera und er mit meinem Handy. Als wüsste er, dass Fotospaziergänge „Einmal um den Block“ einmal zum festen Repertoire meines Blogs gehört haben. Ein Traum wird wahr: Mein Sohn tritt in meine Fußstapfen und macht eine Lehre beim Vater, dabei ist er erst acht. Natürlich weiß ich, dass mein Kleiner weiß, wie er mich um den Finger wickelt, um das zu bekommen, was er von mir will. Also legt er ganz unauffällig die Route vorbei an der kleinen Bäckerei und an dem Eiscafé, das wir nach der Besitzerin „Ramona“ nennen. Und natürlich kennt er nach der halben Strecke schon mehr Einstellungen an meinem Handy als ich da je gefunden habe, und natürlich kriegt er ein Schokobrötchen und ein Eis – und der Vater gleich mit. Aber ist es nicht wirklich erfrischend, die alten Wege mit neuen Augen zu sehen? Wusstet ihr schon, dass Essigbäume aussehen können wie Palmen? -wenn man noch keine echte Palme gesehen hat. Und dass der Mobilfunkmast in der Nebenstraße sehr viel imposanter ist als der Fernsehturm weit weg in Mitte?
Sehr froh über den neuen Mitarbeiter grüße euch ich aus dem brodelnden Kiez in Berlin Wedding.

Frühlingsbrot

Drei Kilometer mit dem Rad musste ich heute fahren. Drei Kilometer in der Hoffnung, einen Laib Brot zu ergatterten. Drei Kilometer am Samstagmorgen mit knurrendem Magen. Und dann das! Eine lange Schlange vor dem Bäcker. Alte, Frauen, Kinder und viele junge Mützenträger mit Bart und junge Frauen mit Dutt warteten von der Bushaltestelle bis zum Ladeneingang geduldig im korrekten 1,5 Meter Coronaabstand (gelernt ist gelernt) vor der puritanisch schmucklosen „Hansi-Brot“-Bäckerei. Sollte ich mich anstellen? Was ist los in Berlin? Ist das Brot knapp? Haben die Russen wieder eine Blockade über die Stadt verhängt? Oder hat der Streik auf den Flughäfen und bei Bahn zur Lebensmittelknappheit geführt? Kommt das Brot für Berlin eigentlich noch mit Rosinenbombern?
Ja, manchmal schon, wenn man ordentliches Brot haben will. Die Verkäuferin in der Filiale der Münchner Bäckerkette „Hofpfisterei“ in Berlin-Mitte verriet mir, dass die „Teiglinge“ für die rustikalen, bayerischen Bauernbrote täglich frisch mit dem Flieger von München nach Berlin kommen. Sie sagte das nicht mit schlechtem Gewissen, sondern mit Stolz über die bayerische Backkunst. Ist Berliner Bäckern zu misstrauen? Um ehrlich zu sein: Ja! „Was Berliner Bäcker backen, backen andere Bäcker besser“, stabreimte snobistisch der Berliner Schriftsteller Max Goldt als noch die Mauer stand und verlegte sich dann auf Knäckebrot. Was dann nach der Maueröffnung aus dem Osten dazu kam, kam aus Brotfabriken und war nicht viel besser. Obwohl auch ich der sagenumwobenen, kompakten „HO/Konsum/Ost-Schrippe“ nachtrauere. Lange Zeit waren dann die dunklen, schweren Kastenbrote aus Vollkornmehl, die in den Bio-Läden und Bio-Bäckereien im alternativ-grünen Kreuzberg entstanden waren, die einzige Alternative zu der geschmacklos- trockenen Massenware, die aus den Regalen der Billig-Backfilialen von Kamps bis Thoben zu Recht nach Feierabend den Schweinen vorgeworfen wurde. Doch dann kam Hansi.

Hansi, der eigentlich Johann heißt und eine gewisse Ähnlichkeit mit Prince Henry hat, brachte neues Leben in einen leerstehenden Eckladen, in dem sich viel zu lange ein trauriger, schmuddeliger Dönerladen mit Spielautomat gehalten hatte. Anwohner hatten an das leere Schaufenster geschrieben „Hier bitte nicht noch einen Hippster-Laden“, denn die Tegler Straße in der Nähe der Hochschule für Technik hat sich zu einer Kneipen- und Café-Meile im Wedding entwickelt. Hier gehe ich manchmal hin, wenn mir die Hektik und das Elend des Wedding zu viel wird, wenn ich mich fühlen will wie im schicken Prenzlauer Berg. Und um Brot zu kaufen. Denn Hansi hat sein Handwerk bei der Bio-Bäckerei „Beumer und Lutum“ gelernt, in deren kleinem Laden in der Kreuzberger Wrangelstraße, ich mich in den 90er-Jahren flüchtete, wenn mir die Ost-Tristesse in Alt-Treptow (Laubenpieper, Penny und Aldi) zu öde wurde. Und er hat daraus was Neues gemacht. Statt es wie seine Lehrmeisterin zu machen, die inzwischen ein kleines Berliner Bio-Backwaren-Imperium leitet, ist er zurück zu den Wurzeln: Ein Laden, vier, fünf Brotsorten in Handarbeit und ein bisschen Kleingebäck. Eins leckerer als das andere und keinen Kaffee in der Bäckerei. Und: Öffnungszeiten, die sich nicht an der Kundschaft orientieren. Offen ist nur an vier Tagen in der Woche und auch erst ab 9 Uhr. Die jungen Leute legen halt Wert auf eine gute Work-Life Balance. Unnötig zu sagen, dass nur so viel Brot gebacken wird, wie der Meister es für nötig hält und dass man als „Nine to five“-Büromensch deshalb auf dem Weg zur Arbeit vor verschlossenem Laden und abends auch mal vor leeren Regalen steht. „Willst du was gelten – mach dich selten.“ Das Konzept geht auf. Es weckt den Jagdinstinkt in mir. Eins von den Luftig-knusprigen Hansi-Broten zu ergattern, extra den Weg zur abgelegenen Bäckerei in seinen Tagesplan einzubauen, macht die Beute um so wertvoller. Und man hat lange was davon. Ein echtes Sauerteig-Brot hält sich eine Woche.

Aber heute ist mir das zu blöd. Es ist der erste Tag mit blauem Himmel seit Wochen und mir ist die Zeit zu schade, mich in eine Schlange zu stellen. Außerdem fühle ich mich ertappt. Mein Geheimtipp hat sich herumgesprochen. Ich bin umringt von Leuten, die wie ich 6,60 Euro für ein Kilo Brot ausgeben können. Ich gehöre zu den Snobs, zu den „Geschmäcklern“ wie ein Freund, selbst ein Schnösel, das mal nannte. Aber ich habe eine Alternative. Die einzige gute Alternative zu gutem Brot ist: kein Brot. Hatte ich nicht vor Ostern eine Low-Carb-Diät gemacht (und Spaß dabei)? Hatte ich dabei nicht erlebt, dass man auch ohne Brot frühstücken kann? Eiweiß ist das Brot des Reichen. Also zurück ins kleine türkische Café bei mir um die Ecke. Es bietet fünf verschiedene Sorten von Rührei. Das ist so was von Low-Carb. Aber heute ist bei den Muslimen Zuckerfest. Als ich durch die Tür komme, stürzt eine Horde glücklicher Kinder aus dem Laden, in beiden Händen was Süßes. Die Inhaberin hat einen kleinen Tisch aufgebaut, an dem die Kinder sich heute frei bedienen dürfen. Für meine Kinder, die hier morgens immer Brötchen kaufen, wenn sie bei mir sind, soll ich mir ruhig auch was einstecken, ermuntert sie mich. Ich lehne ab (die Kerle kriegen ja schon Süßes genug) und bestelle mein Frühstück. Ungefragt stellt sie mir zum Kaffee in der frühlingsbunten Tasse einen süßen Hefezopf dazu, damit ich auch was vom Zuckerfest habe. Aufbackware aus Polen und bestimmt kein Low-Cab, aber ich schmecke die Liebe.

Grün ist die Hoffnung

Das Jahr 2022 hat für mich an der Ostsee begonnen. Auf dem “Pfad der Besinnung“ in Puttbus. War gut, mal für ein paar Tage weg zu sein. Wieder zurück begrüßt mich ein trüber, regnerischer Sonntagmorgen. Frau Coroco hat mich vor Weihnachten auf einen Kris Kristofferson-Trip geschickt. Jetzt bin ich wieder auf den “Sunday Morning Sidewalks“ gelandet. Aber mit etwas Abstand finde ich ein paar grüne Flecken auf den grauen Gehwegen. Ich wünsche euch, dass auch ihr im neuen Jahr ein paar grüne Flecken der Hoffnung findet.

Blue Hour

Ich muss raus, muss ne Runde drehen. Es ist sieben Uhr am Abend und die letzte Videokonferenz ist vorbei. Ich will noch was vom Leben sehn. Draußen sind schon die Lampen an, aber der Himmel ist noch nicht schwarz. Blaue Stunde. Aber kein Grund traurig zu sein. Im Wedding ist immer was los. Im Wedding ist alles möglich. Beim Frisör brennt noch Licht. Warum nicht, denke ich? Mein alter Laden, aber wieder ein neuer Scherenkünstler. Zehn Minuten beschäftigt er sich allein mit meinem Nacken. Was soll das? Interessiert doch niemand. Ich sag ihm, er soll einfach die Maschine nehmen und einmal drüber gehen. Er ist enttäuscht, ich geb ihm ein gutes Trinkgeld und bin wieder auf der Straße. Das ist kein Abend, den man drinnen verbringt. Der Sommer ist spät dran, aber es ist warm, überall Lichter und Leute. Zum Döner? Dafür muss ich am Café Lale vorbei, vor dem sie vor ein paar Wochen drei Leute umgeschossen haben. Die weißen Kreidekreise, mit denen die Patronenhülsen von der Polizei angezeichnet wurden, waren noch lange auf dem Pflaster zu sehen. Komisch, heute sitzen hier nur Deutsche hinter den Shisha-Pfeifen und den Bildschirmen mit türkischen Popsongs. Irgendwas ist anders. Auch beim Döner. Ein alter Mann bedient mich, den ich noch nicht gesehen habe. Er kann noch nicht lange hier sein, denn er kennt noch die gute Sitte, dass man zu einer Linsensuppe nicht nur Brot, sondern auch eine kleine Schale mit Gemüse reicht. Paprika, ein paar Zwiebelringe, scharfe Peperoni. Es gibt einen Platz für mich in diesem Döner-Laden, der ist drinnen, aber man sitzt trotzdem draußen. Im Sommer geht das, wenn sie die Fenster ganz zur Seite schieben. Unter der Markise leuchten ein paar Glühbirnen. Nebenan ein Eisladen. Südfrankreich, denk ich. Das hätte van Gogh malen können. Die Lichter, der tintenblaue Himmel. Ein junger Kerl kommt vorbei. Rote Locken, kurze Hose, er schlenkert eine Bierflasche. Die Ohren sind noch dran. Ein Typ, den man überall treffen könnte. An jedem Ort, der einen Flughafen hat. Ich versuche mich in eine einsame Melancholie fallen zu lassen. Aber es geht nicht mehr. Vor ein paar Stunden habe ich mit einer jungen Frau telefoniert, die mir die Krankenkasse verordnet hat. „Sie sollten auf ihre Schlafhygiene achten. Immer zur gleichen Zeit ins Bett, immer zur gleichen Zeit aufstehen.“ Ach Mädchen, hast du nichts anderes? Ich bin doch noch nicht in Rente. Ich hab doch noch ein Leben. Das hier zum Beispiel. Ich zieh weiter, vorbei an einer kauernden Frau mit stumpfen Haaren, die ein Eis isst, vorbei an jungen Chinesen, die wahrscheinlich ihren ersten Döner essen und großen Spaß dabei haben. Biege links ein. Die Eckkneipe ist leer und die Barfrau fegt mit Mundschutz den Dreck raus. Die Pizzeria Sole Mio brummt. Der mürrische Wirt hat seine Plastiktische den ganzen Gehsteig bis zum Künstleratelier aufgestellt. Stiernackige Biertrinker sitzen unsicher im Halbdunkel. Wahrscheinlich sind’s die Kerle, die sonst in der Kneipe hocken. Auch sie vom Sommerabend verzaubert? Kaum zu glauben. Auch im Atelier was Neues. Statt des alten, langhaarigen Zottels, der sich in seinen rostigen Müll-Installationen vergraben hatte, sitzt ein junger Mann im aufgeräumten, strahlend erleuchteten Atelier. Bunte Bilder an den Wänden und eine junge Frau mit blauen Haaren neben ihm. Ihr schwarzes Oberteil hat Träger mit Nieten und Ösen. Ihr Punk passt nicht zu den mystischen Motiven. Aber vielleicht bringt sie ihn auf neue Ideen. Als ich in die Straße zu meiner Wohnung einbiege, läuft ein Mädchen vor mir her. Ihr rot weiß gestreifter Faltenrock hängt schlaff, die dünnen Beine enden in Chucks, diesen halbhohen Turnschuhen, und schlurfen kraftlos übers Pflaster. Einen Moment denke ich, eine ältere Kollegin vor mir zu haben, die sich oft zu jung anzieht. So schwer ist ihr Gang. Aber dann seh ich , dass die Kleine heult, herzzerreißend, wie nur Kinder heulen können. Sie drückt etwas an sich. Eine Tasche oder ein Kuscheltier? Und sie läuft nirgendwo hin, sondern vor etwas weg. Rein ins Dunkle. Liebeskummer, totes Meerschweinchen oder Schläge? Im Wedding ist alles möglich.