I’ m still standing!

Es ist der 9. November. Gestern war ich auf einer „Mauerfallparty“ in einer Kleingartenanlage nahe der Bornholmer Brücke, da wo vor 36 Jahren die Mauer aufgegangen ist. Gemeinsam mit Ossis und Wessis habe ich zu alten Schlagern getanzt und noch mal „Zeit, die nie vergeht“ mitgejohlt. Ja, Bier gabs auch. Deswegen reibe mir die Augen, als ich heute morgen nicht weit weg davon, am Humboldhain plötzlich vor einem riesigen, goldglänzenden Gebäude stehe. „Das kann doch nicht wahr sein. Ist das Wirklichkeit, was ich hier sehe, oder bin ich in ein Zeitloch gefallen?“ Vor mir steht ein Wiedergänger: Der Palast der Republik, Erichs Lampenladen! In dunklen Kupfertönen glänzt die gerasterte Thermoverglasung, die sich wie ein Band um das ganze Gebäude zieht, hell leuchten die senkrechten Treppenhäuser aus Naturstein, die der Fassade etwas Aufstrebendes geben. Kein Zweifel: Er ist wieder da! Deutlich kleiner als früher (Liebling, ich habe den Palast geschrumpft), aber wie herübergebeamt vom Marx-Engels-Forum (heute Schlossplatz). Dieses Gebäude, dessen Ende 1990 beschlossen wurde, ist seit 2010 vom Erdboden verschwunden. Von Politikern zerredet, von Asbest verseucht wurde es von Baggern und Presslufthämmern endgültig aus der Geschichte entfernt. Kein Krümel Beton sollte mehr an ihn erinnern. Und doch ist er es, der hier vor mir steht, unverkennbar! Ein leichter Grusel überfällt mich. Totgesagte leben länger. Oder ist er gar nicht tot? Hat er heimlich „rübergemacht“ und Asyl im Westen bekommen? Vielleicht hat er sich auch der flehentlichen Klagen seiner Jünger, die sich derzeit unter dem fast schon religiösen Credo „Der Palast ist Gegenwart“ hinter der Stadtschlossfassade versammeln, erbarmt und ist aus dem Architekturhimmel wieder herabgestiegen. Aber warum ist er gerade im Wedding gelandet, in der Gustav-Meyer-Allee, gleich gegenüber dem Volkspark Humboldthain? Der Wedding war, nur die Älteren erinnern sich, schließlich ein Teil der „Frontstadt“ West-Berlin, lag direkt an der Berliner Mauer. Und West-Berliner waren, um es mal milde zu sagen, nicht gut zu sprechen auf Sachen, die aus dem Osten kamen. Jahrelang boykottierten sie zum Beispiel die S‑Bahn, nur weil sie von der DDR-Reichsbahn betrieben wurde. 

Das Rätsel lüftet sich ein wenig, als ich beim Berliner Zentrum für Industriekultur nachschaue. Der Bauherr dieses Palastes hieß nicht Erich, sondern Heinz, Heinz Nixdorf. Ein sehr erfolgreicher Computer-Pionier aus Paderborn. Und als solcher war er frei von West-Berliner Dünkeln. Nixdorf war ein begeisterter Anhänger der modernen Architektur, der Mies van der Rohe verehrte und persönlich traf. Und sein Paderborner Hausarchitekt Hans Mohr entwarf alle Nixdorf-Gebäude im transparenten „Internationalen Stil“. So auch die letzte Nixdorf-Produktionsstätte, gleich gegenüber den ehemaligen AEG-Werken von Peter Behrens, ebenfalls eine Architekturikone im Wedding. Der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen legte 1984, acht Jahre nach Eröffnung des Palastes der Republik, den Grundstein und redete etwas von Beginn des „Silikon Wedding“, woraus leider nichts wurde. Zur gleichen Zeit, als die DDR verschwand, verschwand auch die Nixdorf AG. Anfang der 1990er-Jahre ging Nixdorf mit Siemens zusammen. Und hinter den braunen „Schwedenglas“-Fenstern arbeitete die Verwaltung der Berliner Sparkasse. Jetzt steht er leer.

Doch nicht nur diese Äußerlichkeiten teilt der Weddinger Palast mit seinem verschwundenen großen Vorbild auf dem Schlossplatz. Bald könnte ihm ein ähnliches Schicksal blühen wie dem Volkshaus in Berlin-Mitte. Die  Investorengruppe Coros hat das Gelände gekauft, und will es „entwickeln“. Was für den Palast im Wedding ganz konkret den Abriss bedeuten soll.

Aber der Abrisstermin war 2024 und nichts ist passiert. Und jetzt steht er auf der Roten (!) Liste der bedrohten Gebäude. Vielleicht hilft ihm ja das aktuelle Revival der Post- und Ost-Moderne, dem ich dieses Jahr allerorten auf der Spur war. Dass ich einen so prächtigen und unversehrten Vertreter dieser Architekturgattung ausgerechnet in West-Berlin bei mir um die Ecke finde, freut mich natürlich um so mehr. Aber Coros hat sich noch nicht von seinen Plänen verabschiedet. Stolz präsentieren sie auf ihrer Website den Abschluss des Planungs- und Anhörungsverfahrens.

Also, um es mit einer Parole aus den 1980ern zu sagen: Besuchen Sie den Palast, solange er noch steht! 

Das Gelände in der Gustav-Meyer-Allee ist sehenswert und frei zugänglich.

Radwege zur Einheit

Günther Brendel: Sozialistische Menschengemeinschaft, 1969 (ausgestellt im ehm. Sitz des Nationalrates der Nationalen Front der DDR, heute Bundesministerium für Arbeit und Soziales; Berlin)

Wir sind ein komisches Volk. Zum 35. Tag der Einheit morgen wird von der Stiftung Aufarbeitung eine Umfrage veröffentlicht, wonach das Trennende zwischen Ost- und Westdeutschland wächst statt zu verschwinden. Und das hat schon 2019 angefangen, also noch vor Corona. Ein Land mit unzufriedenen Bewohnern zu spalten, gehört seit dem Fall der Mauer zum Repertoire populistischer Politiker. Sei es im ehemaligen Jugoslawien, oder der ehemaligen Tschechoslowakei oder in der ehemaligen Sowjetunion. Komisch nur, dass das neue Wir-Gefühl im ehemals sozialistischen Osten heute am prominentesten von einem rechtsradikalen Geschichtslehrer aus Hessen verkörpert wird.

Ist da was schief gegangen, oder habe ich daran sogar aktiv mitgearbeitet? „Die endgültige Trennung Deutschlands, das ist unser Auftrag“, war seit dem Mauerfall die dem Zeichner Clodwig Poth zugeschriebene dadaistische Parole der Satirezeitschrift „Titanic“. Damit stellte sich das von mir damals bibelgleich verehrte Blatt als einziges gegen die gesamtdeutsche Besoffenheit der Medien. Doch hinter dem kindlichen Trotz verbarg sich vor allem eins: Die Trauer, dass es eine Alternative zur bräsigen Helmut Kohl-BRD bald nicht mehr geben würde.
Nur so ist zu verstehen, dass ein paar Freunde und ich 1989 einen verzweifelten Versuch zur Rettung der DDR unternahmen. Waren wir nicht ausgebildete Krankenpfleger, und suchen nicht die Krankenhäuser im Osten verzweifelt Personal? Damals waren die Grenzen gerade aufgemacht worden. Wir also los, die kranken Menschen im Osten und den realen Sozialismus retten. Aber das einzig Reale am real existierenden Sozialismus war der Ruß. Den Ruß wischten wir jeden Tag einmal von den Fensterbrettern und nachts wurde die ganze Station durchgewischt. Der Ruß kam von Heizkraftwerk der Karl-Marx-Uni-Klinik Leipzig. Das war ein uralter ziegelroter Kasten mit einem zu kurzen Schornstein. Weil ich tagsüber brav wischte, durfte ich auch mal Nachts ran: Welliges PVC mit braunem Blümchenmuster putzen. Viel mehr Verantwortung wollen die Schwestern auf der chirurgischen Station mir seltsamen Subotnik aus dem Westen nicht übertragen. Oder doch? Ich durfte auch kaputte Vakuumpumpen in die Werkstatt bringen und die Besorgungen der Schwestern im HO-Laden der Klinik erledigen. So war das. Aber als sozialistischer Werktätiger gab es richtiges Geld. 600 Mark der DDR im Monat. Und als ich zurück in den Westen kam noch mal 600 Westmark. Es gab da so einen Fonds, für Medizinpersonal, das in den Osten gegangen war. Mein Bewilligungsbescheid hatte die laufende Nummer 001. Nach drei Monaten in Leipzig kam die Währungsunion und die D-Mark. Damit war die Hoffnung auf Eigenständigkeit des anderen deutschen Staates vorbei. Ich machte wieder rüber in den Westen und meine DDR-Oberinnen stellten mir ein einmaliges Besser-Wessi-Zeugnis aus.

Und heute? Bin ich ein Ossi geworden, jetzt, wo der Osten für mich vor der Haustüre liegt und die DDR in den Köpfen wieder aus Ruinen aufersteht? Ich muss sagen: ich bin gerne im Osten unterwegs. Es ist schön hier, seit der Grauschleier von den Fassaden und der Plaste-und Elaste-Geruch aus den Gebäuden verschwunden ist, auch wenn manche der blitzblank renovierten Orte etwas leblos wirken. Es gibt viel zu entdecken:
Faltbootfahren auf den Mecklenburger Seen, Freunde besuchen in Leipzig und Chemnitz, Radtouren auf der Straße der Romanik in Sachsen-Anhalt, frisch rekonstruierte ostmoderne Architektur in Halle-Neustadt. Wer meinem Blog folgt, findet dort viele entspannte Reiseberichte und einige Bewunderung für die übriggebliebenen Errungenschaften des Sozialismus, zu denen auch mein Simson-Mokick gehört. Und Ausstellungen mit DDR-Kunst gibt es dieses Jahr allerorten zu sehen, nachdem die Werke vorher verschämt in den Archiven versteckt wurden. Auch für die Kinder gibt es viele schöne Ecken. Die Ostsee natürlich. Aber auch schon vorher. In Templin, der Heimat von Frau Merkel, waren wir dieses Jahr Ostern in einem riesigen ehemaligen FDGB-Plattenbau-Hotelturm mitten im Wald. Ein Leipziger Künstler hat ihn – nach der Wende – von oben bis unten bunt angemalt und rundherum gab es Ferienlageratmosphäre. Die Bedienung kam -wie früher- aus der Volksrepublik Vietnam. Sozialismus mit menschlichem Antlitz.

Nein, ich will die DDR nicht wiederhaben. Aber ich bin weiterhin froh, dass es hier 40 Jahre etwas anders gegeben hat als die westdeutsche Restauration und das Wirtschaftswunder, dass es Brüche gegeben hat. Es ist kumpelhaft und unkompliziert hier, solange man nicht mit Menschen, die man nicht kennt, über Politik redet. Aber um ganz ehrlich zu sein: Die Liebe zum Osten speist sich auch ein bisschen aus dem gleichen Umstand, der sie bei den Bürgern der DDR hatte entstehen lassen (und wieder hat): Ich kann nicht mehr in den Westen fahren. Nachdem ich in den vergangen Jahren zuverlässig im ICE von Berlin nach Köln mit meinen Jungs größere Ausfälle und eine Evakuierung erlebt habe, traue ich mich mit der Bahn nicht mehr über die ehemalige Zonengrenze. Alles was mit dem Regionalzug von Berlin aus erreichbar ist, gewinnt so deutlich an Attraktivität. Die Deutsche Bahn AG schirmt den Westen für mich fast so gut ab wie die Grenztruppen. Und niemand braucht mehr die Absicht, eine Mauer zu errichten.

Die Wespe

Es ist schön, Besuch zu haben. Auf der Terrasse des ehemaligen Terrassencafés Minsk in Potsdam (jetzt: Kunsthaus DAS MINSK) bin ich der einzige Mensch, der sich nach dem Regen hinaus getraut hat. Und sie ist die einzige Wespe hier. Wir beide können es gut miteinander aushalten. Aber während ich nichts anderes zu tun habe, als an einem Samstagnachmittag meinen Americano (wenn Erich das wüsste) mit Milch zu trinken und den Blick auf den goldenen Kuppeln der Stadt ruhen zu lassen, ist sie eifrig. Die leere Tasse und das halbleere Milchkännchen werden unablässig untersucht. Zwischendrin werden die Fühler geputzt und wieder ein neuer Anlauf zur Nahrungssuche gesucht. Vorsichtig balanciert sie auf dem Rand der Kanne, ohne vor Gier hinein zu fallen. Ein kluges Tier. Anscheinend findet sie dort genug, um sich mit Eiweiß zu versorgen, das sie zu Hause gleich an die Larven verfüttern kann. Schwer schleppt sie am dicken Leib hinter der Wespentallie. Ob sie genug Luft kriegt? Und ist das fair? Dass sie sich so abrackern muss, um ein Bisschen von dem zu bekommen, was ich mir gerade für ein bisschen Kleingeld von der Theke geholt habe? Na ja, Kleingeld: 3,50 Euro. Im Prospekt zur Renovierung des Cafés war auf einer Speisekarte aus den 1970ern zu lesen, dass hier ein Kännchen Kaffee – es gab nur Kännchen – mit Milch und Zucker 1,90 M kostete. Offizieller Wechselkurs zur D-Mark war 2:1; dann wieder 2:1 von D-Mark in Euro. Also habe ich gerade 14 M für eine Tasse Kaffee gezahlt. Dafür war es echter Bohnenkaffee und kein Mokka Fix, dafür ist die Terrasse frisch renoviert, ich muss nicht mehr auf den Kellner warten, der mich „platziert“ und über mir, am Brauhausberg, in der dunkelroten Festung sitzt nicht mehr die Kreisleitung der SED, nicht mehr der Brandenburgische Landtag sondern Hasso Plattner, einer der Gründer von SAP, der wertvollsten Software-Firma Europas, der draus jetzt eine Hochschule für Wirtschaft und Recht machen will. Also für das Recht der Wirtschaft, würde ich mal vermuten. Das Café gehört ihm jetzt auch, oder seiner Stiftung. Dafür darf ich mir jetzt hier seine Sammlung von DDR-Kunst anschauen. Ist doch ein guter Deal, oder? Samstagsnachmittagsgedanken.

Die Wespe ist immer noch da. Anscheinend hat sie noch nicht genug zusammen bekommen für ihre Königin und deren Brut. Wer hängt eigentlich noch von dem ab, was ich übrig lasse? Wer arbeitet für mich, damit ich hier in Ruhe in die Luft schauen kann? Das Treppenhaus muss ich nicht putzen am Wochenende, das erledigt immer eine junge Frau mit Kopfhörern auf den Ohren, von der ich vermute, dass sie Ukrainerin ist. Die Wiese hinter dem Haus muss ich auch nicht mähen, und auch nicht das Laub harken, obwohl mir das mal gut täte. Das macht drei Mal im Jahr ein Trupp Gartenarbeiter, die sich ihre Stullen selber mitbringen. Mein Moped repariert eine Werkstatt in Neukölln… Und wer kümmert sich um meine Brut? Ich gerade nicht.
Oh Gott, ich bin eine überflüssige Drohne ohne Stachel. Bei den Wespen sterben diese trägen Kerle, die von den Arbeiterinnen versorgt werden, im Herbst, wenn Königin ausfliegt, um ein neues Nest zu gründen. Ich schaue auf die Eifrige, die immer noch am Milchschaum kratzt. Gottseidank, sie will Eiweiß. Das sammeln Wespen nur im Sommer (so weiß ich jetzt auch, welche Jahreszeit sich gerade unter der Dauerregendecke verbirgt). Im Herbst gehen sie dann auf Obst und Süßes, um selber wieder Energie zu sammeln. Ein paar Monate habe ich also noch. Wenn die Wespen an meinen Pflaumenkuchen gehen, wird es gefährlich für mich.

Auferstanden aus Ruinen?

Das kommt dabei heraus, wenn man das Wandgemälde „Die vom Menschen beherrschten Kräfte der Natur und Technik“ (Maljolikamalerei auf Steinzeugfliesen) von Josep Renau in Halle-Neustadt mit dem Panorama-Modus des iPhone 8 aufnimmt, ohne die Technik zu beherrschen.

Die Messe ist gelesen, der Vortrag ist beendet. Höflicher Applaus und ein paar Nachfragen verebben schnell in dem mit dunklem Holz vertäfelten Prachtsaal des alten halleschen Stadthauses. Die Arbeit ist getan. Jetzt kommt das Vergnügen. Bei belegten Brötchen und Filterkaffee gesellt sich der Veranstalter zu mir, ein gemütlicher Mann mit Bauch und Bart, dem es noch etwas peinlich ist, dass er auf der Podiumsdiskussion immer meinen Namen verdreht hat. Ob ich noch etwas Zeit mitgebracht hätte, mir die Stadt anzuschauen, fragt er gönnerhaft und offensichtlich bereit, mir ein paar geheime Tipps zu geben. Immerhin bin ich Besuch aus der Hauptstadt und ich habe etwas gut bei ihm. Die Altstadt von Halle an der Saale hätte ja auch einiges zu bieten: Kirchen, das Händel-Denkmal und die Frankeschen Stiftungen. Aber das interessiert mich nicht. Ich schaue etwas verlegen zu Boden und traue mich dann doch, meinen Wunsch auszusprechen: „Ich würde mir gerne sozialistische Wandgemälde anschauen, in Halle-Neustadt.“ Mein Gastgeber reagiert wie ein professioneller Concierge im Hotel, den ein Gast mal wieder nach Adressen im schmuddeligen Rotlichtviertel seiner Stadt gefragt hat. Und ich glaube, es wäre ihm lieber gewesen, hätte ich ihn einfach nach dem Bordell gefragt, für das es in Halle gleich am Hauptbahnhof auch ein Wandbild gibt. Sein Gesicht wird zu einer freundlichen Maske, der man die peinliche Berührtheit, das Fremdschämen und die Enttäuschung nicht ansehen soll. „Sie meinen so >Vorwärts mit der Arbeiterklasse-Bilder<?“, flüstert er tonlos. „Ja“, antworte ich. „Ich mag sowas.“ und halte ihm den Kuli und den Block hin, den er mir im Namen der Stadt Halle gerade dankbar überreicht hat. Ergeben malt er mir eine Skizze und ein paar Straßenbahnhaltestellen auf. Und um ganz sicher zu gehen, dass ich nicht doch eine Frau für den Abend gesucht habe, ruft er die Quartiersmanagerin des Plattenbauviertels herbei. Die hat nicht viel Zeit, ich habe keine Lust auf Begleitung. Entdeckungen mache ich lieber selber und den Stadtführer, den sie mir empfiehlt, den einzigen, der das Neubaugebiet überhaupt behandelt, habe ich mir schon am Bahnhof von Halle gekauft. Wir tauschen Visitenkarten aus. Ich habe noch zwei Stunden Zeit.

Was ich in der kurzen Zeit sehe, ist eine für den frühen Nachmittag sehr leere Stadt. In der Altstadt war Markttag und die Haltestellen der Straßenbahnen waren voll. Hier sehe ich außer ein paar Grauhaarigen auf der Einkaufsmeile noch ein paar Frauen mit Kopftuch über einen leeren Platz laufen. Das war’s. Vielleicht sind alle in dem neuen Einkaufszentrum, das nach der „Wende“ errichtet wurde. Aber da gehe ich nicht rein. Das kann ich auch in Berlin haben.
Aber um ehrlich zu sein: Ich hatte mir „Ha-Neu“ noch grauer und noch leerer vorgestellt. So grau wie Berlin-Hellersdorf oder wie Hoyerswerda. 1993 hatte ich auf einer Russlandreise einen jungen Fotografen aus Halle getroffen, der gerade eine Ausstellung über die Aufbauzeit der Neustadt mit Fotos seines Vaters organisierte. Die waren alle schwarz-weiß und nach streng geometrischen Mustern fotografiert. Da war nichts Menschliches. Nichts Menschliches haben, trotz der vielen Gesichter, die man beim Näherkommen erkennt, auch die riesigen sozialistischen Wandbilder des Ensembles „Die Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift.“, die ich endlich am Ordnungsamt von Halle-Neustadt in den Himmel streben sehe. Aber immerhin: Es strahlt einen Optimismus aus, der uns heute nur noch zynisch gebrochen möglich ist. Manchmal auch als Real-Satire, wenn ich an unser neues Raumfahrtministerium denke. In den „Kosmos“ strebte auch der Sozialismus. Raketen zu den Sternen zu schießen war wohl schon damals einfacher als bröckelnde Brücken zu reparieren – und es ließ die realsozialistische Tristesse vergessen.
Davon ist noch genug übrig in Ha-Neu. Aber es tut sich was: Von den heruntergekommen fünf „Scheibenhochhäusern“ an der Fußgängerzone strahlt schon wieder eins weißer als es als Neubau gestrahlt haben wird. Ein Leuchtturm gegen den Verfall. Das nächste ist in Arbeit. Sichtbar sind auch viele bunte Ecken, an denen mit Kunst versucht wird, gegen das Einerlei anzukämpfen. Die Quartiersmanagerin war sehr stolz darauf.

Zurück laufe ich durch das „Bildungsviertel“, mit seinen kleinen, würfelförmigen Pavilions . Endlich menschliches Maß nach all den 12-Geschossern. Das gefällt mir, obwohl viele davon verfallen. Es ist noch die Idee erkennbar, alles was eine Familie braucht, gleich neben dem Wohnblock zu bauen: Kindergarten, Schule, Ärztehaus, Schwimmbad. Und alles fast autofrei. Der Verkehr lief auf den großen Magistrale mittendurch. Dort, an der Straßenbahnhaltestelle, treffe ich auch wieder auf Leben. Wie im Wedding nachmittags um fünf sind hier die Jugendlichen in den Bahnen. Und es sind die gleichen Gesichter wie in Berlin. Die Neustadt ist mindestens so multikulti wie der Wedding. Und wer nicht in der Straßenbahn ist, der ist im Schwimmbad. Und keinem davon wird auffallen, dass die Schwimmhalle im klassischen Bauhausstil errichtet wurde. Aber wie in Berlin haben die Kids hier rausgekriegt, wie man Elektroroller knackt.

Zwei Tage im Frieden

Na, ist noch jemand zu Hause? Oder sind alle draußen im Grünen bei dem schönen Wetter?
Also mein Freund und ich waren nach dem Feiertag (ja, Berlin hat die Befreiung von Krieg und Naziherrschaft am 8. Mai mit einem Feiertag begangen) mit dem Rad unterwegs. Von Frankfurt/Oder durchs Schlaubetal nach Eisenhüttenstadt und zurück. Die „Mönchstour“, weil man dabei am Kloster Neuzelle vorbeikommt. Ja, war wieder schön gewesen. Hier ist Brandenburg so ein bisschen wie da wo ich herkomme. Es klappert die Mühle am rauschenden Bach. Die Schlaube ist ein kleiner Bach, an dem früher viele Mühlen und Eisenhämmer betrieben wurden. Heute sind das Biergärten. Wir kehren gleich beim ersten ein, nachdem wir den Schreck am Bahnhof Frankfurt hinter uns haben: Viel Polizei in voller Montur. Grenzkontrollen an der Friedensgrenze zu Polen. Und das auf nüchternen Magen. Wir sind unverdächtig. Und nachdem ich mich bei der Bäckereiverkäuferin, die tapfer das babylonische Sprachgewirr ihrer Kundschaft meistert, mit einer Bockwurst versorgt habe, die so fade, fett und verkocht schmeckt, dass ich mich sofort wohlig in die alte DDR zurückversetzt fühle (noch schlimmer sind nur die, die man in Polen kriegt), suchen wir gleich die erste Gelegenheit, um den Geschmack aus dem Mund zu bekommen. Ist viel passiert hier, seit ich das letzte Mal da war. Neue Fußgängerbrücke, geteerte Fahrradwege und keine Menschen mehr auf den Straßen. Alles leer, auch im Biergarten, der ein Idyll ist. Es klappert.. (siehe oben). Eigentlich ist geschlossen. „Ich kriege ja kein Personal mehr.“, klagt die weißhaarige Mühlenwirtin. „Nur noch Ukrainerinnen, die was schwarz neben dem Bürgergeld verdienen wollen.“ Ob‘s noch ein Bier gebe, fragt mein Freund. „Ein Bier gibt‘s immer.“, ist die joviale Antwort, und schon stehen zwei „Radler“ in schimmernden Glaskrügen vor uns. „Aber den Blütenstaub kann ich nicht auch noch von den Tischen wischen.“
Und heiter gehts weiter. Solange wir uns an die ausgeschilderte Route halten (das Zeichen, dem wir folgen ist ein Mönch, der gemütlich auf seinem Fahrrad schlingert) ist‘s auch wirklich nett, dunkel, üppig und voller Nachtigallen. Aber als wir einmal falsch abbiegen, sind wir wieder in der Brandenburger Wirklichkeit: Staubige, kahle Äcker, leere Dörfer, die aus einem Baumarktkatalog zusammengebaut zu sein scheinen und kläffende Hunde hinter Zäunen. Mir tut mein Knie weh. Unsere Rettungsinsel ist das Kloster Neuzelle. Eine barocke Pracht, die man eher aus Bayern kennt. Geht auch in Brandenburg. Und selbstgebrautes Bier gibt‘s auch: „Schwarzer Abt“. Danach schlingern wir wie der Mönch auf unseren Rädern nach Eisenhüttenstadt, der „ersten sozialistischen Stadt auf deutschem Boden“ – heute das größte Flächendenkmal Europas. Menschenleer, wie die Dörfer drumherum. Aber das Stahlwerk arbeitet noch. Ein Geruch nach Koks und kaltem Kamin, wie ich sie noch aus meiner ersten Berliner Wohnung mit Ofenheizung kenne, liegt schon Kilometer vorher in der Luft. Eigentlich hätten wir stilgerecht im Hotel „Lunik“ absteigen müssen, ehedem das erste Haus am Platze, aber das Lunik ist eine Ruine. Also wird es das Hotel „Berlin“, das einzige Hotel, das es in der Stadt noch gibt. Der Empfang ist solide und herzlich. „Ham‘ ses doch noch jeschafft.“, kumpelt die Empfangsdame, die ich von unterwegs angerufen hatte, weil wir uns ja verfahren hatten. Sie empfiehlt uns das deutsche Restaurant nebenan, in dem es grabesstill ist und nach kaltem Frittenfett riecht. Also gehen wir zum Griechen, gleich unten im Keller. Hier brummt der Laden, Familien mit Kindern feiern (Jugendweihe?) und die Lammkotteletts schmecken wie Schuhsohle. „Nimm Essen mit, du fährst nach Brandenburg.“, singt Reinald Grebe.

Am nächsten Tag, dem Samstag, treffen wir nur nette Menschen in unserem Alter. Ist wirklich so. Keine Ahnung, wo die anderen abgeblieben sind, die Jungen, die Familien, die ganz Alten. Vielleicht interessieren sie sich nicht für das Museum „Utopie und Alltag“, das in einem ehemaligen Kindergarten untergebracht ist. Und eigentlich hat das Museum auch noch zu. Aber ein Herr in unserem Alter steht davor, er ist Maler (hab noch bei Tübke in Frankenhausen das Bauernkriegsfries mitgemalt; 3,50 Meter davon sind von mir…) und Mitglied des Museumsbeirates, der sich früh trifft und nachdem die Computer und die Lichtanlage hochgefahren sind, weist uns eine beflissene Frau in unserem Alter in die Dauer- und die Sonderausstellung (Völkerfreundschaft) ein. Es ist wirklich ein gut kuratiertes Museum über die Alltagskultur der DDR. Es gibt ja einige, in denen nur ein paar Küchengegenstände aus Plaste und ein Schwalbe-Moped in eine Scheune gestellt werden. https://www.utopieundalltag.de/

Als ich nach dem Ausstellungsplakat zur „Fremde Freunde“ frage, kriege ich die Antwort: „Ist aus. Wir drucken das gerade nach. Die waren ganz schnell vergriffen.“ Völkerfreundschaft an der Friedensgrenze? Im Landkreis an der Oder hat die AfD im Februar 39,1 Prozent geholt. Wo sind die ganzen Nazis? Sitzen die alle zu Hause? Auf dem Radweg auf dem Oderdeich treffen wir nur freundliche Leute (unseres Alters) in Funktionskleidung auf Elektrorädern. Einer erklärt mir die Industrieruine, die hinter dem Deich auftaucht: Das war ein Kraftwerk, das die Nazis haben bauen lassen, weil sie hier mitten im Krieg eine große Chemiefabrik errichten wollten. Die Deutschen haben sich hier in den letzten Kriegstagen verschanzt, die Russen haben sie zusammengeschossen, als sie über die Oder sind. War da heute nicht was? Genau: 9. Mai, 80 Jahre Kriegsende. An einem sowjetischen Kriegerdenkmal halten wir an. An Kriegerdenkmälern hat es in Brandenburg keinen Mangel. Aber das ist das einzige, so weit ich mich auskenne, das für sowjetische Matrosen errichtet wurde. „Schwarzmeerflotte, ewiger Ruhm den Helden, die für die Freiheit der Sowjetunion und der Heimat… so weit reicht mein Russisch immer. Sie sind mit ihrem Boot in der Oder ertrunken. Arme Kerle. Auf dem Sockel liegen ein paar kümmerliche Nelkensträuße. Nebendran bietet ein fliegender polnischer Blumenhändler seine Ware an. Mit dem Wort „Schnittblumen“ kann er nichts anfangen. Ich kaufe eine rote Geranie im Topf für 2,50 Euro und stelle sie auf den Stein. Dank euch, ihr Sowjetsoldaten.

Ein paar Kilometer flussabwärts wird es dann richtig konkret mit der Völkerfreundschaft. In Aurith ist heute Deutsch-Polnisches Volksfest. Hier gibt es eine Fähre über die Oder (wenn der Fluss genug Wasser hat) und die Mädchen der „Oderwendischen Volkstanzgruppe“, nicht zu verwechseln mit den Sorben, wie ich belehrt werde, mümmeln Bratwurst vor ihrem Auftritt. „Bei den Polen ist heute noch viel mehr los.“, versucht mich ein EU-gesponserter Tourismusbeauftragter auf die andere Seite zu locken. Aber mein Freund will nach Hause. Immerhin erfahre ich bei der Tourismusinfo auch, dass das „Lunik“ in Eisehüttenstadt wieder aufgebaut wird. Diesen Sommer beginnt es als provisorische Theaterspielstätte. „Sie müssen unbedingt kommen, und unbedingt vorher die Führung durch das „Lunik“ mitmachen!“ charmiert eine Theaterbegeisterte aus Eisenhüttenstadt, die ausnahmsweise nicht in unserem Alter ist. Na, dann muss ich da wohl nochmal hin.

Auf dem Rückweg treffen wir dann doch noch einen Nazi, einen verklemmten. Er kommt auf einem schwarzen BMW-Motorrad mit Beiwagen daher, wie eine Motorradpatroullie der Wehrmacht. Es soll eine BMW R 71 aus Vorkriegsproduktion sein, was er da fährt, aber es ist eine mit versteckten Runen und Frakturbuchstaben umlackierte sowjetische Kopie, eine M72 Molotov. Da kenne ich mich aus. Hatte selber mal so eine, aber in lila!

So ist das mit den Nazis heutzutag: Alles eine russische Kopie.

Höcke und das Moped

So sieht das Moped aus, mit dem Björn Höcke mit der AfD stärkste Kraft in Thüringen geworden ist. Eine Simson S 51 aus dem VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk „Ernst Thälmann“ Suhl/Thüringen. Eine auch gestalterisch gelungene Eigenkonstruktion aus der DDR. Einfache, anspruchslose Technik, leicht zu reparieren (und zu „frisieren“). Als ich sie zum ersten Mal Ende der 1970er auf einem Prospekt sah, den mir ein Freund von der Internationalen Motorrad und Fahrrad Messe in Köln mitbrachte, war ich begeistert. Ich fuhr zu der Zeit eine Simson Spatz, auch aus der DDR. Ein ziemlich hässliches Entlein, das ein Nachbar vor 10 Jahren bei Neckermann gekauft hatte und damit jeden Tag 10 Kilometer zum Bahnhof gefahren war. Für 100 D-Mark, die ich mit Zeitung austragen verdient hatte, habe ich sie ihm abgekauft. Die rote Farbe war ausgeblichen und der Rost blühte. Ein Freund half mir, sie wieder flott zu machen und ich überstrich die Rostflecken mit oranger Mennige. Die Flecken umrahmte ich mit bunter Lackfarbe. So bekam das Ost-Moped einen Hauch von Flower Power. Aber gegen die Zündapps, Hercules und Yamahas, die vor unserer Schule parkten konnte ich damit natürlich nicht ankommen. Und das Ding hatte eine Sitzbank für nur eine Person – Mädchen mitnehmen war nicht. Da wäre eine S 51 schon was anderes gewesen. Schick, 3,7 PS, 60 Km/h flott und Platz für zwei. Aber vielleicht zu flott für den Westen. Es gab sie nur im Osten zu kaufen. Und dort erlebt sie seit Jahren eine Rennaissance. Bei alten Kerlen, wie mir, die ihre Jugendträume ausleben wollen und vor allem bei der Jugend. Eine „Simme“ zu fahren, gehört außerhalb von Berlin zum guten Ton und ist für Viele auch ein Teil einer zusammengestrickten Ost-Identität. Das Internet ist voll mit Schraubertipps, es gibt deutschlandweit Clubs und Treffen auf der grünen Wiese. Eine Firma in Thüringen mit einem imposanten Lagerhaus versorgt die Szene mit Ersatzteilen und findige Händler finden immer neue Schrott-Mopeds zum „Neuaufbauen“ (bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend, bau auf!), die sogar aus Vietnam zurück gekauft werden.

Das alles ist bekannt. MDR, RBB haben interessante Reportagen über das Simson-Fieber und die halbseidenen Geschäfte gemacht. Aber nur Björn Höcke hat sich für ein Wahlplakat auf eine Simson gesetzt. Man sah ihn grauhaarig, ohne Helm auf öffentlicher Straße mit gezogener Kupplung. Gefahren sein kann er so nicht wirklich. Das Plakat kam trotzdem an. „Ja zur Jugend“ hat seine Werbeagentur draufgeschrieben. Bei einer Befragung von Schülern, die schon wählen durften meinten sie, das mit der „Simme“, das wäre doch toll gewesen.

Warum hat sich nicht Bodo Ramelow auf einer Simson ablichten lassen? Mehr Thüringen geht doch nicht? Und inzwischen gibt es die Simson auch mit Elektroantrieb. Ein findiges Start-Up um einem wuschelköpfigen Maschinenbaustudenten hat einen Weg gefunden, den knatternden Zweitakter an einem Nachmittag in ein summendes Elektromobil zu verwandeln. Ramelow auf der E-Simme. Warum hat es das nicht gegeben? Weil auch die Simson-Szene inzwischenzeit auch von Rechten unterwandert wird, die auf den Treffen den Hitlergruß zeigen? Weil sich der Designer der S 51 inzwischen deshalb davon distanziert? Ich glaube es war nicht die Angst. Ich glaube, Die Linke und die anderen Parteien und ihre professionellen Berater haben das mit den Simsons einfach nicht mitbekommen. Sie wussten schlicht nicht, was sie Jugendlichen umtreibt. Nicht auf Tik Tok und nicht auf der Straße. Und ihre Werbeagentur kam wahrscheinlich aus Berlin. Da gabs mal einen Hype um alte Schwalbe-Motorroller. Auch von Simson, aber das war nach der Wende. Das ist für Werber wie aus einem anderen Jahrtausend.

Die Wahl ist verloren, aber ich liebe meine Simson immer noch. Vor zwei Jahren habe ich mir eine S 51 zu Weihnachten geschenkt. Unterstütze ich jetzt die Nazis, wenn ich damit durch Berlin brause? Verdächtig viele grinsen mich freundlich an, geben ein Thumbs up oder kurbeln sogar die Seitenfenstern runter, um mit ihre Begeisterung durch den Verkehrslärm zu brüllen. Bisher dachte ich, das seien so groß gewordene Kinder, die auch gerne mit den alten Sachen von früher spielen wie ich. Inzwischen bin ich mir da nicht mehr sicher. Die AfD kann einem wirklich den schönsten Sommer verderben.

Ergänzung im September 2025: Nach der Wahl ist in Thüringen die Sache noch mal hochgekocht. Nachdem Höcke nun zum Glück doch nicht Ministerpräsident geworden ist, hat er viel Zeit, mit Jugendlichen AfD-Simson-Touren anzubieten (hoffentlich mit Helm). Aber auch die anderen Parteien haben die Popularität der kleinen Mopeds endlich erkannt: Im Landtag wurde ein Beschluss der Regierungsparteien CDU, SPD und BSW gefasst, sich dafür einzusetzen, alle Simsons die Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h zu erlauben. Bisher war das nur den in der DDR oder bis 1992 in Gesamtdeutschland zugelassenen Simsons erlaubt.

https://www.heise.de/news/Simson-Kleinkraftraeder-Thueringen-will-auch-Reimporten-60-km-h-zugestehen-10641681.html

Fänd ich gut. Dafür müsste man den Einigungsvertrag ergänzen. Da fielen mir noch ein paar andere Kapitel ein.

Fernweh

Ein guter Freund packt seine Sachen in seinen alten weißen Renault und fährt los. Von München nach Piräus und von da mit der Fähre nach Kreta. 2500 Kilometer über den Autoput. Die Kiste ist voll mit seinem Kram, denn er wandert aus, aber hat noch ein Plätzchen für mich frei. Klingt verlockend. Haben wir vor dreißig Jahren schon mal gemacht, einen Haustand quer durch Europa gekarrt. Damals ging es von München nach Edinburgh, mit einer weißen Kasten-Ente, „Kunst Transporte“ stand drauf. In seinem Keller hat er noch eine Kiste mit Fotos gefunden. „Wir hätten Filmstars werden sollen, so gut wie wir aussahen.“ Recht hat er und es ist ja nie zu spät dafür. Gleich geht ein neuer Film in meinem Kopf los: Autoput! Tausend Geschichten von zähen Kilometern hinter überladenen Gastarbeiter-Autos. Von Karambolagen und wunderkundigen jugoslawischen Mechanikern, von durchgebretterten Nächten, von Delirien durch Schlafentzug und von verschwitzten Körpern, die sich in VW-Bussen ohne Klimaanlage näher gekommen waren. Ein bisschen Kusturica-Komödie und ganz viel „On the road“. Jeder konnte in den 70ern und 80er eine Autoputgeschichte erzählen, nur ich nicht. Ich war überall in Osteuropa, aber nie in Jugoslawien. Dann kam der Krieg und es gab das Land nicht mehr. Oder war es umgekehrt?

„Ich hab noch eine Postkarte von dir gefunden, da schreibst du aus Kroatien, dass ihr ein schönes sozialistisches Hotel mit Blick auf eine Industrieanlage gefunden habt.“, tröstet mich mein Freund. Das ist der running gag bei jeder meiner Reisen: Irgendwann landen wir vor einer Chemiefabrik, einem Braunkohletagebau oder einem Zementwerk, wenn ich die Navigation übernehme. Ja, klar, irgendwann bin ich in Kroatien gewesen und in Slovenien, mit mit dem Motorrad und der Mutter meiner Söhne auf dem Sozius. Das war schön, aber das war zu spät, da war die EU schon da und hatte alles aufgeräumt. Und auch jetzt ist es zu spät. Zu spät, den Urlaub zu beantragen, den Rückflug zu buchen und überhaupt: Will ich bei über dreißig Grad in einem vollgestopften Transporter vier Tage auf der Strecke sein? Brennt es nicht gerade „da unten“? War ich nicht schon vom letzten Wochenende völlig erledigt? Und da ging es nicht nach Kreta, nicht nach Tanger sondern nur mit dem Rad nach Tangermünde. Liegt an der Elbe, an der „Straße der Romanik“. Hatte ich nicht auf dem Schirm, war wunderschön.

Es gab Blasmusik in alten Ruinen, es gab eine Fähre über die Elbe und auch auf den Wiesen des Elbdeichs einiges zu entdecken. Es gab einen Schrotthändler, der den Hof voller Ost-Motorräder hatte und Neuseeland für das schönste Land der Welt hielt, es gab eine Frau im Café, die uns zuraunte, dass Tangermünde die “Märchenstadt“ sei, in der alle DEFA-Märchenfilme gedreht worden seien und es gab einen dicken Mann, der vor der märchenhaften Kulisse einer alten Brauerei mitten in der Märchenstadt eine Leinwand und einen Grill aufbaute und „Manta, Manta II“ zeigte. Reicht das nicht? Fehlt mir etwas? Na ja, wir mussten einige Umwege fahren, und plötzlich landeten wir vor einer italienischen Zellstofffabrik (mit drei f) und der Ruine des Atomkraftwerks Stendal. Eigentlich ist es egal wo ich hinfahre.

Dornröschen und der böse Lindemann

Wir fahren tapfer mit dem Rad von Leipzig nach Berlin. Durch Sachsen und Brandenburg. Es gibt viel Schönes zu sehen und viel Trauriges.

Und natürlich blühende Landschaften!

Als wir Wandervögel die blaue Blume gefunden haben, finden wir auch das Ende des Regenbogens.

Das Trostlose dieser Welt verschwindet. Und am Ende des Regenbogens steht das Haus am See.

Wir lassen uns hineinziehen in den zugewucherten Park und stehen bald vor einem echten Traumschloss.

Da kommt schon der Wächter des Schlosses (mit Ölkanne und Akkuschrauber). Er hat seinen Kafka nicht gelesen und weiß nicht, dass er uns abweisen muss. Er öffnet uns die Tür…

Das Schloss schläft seit dreißig Jahren.

Viele Stunden sind wir im Banne des Kastellans. Unglaubliches erzählt er in seiner unglaublichen Sprache. Über viele hundert Jahre spannt er den Bogen. Vom starken August bis zum magischen Investor, der hier alles bestimmt. Bis er uns endlich von dem Geist erzählt, der in diesen Mauern haust. Es ist ein Geist aus der Zeit des gottlosen Sozialismus. Es ist der Geist von Werner Lindemann, der vor sechzig Jahren, als sich das Haus „Kulturhaus“ nannte, der Herr des Schlosses war.

Und nur sein böser Sohn Till, ein berühmter Geisterbeschwörer, kann das Schloss von seinem Fluch befreien und es zu neuem Leben erwecken. Aber wo ist das Dornröschen, das er wach küssen könnte?

Dornröschen ist abgehauen. Wir sehen sie an der nächsten Bahnstation. Sie hat den bösen Till schon getroffen. Geküsst hat sie ihn dabei hoffentlich nicht…

Elefant im Raum

Klöster, Kirchen und Klösterkirchen. Im Burgund gibts davon so viele, dass brave katholische Bauern die grauen Gemäuer als Scheune benutzen.

Ein Frevel, den man sonst nur den gottlosen Sowjetkommunisten zugetraut hätte. Und gleichzeitig gibt es hier Städte, die aussehen als wären sie auf dem Reißbrett sozialistischer Planer entstanden. Diese Rotunde inmitten von Plattenbauten könnte doch glatt in Novosibirsk oder auf dem Berliner Alexanderplatz stehen.

Aber wenn das der Alexanderplatz ist, dann müsste ja gleich um die Ecke ein Kulturpalast, ein Дом Культуры oder gar ein Palast der Republik stehen. Et voilà:

Das Monstrum heißt ganz elegant «Espace des Arts» und hat mir meinen letzten Tag vor der Abreise aus Chalon sur Saône versüßt. Die Türen standen schon früh am Morgen offen und ich war der einzige, der unter den wachsamen Augen von zwei erstaunten Aufpasserinnen den herrlichen Ausblick aus dem Lampenladen in die umliegenden Sozialwohnungen genießen durfte. „Il est allemand.“ raunte die eine der anderen zu, als würde das mein verrücktes Herumknipsen erklären.

Und wenn der Klotz der kleine Bruder des Berliner Palastes ist, dann war da bestimmt doch auch was mit Asbest…? Richtig. Vor 5 Jahren wurde er grundsaniert. Und um ehrlich zu sein, sah er da am besten aus. Mehr Fotos von Benjamin Chelly.

Und um mich endgültig auf meine Heimreise einzustimmen, fand ich vor dem Bahnhof auch noch einen französischen Dönerstand mit Fleisch, das garantiert „halal“ war und aus Pfungstadt kam. Aber schmeckte natürlich nicht wie in meiner Döneria in Berlin. In Berlin ist mehr Salat.

Und warum ich das alles im 13. Stock der Berliner Charité mit Blick auf den Fernsehturm schreibe ist eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll…

Wärme

Die Straße ist ruhig und dunkel. Das schwarze Kopfsteinpflaster glänzt und die Laternen verstreuen ihr oranges Licht, ohne den Gehweg heller zu machen. Keine Leuchtreklame, keine blendenden Autoscheinwerfer. Nur das Licht, das aus den Häusern auf die Straße fällt. „Wie früher“, denke ich. Diese Stille und diese Dunkelheit war das erste, was mir aufgefallen war, als ich kurz vor und nach der Wende in Ost-Berlin umherstreifte. Bin lange nicht mehr hier gewesen. Vor mir jetzt die Rückseite der Samariterkirche. Ich sehe niemanden, aber höre gedämpftes Stimmengewirr. Wie früher. Viele Menschen müssen sich hier versammelt haben. Ist es wieder an der Zeit für Blues-Messen und Friedensgebete? Für Schweigen und Kerzen? Was macht Eppelmann jetzt und wo versteckt sich die Stasi? Vor dem Eingang brennt eine Feuerschale und darüber schwebt das Emblem mit dem Opferlamm.Viele Menschen in ihren Dreißigern stehen herum. Nicht dicht beieinander sondern jeder für sich, Handy am Ohr, Kind an der Hand. Es gibt auch keine Kerzen, sondern Stockbrot, das die Kinder in die Glut halten. Es ist nicht November 89 sondern November 22, Sankt-Martins-Tag. Wer hier auf die Straße geht, hat nichts zu befürchten.

Und trotzdem komme ich nicht in der Gegenwart an. Zu stark ist der Eindruck, das schon mal erlebt zu haben, diese Straßen schon oft gegangen zu sein. Ich habe mich auf den Weg zurück gemacht an diesem Abend. In eine große Altbauwohnung, von der ich weiß, dass sie aussehen wird wie vor fünfundzwanzig Jahren und auch da sah sie schon aus, als hätte sie sich seit der Wende nicht verändert. Gemütlich, mit kleinen Kunstwerken an allen Wänden und kohleofenwarm. Es wird voll sein, alle werden in der großen Küche um den großen Tisch sitzen, jeder wird was mitgebracht haben und natürlich ist immer zu viel zu essen da, weil Annette natürlich auch noch gebacken und gekocht hat. Es wird Kürbissuppe geben, die schmeckt wie Gulasch.

Ich bin zurück gekommen zu Freunden. Freunde, die für mich immer ein bisschen da waren, und für die ich nie ganz weg war. Ich komme zurück zu einem Freundeskreis, der seit Anfang meiner Berliner Zeit besteht. Die Kinder, die Mitte der Neunziger geboren wurden, haben uns zusammengebracht. So kam ich in das Hinterhaus mit den niedrigen Decken neben dem alten Schlachthof, wo die meisten wohnten. Wir Väter haben eine Sportgemeinschaft gegründet und gingen einmal die Woche ins SEZ, dem Sport- und Erholungszentrum, das noch unter Honnecker gebaut worden war, zum Schwimmen und Saunen. Und danach ins „Make Up“ am Besarinplatz, wo wir ölige Pizza aßen und quatschten, bis Manne, der Gerüstbauer, meinte jetzt sei genug gequatscht, jetzt werde Skat gespielt. Das war dann der Moment, wo ich passen musste.
In der Zeit machten wir alles zusammen. Von Silvester auf‘m Darß bis zum Herrentagsausflug in den Spreewald. Ich lernte die Ostberliner Leitkultur, lernte Schichtsalat lieben, ging zu versteckten Konzerten in Kellern, die der Krieg übrig gelassen hatte und die von irgendeinem Nachbar organisiert wurden und machte den Schritt vom „ich“ zum „wir“. Es gab keine Unterschiede und keine Dünkel. In unserer Gruppe gab es mehr Doktoren als in mancher Poliklinik. Aber keiner redete davon, wie wichtig er war, von neuen Autos, Häusern, oder schicken Sachen. Wir machten Faltboottouren auf der Havel, als einige schon Geschäftsführer in kleinen Unternehmen oder erfolgreiche Lobbyistinnen in der Pharmaindustrie waren. Aber es gab kein Verständnis für das Anderssein und auch keinen Respekt vor dem Wunsch, alleine zu sein zu wollen. Als ich mich auf einer Paddeltour mal zurückfallen ließ, um mal endlich die Ruhe zu genießen, drehte die ganze Gruppe um, um zu fragen, was denn mit mir los sei? Selbst die Affären, die losgingen, als die Kinder aus dem Gröbsten raus waren, kriegte jeder mit. Die Paare tauschten die Partner untereinander aus, aber die Gruppe blieb trotzdem bestehen. Manche schauten sich eine Weile nicht ins Gesicht, oder verließen den Raum, aber spätestens beim nächsten Geburtstag saßen alle wieder beisammen. Ein Dorf in der Stadt.
Ich war der Erste, der in einen anderen Stadtteil zog, es folgten die anderen mit Umzügen in Eigenheimsiedlungen oder in kleine Zweitraumwohnungen. Es gab neue Freundeskreise, neue Partnerinnen und neue Kinder. Aber keiner hat Berlin ganz verlassen.

Es war eng damals, zu eng damals für mich. Jetzt bin ich froh, wieder zu so einem Geburtstag eingeladen zu sein, empfangen zu werden als sei ich nie weg gewesen.