Shikedim, Shikedim

Wieder so eine Geschichte, die aufgeschrieben werden muss, die zu schade wäre, um vergessen zu werden. Gehe ich also gestern endlich mal vor die Tür, nicht so einfach um die Ecke, sondern nach Berlin-Neukölln. Das ist sozusagen das Paralleluniversum zum Wedding: Das Gleiche noch mal auf der anderen Seite der Stadt, aber mit noch mehr Dönerbuden, Handyshops und Hippster-Bars. Und es gibt den Heimathafen – eine Hinterhof-Bühne in einem prächtigen Gründerzeit-Saal, die etwas im Programm hat, was ich bei mir im Kiez vermisse: Türkischen Pop. Ernsthaft.

Als ich vor fast dreißig Jahren in Berlin ankam kriegte ich eine Kassette mit türkischen Popsongs in die Hand. Leierte ich dann von hinten nach vorn. Treibender Rhythmus, traurige Stimmen, passte zur Stadt. Tarkans „Kiss Kiss“ wurde dann später zum Hit, zumindest im „Radio Multkiulti“ vom rbb, das inzwischen eingestellt wurde, wie auch das politische Projekt gleichen Namens. De Film „Crossing the Bridge“ von Fathi Akim über die aktuelle türkische Musikszene hat mich dann nach Istanbul gebracht. Viel später kamen dann „Songs of Gastarbeiter“ und der Film „Liebe, D-Mark und Tod“, über die Musik der Gastarbeitergeneration. So, das muss man also wissen, um zu verstehen, warum ich einmal durch die Stadt gereist bin, um bei „Gasino Nights“ dabei zu sein, die mir eine Show mit deutschen und türkischen Schlagern der 90er versprachen. Vielleicht hab ich auch das, was meine Tochter FOMO nennen würde (Fear of missing out), Angst was zu verpassen, vielleicht wollte ich auch einfach mal raus und was anderes sehen. Immerhin ist es Sommer, auch wenn´s sich nicht so anfühlt.

Sitze ich also da, möglichst weit weg von der Bühne und der Band und alleine am Tisch, denn wenn ich etwas nicht mag, dann ist es von Entertainern zum Mitmachen animiert zu werden. Hat aber nix genützt. Nach ein paar netten Stücken von türkischen Interpreten wurde ein Saal-Quiz ausgerufen. Gehört anscheinend zu einem Gazino dazu. Filmmusik aus den 90ern erraten, die von der Band gespielt wird. Beim ersten kam ich noch mit (Pretty Woman) bei den weiteren verlor ich das Interesse und beim dritten merke ich plötzlich den grellen Saalscheinwerfer auf mich gedreht. Die Musik ist aus, der Saal verstummt und gefühlt alle Augen sind auf mich gerichtet. Hab ich die Hand gehoben? Ich hab doch gar nicht zugehört. Geblendet schmerzt mich das erwartungsvolle Schweigen aus ungezählten Mündern. Ich bin schuld dass der Abend versaut wird und ich bin verloren, ganz klar. Aber wir sind nicht im engen Prag Franz Kafkas, wir sind im quirligsten Teil von Berlin – der Stadt in der alles möglich ist. Und so wundert es mich gar nicht, dass so plötzlich, wie das Licht erschien, jetzt dieses Wesen neben mir auftaucht und „Palp Fickschn…“ flüstert. „Pulp Fiction!“, rufe ich in den Saal und ein Jubel erhebt sich. Eine bezaubernde Assistentin in glitzerndem Frack schwebt auf mich zu und überreicht mir, mit natürlich bezauberndem Lächeln eine Flasche Sekt. Ich bin der Gewinner des Abends! Das Licht geht aus und die Show geht weiter. We can be Heroes just for a day. Aber wir sind hier immer noch in Berlin-Neukölln. Hier gibt es nichts geschenkt. Das hätte ich wissen müssen. Hier gilt das Gesetz der Straße. Geben und Nehmen. Und besser Nehmen als Geben „Also ehrlich jesacht“, kommt es jetzt von rechts, „ist dit ja mein Schampus“. Das Wesen, das mir der Himmel geschickt hatte, war nicht in der Dunkelheit verschwunden, die mich jetzt wieder schützend umgibt. Und ich bin mir jetzt auch nicht mehr sicher, ob es wirklich vom Himmel kam. Ich hab im Dunkeln noch nie gut sehen können, aber ich vermute, dass es eine Frau ist, nicht besonders groß, Pferdeschwanz, die mich jetzt von der Seite anmacht. „Ick meine, ick hab mich neben sie jesetzt, weil wa heute Ahmd keen Jeld hatten, um uns was zu trinken ze koofen.“, kommt es mit Reibeisenstimme aus dem Off. „Und da dachten wir, ich jeh ihn ma een bisschen unta die Arme.“ „Und so ne Flasche Sekt wäre schon nett. Meine Freundin und ich sitzn da drübn am Tisch, wenn´s ihnen nix ausmacht.“ Einen Augenblick stutze ich: Geht das nicht eigentlich umgekehrt? Zuerst setzt sich die Animierdame an den Tisch und dann bestellt der Gast den Sekt? Aber da hat mein resoluter guter Geist schon drei Gläser besorgt, mich an den Tisch gelotst und ihre Freundin vorgestellt. Höchste Zeit die Bremse zu ziehen. „Ich trinke gar keinen Sekt.“, sag ich sauertöpfisch. “ Echt nich? Was trinken se denn? „Bier ist mir lieber“. Na wissene se wat, dann koof ick ihnen een Bier. Zu dritt is so ne Flasche eh n bisschen klein.“ Sagt’s und kommt mit einem Glas Frischgezapftem wieder. Doch ein guter Geist. Und was soll ich sagen? Es wurde noch ein richtig netter Abend. Natürlich kriege ich von den beiden beschwippsten Freundinnen mal im Duett, mal im Wechselgesang wie es nur beste Freundinnen hinbekommen, bald das ganze Leben meiner Wohltäterin erzählt, die, wie alle in Berlin, irgendwas mit Kunst, Selbsterfahrung und langen Reisen gemacht hatte. Ich weiß zwar nicht mehr genau, warum wir dann später am Tisch der Frauengruppe aus Marzahn landeten, aber ich weiß noch ganz genau, dass die türkische Trans-Frau, die als Höhepunkt der Show auftrat, das schönste Lächeln hatte und den besten Bauchtanz hinlegte, den ich je gesehen habe.

Selten so gelacht

Draußen ist es dunkel. Dicke Gewitterwolken hängen über den schmucklosen, heruntergekommenen Betonbauten. Gleich nebenan ist ein Stück vom Todesstreifen der Berliner Mauer erhalten geblieben. Niemandsland, mitten in der Stadt. Was habe ich hier zu suchen? In einem leeren, weiß gekachelten Raum sollen sich hier um halb sieben abends ein paar Menschen gereiften Alters treffen, sagte die Redakteurin unseres Kiezmagazins – um zu lachen. Stumm verfluche ich meine Neugier, die mich den Auftrag annehmen ließ und trete ein. Wenn man als Lokalreporter in einem Stadtteil wie Berlin Wedding unterwegs ist, kriegt man einiges zu sehen. Obdachlosenküchen, dubiose Asia-Restaurants und lesbische Lettinen, die in leeren Hinterhöfen Wolle spinnen. Alles da. Aber gelacht, gelacht hat hier noch nie jemand. Und ich, wann hab ich zum letzten Mal gelacht? Hab ich deshalb den Job übernommen?


Sie fängt mit Händeklatschen an. Klatschen, in die Hände klatschen. Das kann doch jeder. Da können alle mitmachen. Auch ich. Ja, aber auch das kann man lustvoller gestalten, meint die blonde Frau mit dem Flip-Chart. Nicht klatschen wie am Konzertabend, sondern so, wie es die Kinder tun – mit der ganzen Handfläche. So kommt Freude auf. Macht wirklich einen Unterschied. Und lachen, lachen kann doch auch jede und jeder. Wenn man es sich traut, vor anderen Menschen, die man nicht kennt laut los zu lachen. Wir fangen deshalb mit einem einfachen „Ha“ an und steigern uns dann schnell über „Ha Ha“ zu einem hölzernen „Ha Ha Ha!“ Na also, geht doch! Aber zu früh gefreut. Lachen lernen ist eine ernste Angelegenheit. Auf dem Flip-Chart steht jetzt die Deklination des Gelernten in die fünf Lachvokale auf dem Programm: Ha Ha, He He, Hi Hi und so weiter. Und alle noch ein Mal: Ha Ha, He He….Ich fühle mich ein wenig wie in dem Loriot-Sketch „Das Jodeldiplom“. Gleich werden wir wohl das zweite Lach-Futur bei Sonnenaufgang beigebracht bekommen. Aber so schlimm kommts nicht. Jetzt laufen wir im Raum umher, schauen uns an und natürlich – lachen uns an. Und weiter mit Berührung: Finger ausstrecken, Finger berühren, sich anschauen und: lachen! Langsam klingt es nicht mehr so blechern, manchmal kommt auch mal ein Jauchzen dazwischen oder ein albernes Kichern. Und immer wichtig: Blickkontakt! Wie soll man sonst wissen, ob jemand mit einem lacht oder über einen? Ich begegne dankbaren Blicken, fröhlichen aber auch immer noch skeptischen und zögerlichen. Liegt das an mir? Wie hört sich denn mein Lachen an? Wie schaue ich denn? Bin ich hier der einzige Mann? Nee, da hinten ist noch einer. Doch bevor mich allzu viele Selbstzweifel plagen werden wir schon wieder durcheinander gewirbelt und mit neuen Gründen für`s Lachen versorgt. So geht das fast eine Stunde und am Ende haben alle mal mit allen gelacht und alle Körperteile sind einmal durchbewegt worden. Lachyoga nennt sich das alles, hat aber eher was von Ringelpiez mit Anfassen in der Seniorentagesstätte.
In dem weiß gekachelten Raum, der früher mal die Waschküche des Häuserblocks war, hält sich die Fröhlichkeit nicht lange. Kaum hat die Lachlehrerin die letzte Übung von ihrem Flip-Chart abgelesen, werden alle wieder ruhig und reserviert. Wir helfen uns gegenseitig in unsere Jacken und einige rauchen draußen noch eine Zigarette zusammen. Die Gesichter sind entspannt, doch schnell landen wir wieder bei schweren Themen von Politik und Alltag. Unter einer verrosteten Eisenbahnbrücke, an einem Friedhof entlang, in dem das goldene Turmkreuz einer gesprengten Kirche liegt mache ich auf den Heimweg. War das wirklich ich, der da gelacht hat, und was soll ich jetzt schreiben?

Herrentage

Als ich den Friseurladen Almaya betrete, sagt mir keiner „Guten Tag“. Ein Friseur ist mit einem. Kunden beschäftigt und summt leise die Worte des melancholischen arabischen Liedes nach, das durch den Raum dudelt, der andere sitzt auf einem Frisierstuhl und schneidet sich selber den dunklen Bart. Ich war lange nicht mehr hier. Der Laden hatte lange zu. Jetzt hat er mit neuen Leuten und neuer Einrichtung wieder eröffnet. Alles etwas protziger als vorher. Dunkle Stühle mit dicken Metallbeschlägen aus billigem Gold-Imitat. Eine Mischung aus Art-Deco und World of Warcraft. Ich setze mich auf das üppige Ledersofa und warte bis der junge Barbier mit seinem Bart zufrieden ist. Zeitungen gibt es nicht mehr, stattdessen liegt ein Zettel mit QR-Code auf dem Tisch. Endlich zieht er sich seinen Frisierumhang vom Hals und bittet mich auf seinen Stuhl. Endlich das Gebrumm der elektrischen Schneidemaschine auf meinem Kopf und die Hoffnung auf eine kleine Massage mit kühlem Haarwasser zum Abschluss. Endlich bin ich wieder in meinem Viertel, bei Männern, die es für ein bisschen Geld gut mit mir meinen. Gestern war ich auch unter Männern, beim Herrentagsausflug in Zühlsdorf in Brandenburg. Nur fünf Kilometer jenseits des Berliner Autobahnrings, aber in einer anderen, sonnenbeschienen, feindlichen Welt. Dabei hatten wir Glück. Nach einem langen Gezeter mit meinen Jungs waren wir mit unseren Freunden mit nur einer Stunde Verspätung zu unserer Radtour aufgebrochen, hatten uns auf dem unbefestigten Weg durch ein Sumpfgebiet über Stock und Stein gequält und tatsächlich eine offene Gaststätte an einem Bahnhof gefunden, vor der laut lachende Männer in Gruppen auf Bierbänken gegrillte Haxen und Würste aßen. Ein Vatertagsidyll. Aber Freude wollte bei uns nicht aufkommen. Nicht nur, weil es keine Pommes gab, auf die die Jungs sich während der Fahrt gefreut hatten, nicht nur, weil es natürlich in einer Brandenburger Vatertagskneipe kein vegetarisches Menü gab, wie mein Freund es erhofft hatte, sondern weil wir zuvor die breit ausgebaute Dorfstraße unter einem Spalier von AfD-Wahlplakaten entlangfahren mussten. Jeder dritte Mann hier wird im Juni zur Europawahl rechtsradikal wählen. Nur einigen von ihnen sah man an, dass sie sich von unserer Gesellschaft verabschiedet hatten. Grimmig dreinblickende Kerle mit Bärten oder Tatoos, oder beidem. Wenn man es romantisch sehen wollte, wozu man als Städter auf Landpartie neigt, würde man sie als Waldschrate oder Holzknechte sehen wollen, die nun mal hier am Rande der Schorfheide leben. 30 Kilometer stadteinwärts würde man sie korrekt als „Menschen die als Mann gelesen werden wollen“ bezeichnen. Sie selber schreiben sich ihr Mannsein lieber in Fraktur auf die Haut, damit es keine Diskussionen gibt. Aber erschreckender war die Vorstellung, dass auch die andern, die mit dem Rad oder mit dem Kremserwagen angereist waren, die scherzend wie kleine Jungs mit der Bedienung flachsten und von ihr genauso bestimmt und jovial zurechtgewiesen wurden, ihr Kreuz in einem Monat bei den Nazis machen werden. Es gibt in der Verfilmung von „Cabaret“ mit Liza Minelli eine Szene in einem sonnigen Biergarten, in den sich die Berliner an einem Sommertag verlustieren. Und in diesen Biergarten kommt eine Gruppe HJ in Uniform und singt ein deutsches Lied. Der ganze Biergarten applaudiert ihnen. Die AfD singt nicht. Aber sie bekommt stillen Applaus, der auf dem Wahlzettel sichtbar werden wird.

Der arabische Friseur hat sein Werk vollendet. Der arabische Sänger klagt immer noch aus den Lautsprechen, mäandernd wie ein gregorianischer Choral. Der schüchterne Lehrjunge fegt die Haare zusammen, die ich lassen musste. Meinem Kopf geht es besser. Nur das Finale fehlt noch. Ich deute auf meinen Kopf und sage „Haarwasser“. „Waschen?“, fragt mein Friseur. „Nein, Parfüm“, erkläre ich. „Ach so, Aftershave“, lacht er, besprüht mich mit etwas Kühlem, das gut riecht und massiert es in meine Kopfhaut ein. Es tut gut, verstanden zu werden.

Es geht weiter

Schon oft habe ich mir auf diesem Blog Sorgen um ihn gemacht, dachte, er wäre ein Opfer der Klimakrise geworden und habe ihm sogar ein aufmunterndes Gedicht auf den Weg gegeben. Es sah wirklich schlecht für ihn aus, von draußen: die Farbe abgeblättert, die Auslage verstaubt und dann war auch noch auf einmal ein Ladenfenster leer geräumt. Aber man soll sich nicht von Äußerlichkeiten täuschen lassen. Und vor allem: Man soll nicht immer das Schlimmste denken. Und überhaupt: Wenn du denkst, es geht nicht mehr… Genau. Und so ist es auch hier ganz anders als befürchtet. Weder sind böse Kapitalisten im Spiel, noch wollen Hippster die Bude übernehmen. Es geht einfach weiter mit dem alten Laden, dem Laden mit den Madenautomaten, der so was wie ein Markenzeichen des Wedding geworden ist, und der bürgerlich „Angelhaus Koss“ heißt. Der Laden, an dem ich morgens immer auf dem Weg zur Arbeit vorbei komme. Und jetzt habe ich mich sogar getraut mal rein zu gehen und für unser Kiez-Magazin zu fragen, wies denn geht, und so. Und so einiges mehr. Und dabei habe ich viel darüber erfahren, dass Angler ganz anders sind als man denkt, dass das Internet nicht alle kleinen Läden kaputt macht und ich habe seit langem mal wieder einen sehr entspannten Menschen kennen gelernt: Alexander, den Mann hinter dem Madenautomaten. Der Herr der Fliegen, sozusagen.

Wird es weitergehen mit dem Angelhaus?

Ja, es wird weitergehen. Wir mussten einen Teil des Ladens räumen, weil das Haus grundsaniert werden muss. Es steht auf einer „Torfblase“. Das Gebiet wurde früher zum Torfstechen genutzt. Zuerst dachte man, dass das Haus komplett geräumt werden muss, aber jetzt könnten wir theoretisch wieder zurück in den alten Laden. Aber wir haben uns dafür entschieden, den Teil unseres Geschäftes, den für die Wetterkleidung, zu räumen und zu renovieren. Jetzt ziehen wir langsam hier rüber. Bis wir fertig sind, wird es noch eine Weile dauern. Aber wir werden wieder unser volles Sortiment anbieten: Angelgeräte, Wetterkleidung und Pokale.

Für einen leerstehenden Laden in der begehrten Gegend gibt es wahrscheinlich viele Interessenten.

Bei uns hat jeden Tag jemand nachgefragt, ob er den Laden haben kann. Ich habe auch nichts gegen die Veränderung im Kiez. Es gibt hier einen guten Zusammenhalt und man hilft sich untereinander.

Gibt es denn noch genug Kundschaft für einen so speziellen Laden?

Wir sind einer der wenigen Angelläden in Berlin, die noch durchhalten. Viele sind schon weggestorben oder haben aufgegeben. Unsere Kunden kommen aus ganz Berlin und Brandenburg.  Der Beratung wegen. Aber auch, weil man eine Angelrute oder eine Spule in der Hand gehabt haben muss, bevor man sie kauft. Und wir sind sehr bekannt in Anglerkreisen in Ost- und Westberlin. Als die Mauer aufging, wussten die Angler aus dem Osten genau, wo sie hingehen mussten.

Wandern nicht immer mehr Kunden ins Internet ab?

Wahrscheinlich. Aber wir kriegen auch junge, neue Kunden, die sich YouTube-Videos angeschaut haben und dann genau die eine High-Tech-Rute haben wollen, die sie im Internet gesehen haben. Mit einem Stock, einer Schnur und einem Korken, wie wir damals angefangen haben, fängt heute keiner mehr an. Alle wollen Raubfische angeln und an verschiedenen Plätzen angeln. Mir ist das recht. Wenn die Youngster 300 Euro für eine Rute anlegen wollen, können Sie die bei mir bekommen. Aber wir haben auch günstigere Angebote.
Einen echte Veränderung haben auch die Wetter-Apps gebracht. Wenn die Kunden sehen, dass es am Wochenende regnet, bleiben sie zu Hause.

Gibt es denn auch noch die schweigsamen älteren Männer, die sich alleine an den Kanal stellen – das alte Angler-Klischee?

Zum Angeln muss man nich Schweigen. Das ist ein Gerücht. Aber ja, es sind meistens Männer, die angeln. Durch alle Schichten hindurch. Arbeitslose, Sportler oder Ärzte. Aber es werden auch immer mehr Frauen. Gerade in der Coronazeit sind mehr Frauen gekommen. Die meisten angeln aber mit Ihrem Partner.

Kann man in Berlin überhaupt noch angeln?

 Es wird einem schon schwer gemacht. Man muss eine Prüfung ablegen, um einen Fischereischein zu bekommen und braucht eine Angelkarte von dem Pächter des jeweiligen Gewässers. Für den Plötzensee werden seit vergangenem Jahr keine Angelkarten mehr ausgegeben. Man kann sich natürlich auch an das Ufer des Nordhafens stellen. Das mache ich auch manchmal. Aber wenn es Starkregen gibt, sterben die Fische in den Kanälen oft massenhaft, wegen der Abwässer, die in die Kanäle abfließen, wie neulich im Landwehrkanal. Dann ist der Kanal voll mit toten Fischen. Und in Brandenburg ist es im Sommer an den Seen schwer noch ein ruhiges Plätzchen zu finden, wegen der Badetouristen. Da kann man sich dann nur noch mit einem Boot weiter helfen. Angler haben eben keine gute Lobby.

Sie sind jetzt 63 Jahre alt. Wie lange werden Sie weiter machen?

Weiß nicht. Ich weiß nur: Wenn ich hier aufhöre, bin ich in einem Jahr tot. 

Und den Madenautomaten, wird es den auch weiter geben?

Ja, er klemmt nur immer öfter, weil irgendwelche Leute Plastikscheiben oder Sonstwas in den Münzschlitz stecken. Und wir füllen ihn nur noch am Wochenende. Die Maden leben ja. Und bei der großen Hitze verpuppen sie sich schneller. Dann haben sie statt Köder irgendwann ganz normale Stubenfliegen in der Schachtel. Das sind oft ganz dicke Brummer.

Was sonst noch so passiert ist

Vorgestern wars kalt, heute ist es nicht mehr so kalt. Das ist etwas, was ich mit Gewissheit sagen kann. Vorgestern war es sogar sehr kalt. Da saß ich mit meinen Jungs zum ersten Mal im Berliner Olympiastadion und wir schauten uns eine Trauerfeier an. Danach gab es ein Fußballspiel. Und der Westwind blies durch das Marathontor. Warum haben die Nazis da eine Lücke in dem schönen Oval gelassen? Wo doch in Berlin immer Westwind ist? Oder meistens. Auch im Winter. Wenn nicht gerade arktische Winde vom Nordpol kommen. Weil ihnen die Menschen schon immer egal waren. 42 000 saßen im Olympiastadion und froren -wegen den Nazis. Und noch ein paar 10 000 froren am Brandenburger Tor, auch wegen der Nazis. Die auf der Straße haben protestiert, die im Stadion haben geweint. Gestandene Männer schluchzten, weil ihr Präsi gestorben war. Einfach so, mit 43. Bernstein hieß er, aber nicht Leonhard sondern Kay. Deswegen wurde auch nicht gegeigt sondern gesungen: „Nur nach Hause gehen wir nicht“ auf die Melodie von „Sailing“. Rod Steward hätts auch nicht besser hingekriegt. Und kalt wars, sagte ich schon, zugig, aber warm ums Herz wurde es einem, nicht nur weil meine Jungs so begeistert waren, von allem, was sie sahen, sondern wegen der Leute. Leute, die man sonst nur schweigend und geduckt in der U-Bahn trifft, sangen, aufrecht. Und statt Kerzen gab es ein einsames Bengalo. Stilvoll. Lauter sympathische Leute da, sogar die Gegner aus Düsseldorf haben mitgeheult. Hätten auch alle am Brandenburger Tor stehen können, standen aber in der Ostkurve. Und dann ist das Spiel 2:2 ausgegangen. Das war fair. Fair ist ein schönes Wort. Hört man selten in letzter Zeit. Fair ist, wenn man sich streitet, und dabei weiß, dass der andere anders ist, aber auch Respekt verdient. Und wenn man sich an die Regeln hält.
Und deshalb sind auch alle ordentlich zurück gegangen aus dem Stadion in die S-Bahn. Und die S-Bahn hatte Sonderzüge, damit alle schnell weg kamen. Und keiner hat gerempelt und mein Jüngster hat auf dem Weg zur Bahn zwischen all den Bratwurstständen noch einen Schalverkäufer gesehen. Und dann wollte er unbedingt einen Schal. Keinen blau-weißen von Hertha, sondern einen rot-weißen vom FC Bayern München. Da habe ich mich kurz gefragt, von wem er das hat. Aber seine Mutter, die natürlich auch mitgekommen war, obwohl ich gesagt hatte, dass Fussball Männersache sei, und die an alles gedacht hatte, nur nicht an ein Taschntuch für ihre laufende Nase, hat ein gutes Wort für ihn eingelegt und gesagt, dass das nur so eine Phase sei. Und dann hat er hat ihn gekriegt, den Schal, hat ihn aber gleich weggesteckt, weil das wollten wir dann doch nicht riskieren, in einem Zug voller Hertha-Fans einen Bayern-Schal anziehen. Man weiß ja nie, wie die so drauf sind.

Die Verdammten dieser Erde

Am meisten Spaß hatten mal wieder die Alkis. Zu viert standen sie feixend an ihrem Stammplatz hinter dem Kiosk im U-Bahnhof Wedding herum, standesgemäß mit speckigen schwarzen Klamotten, von Wind und Wetter ausgeblichener Kappe und einem Sternburger Pils in der Hand. „Vielleicht solltet ihr ein bisschen Öl nehmen.“, krähte mit seiner brüchigen Stimme der ausgemergelte Wortführer der Gruppe den gehetzten Pendlern zu, die vergeblich versuchten sich noch in die proppevolle U-Bahn zu quetschen. „Dann flutschst besser.“ Einer seiner apathischen Kumpels grunzte lakonisch von seiner Wartebank: „Nur keine Aufregung. In drei Stationen steigt ihr sowieso wieder aus.“ Womit er nicht ganz falsch lag, denn die U 6 ist nicht nur völlig überfüllt, sondern fährt nach der Haltestelle Wedding nur noch fünf Stationen, bevor sie ihre Gäste am Kutschi (U-Bahn Kurt Schumacher Platz) wieder in den kalten Schneeregen ausspuckt und in die schaukelnden Busse des Schienenersatzverkehrs mit ihren dreckblinden Fenstern zwingt, wenn sie weiter nach Norden wollen.
Warum bringen mich diese Elendsgestalten mit ihren blöden Sprüchen gerade auf die Palme? Warum warum würde ich ihnen am liebsten ihr Sterni gerne quer in den Hals schieben? Weil sie unverschämt gelassen sind und weil sie Recht haben mit Ihrer Schadenfreude. Denn bin ich nicht in der großen Herde der abhängigen Beschäftigten wie ein gehetztes Kaninchen von der S-Bahn in den U-Bahnschacht gerast? Und ist mir nicht trotzdem jetzt schon die dritte Bahn vor der Nase weggefahren, weil ich nicht mehr rein komme? Ich bin einfach zu höflich. Wie eine Wand stehen die zusammengepressten schwarzen Daunenjacken vor mir in der Eingangstür wenn das Signal und das barsche „Zurückbleiben bitte“ des Zugführers ertönt. Vielleicht sollte ich genau so frech werden wie die Zottels auf der Bank. Schon seit zwei Wochen redet sich die BVG darauf heraus, dass irgendwelche Idioten auf der Linie die Kupferkabel der Bahn geklaut haben und dass deswegen weniger Züge fahren. Eigentlich sollte das schon im November wieder vorbei sein. Es kann doch nicht so lange dauern, ein neues Kabel einzubauen? Mein Handy zeigt mir auch noch eine andere Ausrede an „Personalmangel wegen plötzlicher Erkrankung“. Bei der BVG ist man bei den Ausreden für`s Zuspätkommen kreativer als jeder freche Sechstklässler.
Aber warum juckt mich das überhaupt? Warum gehöre ich überhaupt zum Heer derer, die man unter die Erde zwingt? Normalerweise würde ich mich niemals zu so etwas herablassen. Als freier Radfahrer stehe über so was. Normalerweise fürchte ich nicht Schnee noch Regen und lache über die Kolleginnen, die über ihre Qualen in den Öffentlichen berichten. Ich fahre wann und wo ich will. Ich mag einen langweiligen nine to five-Job haben, aber ich kann wenigstens frei entscheiden, wie ich zu meinem Schreibtisch und zurück komme, wo ich eine Pause mache und wo ich mich zum Bummeln und Stöbern in einem der vielen Läden an der Straße verführen lasse.

Aber jetzt ich bin geerdet worden. Von meiner Ärztin – wegen des geflickten Schlüsselbeins. Bis Ende des Jahres habe ich Fahrradverbot und das Moped musste in die Garage. Jetzt ist nicht nur die Arbeit sondern auch der Weg dahin eine Plage. Nach einem Monat habe ich schon ein paar Überlebenstechniken für das Leben Untergrund entwickelt. Immer weg von der Tür und am besten mit dem Rücken zur Wand. Keinen Blickkontakt. Dabei hilft es, sich irgendwas interessantes aufs Handy zu laden. Gerade lese ich Graham Greene „Der stille Amerikaner“, wegen der britischen Gelassenheit, die da rüber kommt – wenn dafür Platz ist und mir niemand seinen Rucksack ins Gesicht drückt. Das alles wäre unerträglich, gäbe es nicht immer eine Möglichkeit, sich ein bisschen Freiheit zu bewahren. Wer sagt denn, dass ich den ganzen Weg mit der Bahn fahren muss? Gestern bin ich einfach drei Stationen vorher ausgestiegen. Ich bin zwar nicht mehr gut zu Fuß, aber für eine halbe Stunde durch die Nebenstraßen des Wedding, unter Gaslaternen über Kopfsteinpflaster, dafür reichts immer. Natürlich vorsichtig, damit ich mir bei Eis uns Schnee nicht die Knochen breche. Vielleicht stelle ich mich beim nächsten Mal eine halbe Stunde auf ein Bier zu den Alkis und reiße ein paar blöde Sprüche: „ Immer schön die Türen freimachen! Da drin im Mittelgang ist noch ganz viel Platz, das sehe ich von hier…“

Meine Jahre mit Bernd

Wir sitzen zusammen im Auto. Er hat den alten Kombi an
die Seite gefahren. Der Motor schnurrt weiter, aber es wird still, denn er hat aufgehört zu erzählen.
Er hat mich wie immer zum Bahnhof gebracht, aber ich habe noch nicht gemerkt, dass
unsere gemeinsame Fahrt vorbei ist. Ich will, dass es weitergeht. Seit Stunden
höre ich ihm zu. Und ich erwarte, dass er die letzte Geschichte zu Ende
erzählt. Aber für ihn ist Schluss. „Und was habt ihr gemacht, als dann die
Polizei kam?“, frage ich, wie ich seit Stunden immer wieder frage, um immer
neue Geschichten aus ihm herauszulocken. Ich will mehr als seine
Stammtischsprüche und die abgeschliffenen Worte, mit denen alte Männer die
Heldentaten ihres Lebens erzählen. Aber jetzt kommt nichts mehr. Es muss was
mit der Nachricht auf seinem Handy zu tun haben, auf die er jetzt gehetzt
schaut. Von seiner Frau? Vor Verwirrung vergessen wir, uns mit einem kräftigen Handschlag zu
verabschieden, wie wir es sonst tun. Ich stehe auf dem kalten Gehweg und er
dreht den Wagen auf die öde Brandenburger Landstraße. Dabei waren wir eben noch
in der Pizzeria im alten West-Berlin wo vor fast fünfzig Jahren sechs Rocker
seine Freundin (Weeste, die sah verdammt jut aus, ne echte Puppe) blöd
angemacht hatten. Und er und sein Kumpel sind, na klar, mit den Kerlen vor die
Tür, und dann gab’s Schläge, bis dreie auf der Straße lagen. Na klar, ein Kerl
wie Bernd lässt sich nicht verarschen. Und Bernd gewinnt immer.

Zu Bernd, der natürlich nicht Bernd heißt, fahre ich mindestens einmal im
Jahr. Durch ganz Berlin bis in den Süden, irgendwo zwischen Autobahnkreuzen,
zwischen dem Berliner Ring und dem neuen Flughafen, in den schäbigen Hallen der
ehemaligen Motoren-Traktoren-Station hat er seine Werkstatt. Bernd ist mein
Schrauber. Wer, wie ich, ein vierzig Jahre altes Motorrad am Laufen halten
will, brauch jemand wie Bernd. Einen, der sich noch auskennt mit der alten
Technik italienischer V-Motoren, der einen beruhigt, wenn man mal wieder leerer
Batterie irgendwo liegengeblieben ist und der einem, wenn mitten in der
Hochsaison, eine Woche vor der geplanten großen Tour nach Italien, Öl vom
Zylinderfuß tropft, sagt, dass man sofort vorbeikommen kann. Aber Bernd ist
auch eine Diva. Er entscheidet, was für mich und meine Maschine gut ist. Wenn
ich einem neuen Drehzahlmesser will, bekomme ich gesagt: „Wer eine Guzzi fährt,
braucht keinen Drehzahlmesser, der hört auf den Motor.“ Und wenn ich verchromte
Blinker haben will, baut er schwarze dran, weil er die noch auf Lager hatte. Er
ist der Meister, ich der Eierkopf. Aber ich weiß, dass ich bei ihm in guten
Händen bin.

Aber auch ein Mann wie Bernd braucht Trost. Von Anfang an war seine Ansage:
„Wenn de hier vorbei kommst, musste ooch Zeit mitbringen zum Quatschen.“ Und
weil ich so bin wie ich bin, werden es bei uns keine „Benzin-Gespräche“ unter
Motorradfahren, sondern habtherapeutische Beziehungsgespräche. Bernd will
reden. Seit mehr als zehn Jahren klagt mir Bernd sein Leid. Zwei gescheiterte
Ehen, eine schmutzige Scheidung, bei der er sein ganzes Vermögen verlor, der
Sohn, der mit Mühe und der Unterstützung des Vaters gerade mal so die
Ausbildung als Kfz-Schlosser geschafft hat und jetzt auf Abwegen im
türkisch-arabischen Kiffer-Milieu von Kreuzberg herumlungert. „Kriegt nix
Ordentliches auf die Reihe.“, sagt Bernd und ich weiß, dass ihm das halbseidene
Herumgewurschtel seines Sohnes schwer zu schaffen macht. Aber auch meine
Geschichten kennt Bernd: Die Zwillinge und ihre Mutter waren schon in seiner
Werkstatt, als er noch die Motorradfahrer zum Saisonende zu seinen 
Feiern einlud, für die er seine Werkstatt liebevoll dekorierte. Er hat unseren Polo gekauft, als wir für die Jungs ein
größeres Auto brauchten (er läuft heute noch) und er hat meine ganze Geschichte
mit der Trennung und dem Umzug mit väterlichen Ratschlägen begleitet.

Das ist lange her. Heute erzählt nur noch Bernd.
Und seit heute weiß ich Sachen über ihn, die ich lieber nicht wissen
wollte. Oder doch? Dass Bernd in seiner Jugend selber Rennfahrer mit einem
hochgezüchteten Rennboliden war, wusste ich. Aber bisher dachte ich, dass er
sich diese teure Leidenschaft mit dem Reparieren und Frisieren anderer
Sportwagen verdient hat. Dass seine Kunden Rechtsanwälte und Bordellbetreiber
aus der West-Berliner Unterwelt waren, die sich die großen Geldscheine, die ihre Frauen für
sie verdienten auf Tabletts servieren ließen, um sie dann achtlos unter das
Bett zu werfen, wusste ich auch. Aber heute erzählte er mir, dass er nicht nur
für „den dicken Hartmann“ gearbeitet hat, in dessen Puff sich
Berliner Senatoren mit Baulöwen und Immobilienhaie trafen, sondern auch als
Schläger für einen Spekulanten. Mit einem Grinsen im Gesicht erzählt er mir von
einem Angriff auf ein besetztes Haus, das die Polizei nicht räumen durfte. Ein
Schuss mit einer abgesägten Schrotflinte habe gereicht, um die Besetzer zu
vertreiben. Und als die Polizei kam, von den Besetzern gerufen, habe man sie
gemütlich begrüßt. Das Gewehr war natürlich nicht mehr zu finden. Bernd kann
keener. Vor meinem Auge entsteht eine Welt von breitschultrigen Männern mit
langen, fettigen Haaren und Schnurrbart, Kerle in Lederjacken und
Cowboystiefeln. Die 70er-Jahre „Johnny Controletti“-Unterwelt von der
Udo Lindenberg noch heute singt. Von Kurierfahrten nach England erzählt er, bei
denen er auf der Rückfahrt im Lüftungskasten seines Lieferwagens
Yorkshire-Terrierwelpen geschmuggelt habe. Ohne Papiere natürlich. Die habe ihm
ein Tierarzt auf der Rennbahn Marienfelde besorgt, für den er einen Porsche
Carrera aufgemotzt habe. Und die Hunde habe er für das Dreifache an die Mädchen
im Puff vom dicken Hartmann verkauft. Kleine, bauernschlaue Geschäfte,
schmutzige Tricks und plumpe Gewalt. Bernd gewinnt gegen den Rest der Welt. Und
kein schlechtes Gewissen. Das was er heute ablegt ist keine Lebensbeichte,
sondern klingt wie ein genüsslicher Monolog über große Taten und
Jugendsünden. Er ist stolz auf all das, was ihn heute bei seinem Sohn zur
Verzweiflung bringt.

Was fange ich an mit diesen Geschichten? Eigentlich ist es eine
Groschenheftgeschichte, ein B-Movie aus den 70ern „Wilde Kerle, heiße
Mädchen, schnelle Motoren“. Aber es ist eine halbwegs wahre Geschichte aus dem
wirklichem Leben. Ich liebe solche Geschichten und ich glaube, Bernd wäre nicht abgeneigt, wenn ich ihm anbieten würde, sie aufzuschreiben. Aber ich will sein Ego nicht noch mehr pampern. Und
ich weiß, dass Bernd mich bescheißt, so wie er alle bescheißt. Nicht nur bei
den Reparaturen, wenn er teure Spezialteile ausbaut, und gegen Standardware
tauscht, sondern auch bei den Geschichten. Ich fahre nicht mehr gerne zu Bernd,
denn das Erzählen funktioniert nur, wenn ich mich selbst völlig zurücknehme. Nach den Erzählungen fühlt er sich groß und ich mich klein. Was habe ich schon zu erzählen, wenn ich den zu Wort käme? Was passiert, wenn ich ihm sage, dass ich ihm die Räuberpistolen nicht glaube? Ich mache mich abhängig von Bernd. Das Motorrad habe ich mir mal gekauft, um mit Männern wie ihm in Kontakt zu kommen. Von Kerlen wie ihm akzeptiert zu werden. Aber in dieser Welt gibt es zu viele Kerle mit zu großer Klappe, die denken, dass sie machen können, was sie wollen. Und sie suhlen sich in meiner Bewunderung.
Aber ich mache auch mein Geschäft. Ich lasse zu, dass er sich wie
ein Kietz-König fühlt, damit er einen Deal mit dem TÜV-Ingenieur macht, und ich
meine Plakette kriege. Kleine, miese Geschäfte. Wird Zeit, dass ich das
Motorrad verkaufe. Aber nicht an Bernd.

Jungbrunnen

Nach langer Zeit war es der erste gute Tag für die Leute in meinem Quartier. Die Sonne hatte die Schleier der Morgennebel verjagt und schien jetzt mit verloren geglaubter Kraft vom strahlend blauen Himmel. Der Sprühregen der vergangenen Tage, der nichts anders war als flüssige schlechte Laune, die von den Menschen inhaliert wurde, hatte aufgehört uns niederzudrücken und die Wiederholung der Berliner Wahl hatte zu Überraschung aller funktioniert. In vielen Briefkästen lagen sogar die Schreiben des Stromversorgers, dass der monatliche Abschlag bis zum Ende des Jahres dank staatlicher Unterstützung um ein paar Euro gesenkt werden würde. Ein Tag, Hoffnung zu schöpfen und frischen Lebensmut zu fassen. Ja Mut! Denn Mut brauchte es, um auf die Straße zu gehen, weil seit die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, ein verrückter Alter mit einem knatternden Moped um die Häuser fuhr, mitten auf der Straße anhielt um mit einer Hand an seinem Motor zu fummeln und mit der anderen den Gasgriff auf Anschlag zu drehen; ein entrücktes Grinsen im Gesicht. War das noch Regression, die der alte Mann mit grauen Bartstoppeln auf einem alten DDR-Moped, das er wahrscheinlich noch aus seiner Jugendzeit gerettet hatte, durchmachte, oder war das schon Demenz?
Die Stammgäste des einfachen Cafés, in dem der schrullige Alte manchmal Morgens auftauchte, und sich einen Kaffee in die mitgebrachte Tasse füllen ließ, um sich dann mal in die lokale Skandalzeitung zu vertiefen, mal sich an den Raucherstehtisch vor der Tür zu stellen und versonnen den Menschen auf dem Gehweg nachzuschauen, überlegten, ob sie die Polizei holen, oder die Verwandten anrufen sollten. Aber außer einer kleinen Horde Jungs im Grundschulalter, mit denen er an Wochenenden manchmal im Café auftauchte, um für die Kinder Kekse zu kaufen, hatte man noch keine Angehörigen gesehen. Die kleine Frau hinter dem Tresen glaubte zu wissen, dass er noch Arbeit hatte. Denn manchmal klingelte bei den morgendlichen Besuchen das Telefon und er verzog das Gesicht, aber meldete sich dann mit ruhiger, freundlicher Stimme. Danach verließ er schnell das Café, den Kaffeebecher in der Hand. Andere wussten, dass er immer das Bücherregal mit den gebrauchten Romanen sorgfältig studierte und einige abgelesene Schwarten, die keiner haben wollte mit nach Hause nahm. Sonst hatte keiner in je reden gehört. Auf das muntere „Das Übliche?“ der Inhaberin antwortete er meist einsilbig „Das Übliche“. Versuche, ihn morgens in ein Gespräch zu verwickeln mißlangen. Selbst zu der Preiserhöhung und ihrer langen Entschuldigung dafür, hatte er nur mit einem Achselzucken geantwortet. Und jetzt das!
Hätten die Gäste an diesem Morgen auch nur einmal ihre durchgesessenen Hintern von den Polsterstühlen gehoben und hätten sie um die Ecke geschaut, hätten sie ihn besser kennen gelernt. Bewaffnet mit einem Leatherman-Taschenmesser, einem Schraubenzieher und ein paar alten Handtüchern trat er aus der Tür und ging stracks auf sein Moped zu. Er hatte anscheinend vor, das laute, stinkende Teil, dessen entnervend schrilles Geräusch zur Mittagsschlafszeit schon die Eltern der Kleinkinder im Erdgeschoss zum demonstrativen Herablassen der Rollos gezwungen hatte, endlich ordentlich ans Laufen zu bringen. Ein interessierter Beobachter hätte sehen können, wie er von dem filigranen Vergaser kleine Schräubchen löste, herausspringende Federn versuchte wieder an ihren Platz zu bringen und wie er unter das Moped kroch, wo sich ein feuchter Fleck aus Benzin gebildet hatte, um heruntergefallene Dichtringe zu suchen. Das ganze dauerte eine halbe Stunde und es mutete eher an wie der berühmte „Blick des Schweins in ein Uhrwerk“ als nach einer gezielten Reparatur. Zwischenzeitlich musste er ein paar Mal zurück durch die Wohnungstür, weil er immer mehr Werkzeug brauchte. Irgendwann begann er, auf sein altes Gefährt einzutreten, bis der Motor röchelte. Dann drehte er ein paar mal am Gashahn und das Maschinchen sprang ganz unerwartet an. Sie hätten sehen können, wie das Gesicht des Alten plötzlich mit der fahlen Wintersonne um die Wette strahlte. Wie sich seine Züge schlagartig verjüngten.
Seither machte er die Straßen des Blocks unsicher. Meistens eierte er langsam herum. Oft starb der Motor ab. Dann blieb er stehen, blickte nach unten, drehte ein Schräubchen mit seinem Taschenmesser, dann wieder am Gasgriff, unbeeindruckt von den hinter ihm hupenden Autos. Mal raste er wie besessen am Café vorbei, als könne sich sein altes Gefährt durch reine Geschwindigkeit selbst kurieren. Aber meistens sah man ihn auf den Kickstarter treten. Irgendwann dann, die Sonne verschwand schon hinter den Häusergiebeln, war endlich Ruhe. Keiner hat ihn mehr gesehen. Man munkelte, er fahre jetzt Richtung Westen, dem Sonnenuntergang entgegen…

Unter Leichenfledderern

Sie haben kein Blut an den Händen, aber den kalten Geruch nach Mensch, nach einsamem Mensch und totem Mensch, nach Räumen verlöschenden Lebens, die lange nicht mehr geputzt und gelüftet wurden. Alles was man bei ihnen anfasst, riecht abgestanden, nach Sterben und Vergeblichkeit. Sie sind nicht pietätlos, nicht brutal, aber gnadenlos effizient und berechnend, genau wie ihre Auftraggeber.

„Es sind die Töchter und Söhne, die uns anrufen, wenn ihre Eltern gestorben sind.“ sagt Yasim, Verkäufer in einem großen Trödelladen in Berlin-Wedding. „Wenn es keine gibt, rufen die Vermieter an.“ „Wenn wir kommen haben die Kinder die meisten persönlichen Sachen und die Erinnerungsstücke schon aussortiert. Wir nehmen nur mit, was die Kinder nicht haben wollen.“ Der Laden zeigt, einigermaßen gut sortiert, auf was die Kinder und Enkel heute gerne verzichten: Kaffeekannen, Kristallschalen, Fonduesets, HiFi-Anlagen aus der 80ern, Ölbilder mit romantischen Motiven, Rotlichtlampen, Johghurtbereiter, Schlager-Schallplatten, vergilbte Taschenbücher, elektrische Brotschneidemaschinen oder Diaprojektoren. All die Anschaffungen, mit denen man einmal seinen nach und nach steigenden Wohlstand zeigte, stapeln sich jetzt lieblos in den Regalen und warten darauf, von einer neuen Generation wieder zum Leben erweckt zu werden.

Es sei jedes Mal wieder ein schwieriger Job, wenn eine Wohnung geräumt werden muss, sagt Yasim, den ich für unser Kiez-Magazin über das Geschäftsmodell der modenenen Trödelläden befrage, die in den leeren Ladenlokalen des Wedding als Erstbesiedler und Zwischennutzer einziehen. Die Läden heißen „Entrümpelung“, „Wohnungsauflösung“ oder „Umzugsservice“. Wo immer ein Ladenlokal im Wedding leersteht (und kein Kindergarten, kein Friseur und kein Café einziehen will), kann man fast sicher sein, dass er bald voll ist mit unsortiertem Gerümpel, Umzugskartons und alten Möbeln. Diese modernen Trödler haben nichts mehr mit den schrulligen Antiquitätenhändlern und alten Büchernarren zu tun, die es im Wedding noch vor wenigen Jahren gab. Und Welten trennen sie von den Antiquitätenflohmärkten für die Touristen auf der Straße des 17. Juni oder neben dem Berliner Dom. Sie sind leidenschaftslose Resteverwerter und nur wenige versuchen noch, den Wohlstandsmüll für ihre Kundschaft ein wenig zu sortieren.

„Es muss schnell gehen und gründlich sein.“ verrät Yasim mir die Arbeitsmoral der Entrümpler. „Aber das ist ja auch eines ganzes Leben, das man da einpackt. Das muss man auch mit Respekt behandeln.“ Er sagt das pietätvoll und wirkt dabei so verbindlich und zurückhaltend wie ein Leichenbestatter. Gleichzeitig ist es ein kühl kalkuliertes Geschäft für beide Seiten: Wenn die Entrümpler Verwertbares im Nachlass finden, senkt das den Preis für die anderen Arbeiten und die Kosten der Entsorgung für die Dinge, die auf dem Müll kommen. Bevor die Sachen dann im Laden landen, kommen die professionellen Händler und Sammler zum Zug. Derzeit stark gefragt sind Erinnerungsstücke aus der Zeit des 2. Weltkriegs: Briefe, Fotos, Tagebücher. „Oft kommen auch Händler, die Sachen, die in Deutschland nicht mehr gefragt sind, in einen Container packen und nach Afrika verschiffen.“, berichtet Yasim. Röhrenfernseher, Kassettenrecorder oder Videogeräte seien dort noch beliebt, Kleidung ebenso. Auch das Internet spiele eine Rolle bei der Verwertung. Trotzdem würde der Platz im Lager nicht mehr ausreichen, der ganze Keller sei voller Bücher, obwohl Antiquariate die Literatur gleich kistenweise kauften. Und dann nennt er ein Wort, das ich auch noch in andern Läden hören werden: „Die Messies“. Menschen, die in ihrer Wohnung über 20 oder 30 Jahre Dinge ansammeln und den Überblick verlieren. Dann schweigt mein Informant, als hätte er zu viel erzählt. Ein Foto darf ich von Yasim nicht machen und auch seinen Nachnamen verrät er nicht. „Ich bin konvertiert.“, ist sein letzter Satz. Es hört sich geschäftsmäßig an. Anscheinend ist diese Info für seine Kundschaft wichtig. Von wo nach wo er religiös gewechselt ist, verrät er mir nicht.


„Verwahrlosung“, nennt Trödelhändler Stephan, die Entwicklung hinter den Weddinger Wohnungstüren. Sie sei einer der Gründe, warum sich das Geschäft kaum noch lohne. Sein Laden ist seit 35 Jahren eine Institution im schnelllebigen Geschäft mit den Resten Berliner Existenzen. 1987 wurde er von Stefans Eltern gegründet. Er war immer besonders stolz auf hohe Qualität der angebotenen Fundstücke: Tassen aus Meißner Porzellan, Bestecke von WMF oder vollständige Services von Rosenthal waren in den Regalen zu finden. Dazu echte Antiquitäten und solide Möbel. „Früher haben die Kunden ganze Wohnungseinrichtungen bei uns gekauft: Bett, Tisch, Schrankwand.“ Auch ich war vor einigen Jahren bei Stephan, als ich von jetzt auf gleich eine neue Wohnungseinrichtung brauchte. Ich fand alles, was mir fehlte: Vom Handtuch über den Staubsauger bis zu den Suppentellern. Manche Sachen halten heute noch.
Doch schon vor drei Jahren musste Stephan den Laden verkleinern. „Man findet in den Wohnungen immer öfter nur noch Ramsch. Und Schrankwände will niemand mehr.“, klagt er. Die soliden Einrichtungen, die sich die Haushalte in den Wirtschaftswunderzeiten angeschafft haben, seien schon vor Jahren verkauft worden. Die Generation, die heute ihre Wohnungen verlässt, hat weniger auf Qualität geachtet, sei öfter umgezogen, oder hatte kein Geld, sich was Ordentliches zu kaufen. „Einen IKEA-Schrank kannst du nur zwei Mal aufbauen, dann kannst du ihn nicht mehr verkaufen.“ Es sei auch immer schwieriger geworden, an gute Ware zu kommen, weil die Nachkommen den Nachlass ihrer Eltern stärker aussortieren. Kleidung wird an die Kleiderkammern der Wohlfahrtsorganisationen gespendet, wertvolle Bücher, Schmuck und Bilder selbst übers Internet verkauft.

„Die Leute wollen auch die Preise für gute alte Sachen nicht mehr zahlen.“, brummt der robuste Händler mit den langen blonden Haaren, dem man ansieht, dass er lieber Schränke schleppt als um Preise zu feilschen. Er deutet auf ein hochwertiges Service aus den 60er-Jahren, das 60 Euro kosten soll. „Das ist viel mehr wert, das ist etwas Seltenes, was für Sammler. Aber hier im Wedding zahlt das keiner mehr. Die Leute haben ja auch immer weniger Geld.“ Solche Antiquitäten über das Internet zu verkaufen, habe er auch schon versucht. Aber das habe zu viel Ärger gebracht. Deshalb sei er zum alten „Anschauen, bezahlen, mitnehmen!“ zurückgekehrt. Aber so läuft das Geschäft heute nicht mehr. Deshalb ist bei Sephan jetzt Schluss. Ab Ende des Monats ist der Laden zu.

Nur zwei Querstraßen weiter sehe ich vor einem ehemaligen Installateurgeschäft Bananenkartons voller Gerümpel. Drinnen stehen ein paar alte Möbel. Ich höre russische Stimmen. „Wohnungsauflösung- Entrümpelung“ steht jetzt über dem Schaufenster. Ich gehe einfach hinein und plötzlich sehe ich etwas, von dem ich vergessen hatte, das ich es immer schon brauchte: Eine Eieruhr, die klingelt und aussieht wie eine Maus. Genau so eine, wie sie mir aus dem Umzugskarton entgegen blinzelt. Damit will ich die Computerspielzeit meiner süchtigen Söhne kontrollieren. „Was gibst du?“, fragt der Händler, der aus dem Dunkel des Hinterzimmers aufgetaucht ist. Ich lege eine 2 Euro-Münze in seine breite Hand. Wir haben heute beide ein gutes Geschäft gemacht.

Von Knallköpfen und bösen Geistern

Danke der Nachfrage: Ich habe die Berliner Sylvesternacht überlebt. Nach zwei Jahren Böllerverbot ahnte ich, dass es dieses Jahr etwas heftiger werden würde als sonst. Also habe ich mein neues Moped vom Straßenrand weggefahren und bei einem Freund untergestellt, dann habe ich die Stadt verlassen. Von dem Knallerkrieg in Neukölln habe ich heute aus der Zeitung erfahren. Da las ich dann auch, dass es die meisten Schwerverletzen in den Außenbezirken gab.
Ich bin nicht gegen Böller. Als gebürtiger Rheinländer weiß ich: Einmal im Jahr muss der Dampf aus dem Kessel. Der Rest ist Sache der Krankenhäuser und der Polizei. Aber was mir wirklich angst macht ist, dass die Knallerei trotz enormer Aufrüstung ihr Ziel nicht erreicht. Die bösen Geister waren auch im neuen Jahr wieder da.

Das meine ich nicht allegorisch, sondern ehrlich. Eigentlich hatte ich heute Nacht allen Grund auf schöne Träume zu hoffen, denn das neue Jahr hatte sehr harmonisch angefangen. Aber die erste Nacht im alten Bett in Berlin endete jäh, weil ich träumte, dass mich jemand Dunkles anfassen wollte. „Nimm deine Hände weg!“, rief ich und war mit einem Schlag hellwach. Missmutig schüttelte ich den Kopf, denn solche Träume kenne ich seit ich hier wohne und hatte dafür in einem Blogartikel schon mal eine halbwegs vernünftige Erklärung gefunden. Meinen Arzt hatte ich auch gefragt und der murmelte etwas von „Wechselwirkung verschiedener Medikamente“. Ich drehte mich also um und schaffte es sogar, wieder einzuschlafen. Heute Morgen traf ich meine Nachbarin von unten. Sie redet sonst nicht viel mit mir, aber heute passte sie mich ab, um sich für knapp für das Weihnachtsgeschenk zu bedanken, das ich für sie und ihre Katzen vor die Tür gestellt hatte (Selbstgebackene Kekse für sie, Sheba für die Katzen). „Kein Katzenfutter mehr.“ endete der zweite freundliche Satz. „Ich hab die letzte vor Weihnachten einschläfern lassen müssen.“ Es folgte ein kurzes Gespräch über alte Katzen und die Kosten für die Tierärztin, bis sie genau so nüchtern wie alles davor Gesagte bemerkte: „Seitdem sind die Geister wieder da.“ Dann erzählte sie mir von den nächtlichen Geräuschen und wie ihre Gespenster aussehen. Dunkel, wie bei mir. Und sie brachte sie mit Vater und Mutter in Verbindung, so wie ich beim ersten Mal. Selbst wenn meine Nachbarin eine Frau wäre, die der Esoterik anhängt und sonst eine Nähe zu Unsichtbarem hätte, hätte mich das nachdenklich gemacht. Aber sie ist eine sehr bodenständige Berlinerin, die als Friedhofsgärtnerin arbeitet, wenn ihre kaputten Gelenke es zulassen. „Katzen erkennen Gespenster.“, klärte sie mich auf. „Wenn sie in eine Ecke gucken und lauern, dann ist da was, auch wenn man nichts sieht.“ Sie habe jetzt ein Gitter um ihr Bett gestellt, das umfallen würde, würden die Geister es noch einmal wagen, an sie heranzutreten.
Langsam begann es sich in meinem Kopf zu drehen. Ihr Schlafzimmer liegt genau unter meinem. War nicht mein Sohn, der sonst liebend gerne alleine in meinem Bett schläft, neulich zu mir gekommen und hatte sich gewünscht, wieder in sein eigenes Bett zu kommen? Wegen der „Geräusche“. Ja, irgendwas raschelt in meinem Zimmer. Ich hatte mir das bisher mit irgendwelchen Tieren erklärt, die sich zwischen der Hauswand und der vor meinem Einzug neu aufgebrachten Isolierschicht ein Nest gebaut hatten. Mäuse vielleicht? Das würde das Interesse der Katzen erklären. Mein zweite Idee war die Heizung. Aber es knisterte und knackte auch, wenn die Heizung nicht lief…. Inzwischen war die Nachbarin schon bei der Wohnung ihrer Schwiegermutter, in der nach ihrem Tod alle Türen gleichzeitig aufgesprungen wären, als ihr Sohn versucht hätte, einige Gegenstände wegzuwerfen, die der Schwiegermutter lieb gewesen waren. Wahrscheinlich würde ich gleich noch mehr Geistergeschichten hören, wenn ich jetzt länger blieb. Warum eigentlich nicht? Geisterglaube gibt es ja nicht erst seit der Erfindung der Räucherstäbchen. Und nicht nur bei Menschen, die sich gerne an Vollmondnächten im Wald treffen. Auch Gärtnerinnen glauben an Geister. Dass die Vorfahren im Leben ihrer Nachfahren präsent sind und sich einmischen, ist in vielen Religionen mit Ahnenkult eine Selbstverständlichkeit. Und ist nicht die ganze Psychoanalyse mit ihrem „Über-Ich“ eine moderne Erklärung dafür, dass sich die Alten, lebendig oder tot, ständig in das Leben ihrer Sprösslinge einmischen? Habe ich nicht in manchen Situationen tatsächlich das Gefühl, dass mein verstorbener Vater mir über die Schulter blickt, oder dass ich ihm etwas zeige, von dem ich denke, dass es ihm gefällt? Dass meine verstorbene Mutter mit meiner späten Vaterschaft nicht einverstanden war, weiß ich auch, ohne dass sie mich nachts besucht. Deshalb hier die Bitte (lesen Geister Blogs?): Nachts mögt ihr mich bitte in Ruhe lassen. Ich brauche meinen Schlaf, um den Tag in der wirklichen Welt zu überstehen.

Das ist ein Schild aus Dänemark. Es bedeutet nicht „Knallerverbot“ sondern „Für Mopeds verboten“. Ein Mopedverbot würde mich hart treffen.