Comfortly numb

Wenigstens Aldi bleibt zuversichtlich. Wenn sogar Aldi Nord und Aldi Süd zusammen arbeiten können, dann sollte es doch auch woanders klappen. Das Schild sehe ich auf dem Parkplatz, der der Treffpunkt der Autofahrer in der Vorstadtsiedlung ist. Mehr kriege ich von der Weltpolitik gerade auch nicht mit. Nach 14 Tagen Kinderkram und Teenagergeheule im Eigenheim kam gestern meine Ablösung im silbernen Audi hereingeschwebt: Die Schwiegermutter übernimmt meinen Part als „bad guy“ im Haus der Mutter meiner Kinder.
14 Tage im Morgengrauen drei Jungs aus den Betten werfen, die natürlich bis in die Nacht Bücher gelesen/Radio gehört/Handy gespielt haben, die ich nicht rechtzeitig unter ihren Kopfkissen/Matratzen/Schlafanzughosen gefunden habe, dazwischen ein bisschen Homeoffice und die kranke Mutter zum Arzt fahren, ein bisschen über Pädagogik streiten und über die Frage, ob das jetzt Pubertät oder seelische Erkrankung ist. Ein bisschen Einkaufen und der Versuch eines gemeinsamen Abendessens, der meist scheitert. Danach dann Posten beziehen vor den Kinderzimmer, dass nicht wieder einer ins Bad abhaut, und auf dem Klo sein Handy rausholt, oder bei der Mutter unten Drama macht (um das weggenommene Handy wieder zu kriegen). Dazwischen Einlagen in Freistil-Ringen zwischen mir und zwei 13-Jährigen. Zwei Mal 13 gegen ein Mal 63, das geht nicht gut, das wird laut, abends um 10 oder 11. Und danach noch ein müdes Gespräch zwischen den Eltern. Und dann lange kein Schlaf. Zum Glück hat mir der Arzt „Fathers Little Helpers“ verschrieben, damit ich wenigstens ein paar Stunden die Augen zu machen kann.

Jetzt wieder in Berlin. Bis in die Puppen geschlafen. Der Kopf ist leer. So leer, dass ich mir nicht vorstellen kann, noch mal einen klaren Gedanken zu fassen. Kein unangenehmes Gefühl, wenn man nichts vorhat. Um drei Uhr wenigstens einmal raus auf die Straße. Und an dem, was ich mache, merke ich, was mir gefehlt hat. Einmal zu Tobis Backwaren, einer Bäckerei mit 60er Jahre Einrichtung, die jetzt von einem munteren türkischen Paar geführt wird. Der junge Chef ist ein lustiger Alleinunterhalter, der einfache, laute Sätze macht und spielend von Deutsch ins Türkische wechselt, mit einer Kundin flirtet, seine Frau, deren grünes Kopftuch alles andere als züchtig um den Kopf drapiert ist, in den Arm dabei nimmt und als ein stark schwäbelnder Gast meckert: „Noch einen Cappucino bitte. Der erste war ein bisschen klein!“ kontert er lachend: „Der war zu gut! Den haben sie zu schnell getrunken.“ Dann dackele ich weiter zum City Kino. Die letzten Monate habe ich „Mufasa – König der Löwen“ und „Sonic, the Hedgehog 3“ und viele YouTube-Clips mit Fußballsongs sehen müssen. Deshalb wäre Art House Kino jetzt mal wieder schön, aber jenseits meiner Auffassungsfähigkeit. Die Einladung zur Berlinale hab ich ungenutzt zurückgegeben. Neben dem Kino ist eine Telefonzelle, die zur Bücherbox umgebaut wurde. Dort setze ich mit einem alten dtv-Bändchen: Der Jesus -Prozess. Ein bisschen Verschwörungstheorie geht immer. Sonst lese ich nur noch Krimis. Die Bücherbox ist rege besucht am Sonntagnachmittag. Menschen meines Alters grüßen mich freundlich, geben sich höflich die Klapptüre in die Hand und ich frage mich, was sie gerade von dem müden Mann auf der Bank denken, in seinem blauen Marine-Parka und der ollen Jeans mit dem vergilbten Bändchen in der Hand. Aber auch der Gedanke bleibt nur kurz im leeren Hirn hängen. Als ich nach Hause komme, stellt meine Nachbarin zwei Flachbildschirme in den Flur. Die Großmutter, von der sie den alten Mietvertrag von 1956 übernommen hat (640 Euro brutto kalt), ist im Altersheim gestorben. Jetzt habe ich nach 10 Jahren wieder einen Fernseher, geschenkt! Vielleicht kommen meine Jungs dann wieder mal zu mir, um Sportschau zu gucken.

Stayn alive

Nein, Alkohol ist auch keine Lösung, obwohl das viele hier versuchen. Und nach der Sylvesternacht nüchtern durch mein Viertel zu gehen, ist an diesen unwirklichen Tagen zwischen den Jahren wirklich nicht einfach. Geflüchtet unter ein Brandenburger Flachdach komme ich am Neujahrstag zurück und mache meine jährliche Runde um den Block. Aber ich weiß immer noch nicht, ob das hier noch lebt, oder ob ich in einer untoten Stadt gelandet bin. Freunde waren im vergangenen Jahr in den USA und erzählten von Stadtzentren, in denen alle Läden geschlossen waren und sich auf den Straßen nur noch Menschen bewegten, die wie Zombies aussahen. Ich sach mal: Den Flug hätten sie sich sparen können. Hätten sie sich mal in die BVG gesetzt und wären mich besuchen gekommen. Allerdings: Weit wären sie damit nicht gekommen. Denn seit Sylvester fährt die Straßenbahn hier nicht mehr. Ausgestorben und leer sind die Haltestellen, verstummt die ratternden Schienen, ein großer Krater mitten auf der Strecke. Keine Kugelbombe wars, sondern ein 100 Jahre altes gusseisernes Wasserrohr ist gleich nach dem Feuerwerk geplatzt. Zu viel Vibration. Hätte längst ausgetauscht werden sollen, aber das hätte ja bedeutet, dass man die Straßenbahn hätte stilllegen müssen. Jetzt kann man hier Geisterbahn fahren, oder schnallt sich besser gleich die Rollschuhe unter.

Menschen, die unter einem Haufen Decken schlafen, und bei denen man nicht weiß, ob darunter noch ein lebender Körper liegt, gibt es hier auch in vielen Hauseingängen. So viele, dass ich sie schon nicht mehr wahrnehme. Einem, der immer würdevoll aufrecht vor einem neu renovierten leeren Ladengeschäft sitzt und aussieht wie eine Mischung zwischen Weihnachtsmann und indischem Guru hab ich gestern ein paar Münzen in die Filzpantoffel gesteckt, die er vor seinem Lager aufgestellt hat.

Bleiben die Zombie-Läden. Es werden immer mehr Läden in den Haupt- und Nebenstraßen, bei denen ich mich frage: Lebt da noch was? Machen die noch mal auf? Wird das noch was oder kommt da noch was Neues? Laden zu, Auslage leer und nicht immer ein Schild, das einem sagt was hier mal war, ob hier was kommt, oder ob einfach nur bis zum Ende der Weihnachtsferien zu ist. Der Uhrmacher, der Optiker und der Musikalienladen sind schon lange weg. Hier sind jetzt ein Shisha-Shop, eine Obdachlosenberatung oder auch einfach das Nichts eingezogen.

Und dann gibt es noch die Geschäfte, von denen man denkt, die sind doch bestimmt tot, da ist doch alles vorbei. Und dann brennt da doch noch ein kleines Licht, dann geht es doch irgendwie weiter. Die Fischerpinte am Plötzensee, die noch so lange leben darf, bis der Besitzer stirbt, der Angelladen, der gleich neben den leeren Schaufenstern seines alten Geschäfts ein neues Geschäft aufgemacht hat, der Buchladen, den die beiden Besitzer schon mehr als 40 Jahre führen und so lange offen halten wollen, bis sie umfallen. Und der windschiefe Kiosk von Herrn Nguyen, der die Nachbarschaft mit Schnaps und guten Worten versorgt. Und natürlich der Karstadt. Dieser riesige leere Betonklotz, der mit seinen zerrissenen und im Wind wehenden grauen Sicherungsnetzen an der Fassade schon von alleine aussieht wie eine Kulisse aus einem Endzeitfilm. Am Anfang des Jahres soll hier ein LIDL einziehen. Wenigstens ins Erdgeschoss. Na, ist doch was.

Ja und noch schöner ist es im neuen Jahr was wirklich Neues zu entdecken. Gleich neben dem nassen Loch in der Straßenbahntrasse sehe ich in der Nebenstraße diesen strahlenden Engel. Ein Geschäft mit Glamour und Schönheit in dieser grauen Ecke. Ja, ja: Es geht immer weiter. Und die Überraschungen hören nicht auf. Auch auf diesem Blog. Ein schönes neues Jahr wünsche ich euch.

Zweite Lesung

Samstagmittag. Wir sitzen beim Döner. Meine zwei Jungs, ihr Freund und ich. Sie haben sich in der Bibliothek einen Harry-Potter Film und zwei Kilo Donald Duck-Hefte ausgeliehen und sie haben sich bei mir einen Filmnachmittag herausverhandelt. Die Stimmung ist aufgekratzt. Aber erstmal gibt es was Ordentliches zu essen und zu lesen. „Papa, du hast doch die Geschichte mit dem ICE geschrieben. Kannst du die mal vorlesen?“, heißt es, kaum dass wir am Tisch sitzen. Die Jungs sind der festen Überzeugung, dass ich meinen Blog nur schreibe, um meine Erlebnisse mit ihnen und ihrem Bruder für die Nachwelt zu erhalten, was nicht ganz falsch ist. Manchmal lese ich ihnen nach einem gemeinsamen Abenteuer vor, was ich getippt habe. „Ich würd dich instant liken“, sagte der eine mal abends, als ich wieder eines unserer alltäglichen Dramen in Worte gegossen hatte. Und ich denke, das ist ein Lob. Aber das hier ist ist jetzt was anderes. Das ist in der Öffentlichkeit. Der Freund ist dabei, die zwei Döner-Männer hinter der Theke und ein Pärchen in unserem Rücken, das sich nebenan einen Lamachun geholt hat, weil das billiger ist als ein Döner. Wenn ich jetzt die Geschiche vorlese ist das eine öffentliche Lesung! Vor Publikum! Natürlich drängt es jeden Autor dazu, seine Werke der Welt anzuvertrauen, und bisher habe ich erst einmal die Gelegenheit dazu gehabt, bei einem mäßig besuchten Leseabend an meiner Arbeitsstelle. Es war schnell vorbei, gab eine Flasche Sekt zur Belohnung und zwei Monate später die Überraschung bei einer Arbeitssitzung mit einer anderen Abteilung, als eine Kollegin sagte: „Sie sind doch der, der vorgelesen hat. Ich hab sie an ihrer Stimme erkannt.“ Da schmiedet man stundenlang ein Schmuckstück aus Worten, und sowas bleibt also in in Erinnerung. Mein heutiges Publikum kennt meine Stimme zur genüge in allen Lagen und Lautstärken. Aber sie wollen mit meiner Hilfe ihren Freund beeindrucken. „Fang doch jetzt endlich an mit der Geschichte.“, drängt mich mein Sohn, während ich noch an meinem Adana Dürum kaue – und sie ihren Döner in Lichtgeschwindigkeit abgenagt haben. Auf dem Tisch und darunter sieht es aus wie nach einem Wirbelsturm. Aber ein wahrer Künstler muss der richtigen Stimmung sein, um sein bestes zu geben. Also bestelle ich mir noch einen Tee und ziehe langsam das Handy aus der Tasche. „Die Stimmung war gut…“ beginne ich mit der epischen Einleitung. Der Freund kommt neugierig auf meine Seite, aber die Jungs drängeln: „Muss das sein? Lass das doch weg. Kommt das auch mit der U-Bahn?“. Kunstbanausen. Hatten sie sich nicht neulich beschwert, dass ich sie in ihrer Jugend betrogen hätte, weil ich bei den ewigen Wickie der Wikinger-Geschichten beim Vorlesen ganze Absätze unterschlagen hätte? Also müssen sie sich jetzt gedulden. Genüsslich komme ich zum ersten Cliffhanger: „Was ich nicht wusste: Sie hatte sich neue Verbündete gesucht…“ Der Döner-Wirt kommt mit mürrischem Gesicht und versucht die Ordnung auf unserem Tisch wieder herzustellen. Das Pärchen hinter uns kaut unbeeindruckt an seinen Teigrollen. Am Glückspielautomaten im Hinterzimmer ist jetzt ein Biertrinker zu Gange. Der Laden füllt sich. Wahre Kunst findet immer ihr Publikum. Aber nicht immer ein dankbares. Ständig spoilern meine Jungs vor lauter Aufregung kichernd die Pointen. „Das stimmt doch gar nicht.“ Wir hätten noch mehr Cola aus dem Bisto holen können“. „Sind wir wirklich schwarz gefahren in der U-Bahn?“ Dem Freund wird langweilig und mein Schlussatz geht unter, weil die drei schon wieder bei einem anderen Thema sind. Wahrscheinlich ob sie zum Film lieber Popcorn oder Chips bei Edeka kaufen sollen. Ich drücke ihnen einen Zehner in die Hand und scheuche sie zum Supermarkt. Der Künstler bleibt sitzen und genießt den kurzen Ruhm. Nach zehn Jahren Bloggerei endlich der ersehnte Erfolg. Eine treue, wenn auch bestechliche Anhängerschaft und einen Platz in der Ewigkeit. Hatte mein Älterer nicht eben an der Ampel gesagt: „Irgendwann schreib ich ein Buch über dich“?

Katerstimmung

Es hätte so ein schöner Abend sein können: Die Nachbarschaft war zahlreich gekommen, um einen „bal populaire“ zu feiern. Ein Fest, bei dem sich deutsche und französische Stimmen jeden Alters mischten, und bei dem trotz des kühlen Herbstabends mit feurigen Merguez-Wüsten vom Grill, Live-Musik und zwei Bars eine ausgelassene sommerlich-südliche Stimmung aufkam. Mehr als 450 Spenderinnen und Spender aus der Nachbarschaft und ganz Berlin hatten per Crowdfunding 18.000 Euro zusammengetragen, um den Wiederaufbau des hölzerenen Eiffelturms vor dem Centre Français de Berlin zu ermöglichen. Und als Dank für die Unterstützung durften sich alle Spenderinnen und Spender an Bar und Grill einmal gratis bedienen lassen. Mit Einbruch der Dämmerung wurde das neu errichtete Wahrzeichen des Wedding in den französischen Nationalfarben angestrahlt. Die Glühbirnen, mit denen er bis zum Richtkranz an seiner Spitze dicht besetzt war, gaben dem 13 Meter hohen Holzturm ein festliches Aussehen. Fast hätte man meinen können, einen verfrühten Weihnachtsbaum strahlen zu sehen. Es war ja auch eine frohe Botschaft, die es zu feiern galt. Der alte Eiffelturm war morsch geworden, aber die Anwohner wollten auf den Turm als Wahrzeichen und die Wegmarke nicht verzichten. Was der Eiffelturm als Symbol für den Wedding und die Weddinger bedeutet wurde deutlich, als eine Rednerin mit einer Geschichte stürmischen Applaus erntete: „Wenn ich einem Taxifahrer sage: Bringen sie mich ins Centre Français in der Müllerstraße, dann fragt er mich, wo das sein soll. Wenn ich dann sage: Das ist da, wo der Eiffelturm ist, weiß jeder gleich, wo ich hin will.“
Vier Jahre Arbeit stecken in dem Projekt, das erst richtig ins Rollen kam, als der Geschäftsführer des Centre einen Bildungsverein gefunden hatte, die sich das Projekt zutraute und gleichzeitig in der Lage war, mehr als 75 deutsche und französische Jugendliche an dem Wiederaufbau zu beteiligen. Ein echter Schreinermeister trat auf das Podium, sprach von imprägniertem Eschenholz und davon, wie stolz er sei, und wie stolz die Schülerinnen und Schüler, wenn sie sich nach zwei Wochen in der Werkstatt trauten, selbstständig mit Fräse und Bohrer umzugehen.

Und dann platzte Olaf in die Stimmung. Drei Jahre hatte der Kanzler praktisch nichts gesagt, manchmal von der Zeitenwende geredet, aber sonst den Mund gehalten. Aber jetzt wurde er redselig. Wie ein Vater, der mit seinem ungezogenen Sohn lange Geduld gehabt hat. Meine Stimmung war im Eimer. Zum Glück hatte ich auch für das Projekt gespendet und deshalb einen Gutschein für die Bar, die auf der Empore im Foyer des 60er-Jahre Kinos im Hinterhof des Centre eingerichtet war. Die französischen Barfrauen sahen mein Gesicht und wussten, wie mir war. Denn mit plötzlichen Regierungsumbildungen hat man in Frankreich Erfahrung. Sie empfahlen mir ein Picon-Biere, eine Mischung aus einem bitteren Orangenlikör mit einem kalten Bier. Es half. Zumindest um beschwingt nach Hause zu gehen und einen fröhlichen Beitrag über das Fest für unser Kiezmagazin zu schreiben. Dann schaute ich bis zwei Uhr nachts abwechselnd in die Gesichter von Olaf, Donald, Kamela und Christian. Heute Morgen hatte ich Kopfschmerzen.

Inspiration

Manchmal verzweifle ich ja an der heutigen Jugend. Nachdem mein Sohn mich gestern mit einem herzlichen „Hau ab!“ aus seinem Zimmer geschmissen hat, war mir klar, dass mein eigentlicher Plan, ihn an dem Tag mit mir in mein Büro zu nehmen und ihm zu zeigen, womit sein Vater Geld und Anerkennung verdient, erst einmal gescheitert war. Es war ihm auch nicht klar zu machen, dass man nicht gleichzeitig arbeiten und ins Kino gehen kann, was ich als Belohnung für den Ausflug in die Arbeitswelt versprochen hatte. Tagesstrukturierung ist noch nicht ganz seine Stärke. Meine auch nicht. Denn was fange ich an mit dem plötzlich freien Wochenende? Herrlicher Sonnenschein und warme Temperaturen. Goldener Oktober. Ich sollte raus gehen, den Sonnenschein zu fangen, das Licht in leuchtenden Herbstblättern zu fotografieren. Statt dessen liege ich auf dem Sofa und lese in der Zeitung über die Schlechtigkeit der Welt. Das macht Kopfschmerzen. Mit einem Versprechen auf einen Kaffee am Kanalufer locke ich mich selbst vor die Tür und auf mein Moped. Vorsichtshalber stecke ich mir meine Ohrstöpsel unter den Helm, damit mir von dem Geknatter nicht der Kopf wegfliegt.

Der Kaffee hilft, aber wie weiter? Ich fahre bei einem Freund vorbei, der natürlich nicht da ist, oder das Klingeln nicht hört. Also zurück über die rappelige Kopfsteinpflasterstraße. Verrammelte Läden und das vor mir her schleichende Mini-Auto eines türkischen Pflegedienstes verderben mir die Laune. Beim Abbiegen sehe ich aus den Augenwinkeln eine Gruppe junger Leute mit Bierflaschen auf dem Gehweg neben dem mit Graffiti besprühten Eckladen, in dem noch bis vor einem Jahr solide Trödelsachen verkauft wurden. „Ach, mal wieder ne Vernissage.“, denke ich. Wo viele Läden leerstehen kommt in Berlin auf kurz oder lang die Kunst vorbei. Irgendwas mit Farbe, irgendwas, das aus altem Zeug zusammengebaut wurde, irgendwas geht immer. Nicht wirklich interessiert biege ich auf eine Parkbucht neben einem abgemeldeten, vermoosten Wrack eines alten Opels. Vielleicht wird’s ja ein Bericht für unser Lokalblog. Schon lange nichts mehr geschrieben.

Es riecht nach Sprühdosenlack und Hasch. Ein Einkaufswagen ist randvoll mit Bierflaschen. Na wenigstens kein Sekt und Häppchen. Das Grüppchen sitzt gut gelaunt in der Herbstsonne. Einige sprühen die abgeklebte Wand an, einer fotografiert das und drinnen steht noch mehr Artefaktisches. Der Deckel eines Kaugummiautomaten hängt an der Wand. Hatte ich nicht neulich einen Unternehmer befragt, der die Dinger neu installiert? Der lamentierte, dass ihm die Kästen im Wedding immer von der Wand geklaut werden. Diebe? Nein, war alles für die Kunst.

Aber sonst ist es ein biederes Happening. Andere waschen am Samstagnachmittag ihre Autos oder gehen zum Fußball. Ein Mann mit Bart, Dutt und schon leicht lallender Sprache erklärt mir die Vorsicht. Man sei erst seit kurzem Pächter, man wisse noch nicht genau, was das hier werde. Der Laden gehöre zur Morena Bar nebenan, einem Kiez-Juwel, das der heutige Besitzer vor 40 Jahren angeblich beim Pokern gewonnen und seitdem nicht mehr verlassen hat, und die Bar hat Krach mit den Anwohnern. Früher sei der jetzige Kunstort mal ein Puff gewesen, dann eine Party-Location. Ich werde weitergereicht an jemand, der wie der Manager auftritt. Erstmal hätten sie nur einen Raum gesucht, um ihre Werke zu lagern, ist seine Version der Geschichte. Denn wenn die Bilder in der Wohnung trocknen, stinke alles nach Farbe. Jetzt schaue man mal, vielleicht werde ja mehr draus, vielleicht sogar ein Verein. Aber berichten solle ich erstmal nicht. „Wegen dem Ordnungsamt.“, sagt er kumpelhaft und streckt mir die Faust entgegen, damit ich meine Faust dagegen schlage. Wir sind jetzt Bros. Ich frag mich kurz, was ich davon halten würde, wenn meine Söhne in 10 Jahren mit einer solchen Gang abhängen würden. Ich glaub, ich fänds ok. Wenigstens dürfte ich dann wieder in ihr Zimmer.

Weddings wunderbarer Waschsalon

Es ist Sonntagmorgen um 12 Uhr in der Müllerstraße. Ich knattere mit meinem Moped ziellos durch die Straßen. Die Cafes und Imbissbuden gähnen leer vor sich hin und auch auf der Straße ist nichts los. Kaum Verkehr. Nur vor einem Laden stehen Menschen: An der runden Ecke zur Liverpooler Straße hängen grüne und silberne Luftballons über der Türe des Waschsalons, der lange Zeit geschlossen war. Und es sind jede Menge Kunden da, die drinnen ihre Wäsche in die Maschinen stopfen. Draußen vor dem Laden warten Männer, bis ihre Wäsche trocken ist. Die großen silbernen Trommeln drehen sich wieder.

Ich wollte immer mal in einen Waschsalon. Wer die 1980er Jahre erlebt hat, erinnert sich an die kultige Levi’s‑Jeanswerbung, in der ein gut gebauter junger Mann sich unter den staunenden Augen der weiblichen Kundschaft in einem Waschsalon aus seiner hautengen Hose schält, oder an den Film von Stephen Frears “Mein wunderbarer Waschsalon”, in dem eine Wäscherei für einen Migranten aus Pakistan und seine Freunde im kalten London der Thatcher-Zeit zum Hoffnungsort wird. Besungen wurden die Salons in der Zeit auch gerne. Im experimentellen Industrial-Stück “Berliner Waschsalon” von Frieder Butzmann oder im fröhlichen Rocktitel “Isch jon so unwahrscheinlich jehn mit dir in de Waschsalon” der Kölner Rock-Band BAP. Die Salons galten als cooler Treffpunkt von unangepassten Helden, die garantiert ihre Wäsche nicht mehr bei Mutti waschen ließen. Vor allem nachts glänzte ihr Licht hell und machte sie zu Inseln des großstädtischen Lebens und zum sicheren Ort für ungewöhnliche Begegnungen von schrägen Vögeln, einsamen Herzen und verlorenen Seelen. Mein Waschsalon war im Keller unseres Schwesternwohnheims. Hier traf man vor den robusten Miele-Waschmaschinen nur Leute, die man auch bei der Arbeit traf. Aufregende Begegnungen hatte ich mir anders vorgestellt. Später sollten die Salons gemütliche Kiez-Wohnzimmern sein, wie Freddy Leck in Moabit. Aber da hatte ich schon längst eine eigene Waschmaschine, die wir ununterbrochen mit Baumwollwindeln beschäftigten, bis wir es satt hatten, und auf billige Papierwindeln umstiegen, die uns ein Freund vom Laster auf dem Polenmarkt besorgte. In unserer Straße gab es einen von der EU geförderten Waschsalon, der als sozialer Begegnungsort aufgebaut werden sollte. Aber tagsüber wurde man von Nachbarskindern angebettelt, die von ihren Eltern nichts zu Essen mit in die Schule bekommen hatten (und die man 50 Cent für eine Packung trockener asiatischer Tütennudeln glücklich machen konnte) und nachts wurden die unbeaufsichtigten Maschinen immer wieder durch Vandalismus zerstört. Nach und nach gingen in dem Salon die Lichter aus.

Nun also ein Neustart. Vor dem Salon treffe ich Andy, der eine Dreiviertelstunde warten muss, bis seine Maschine fertig ist. Er ist Ende 20, sportlich, Basecap und Jeans, arbeitet in der Gastronomie. Er ist mit seinem kleinen Sohn da. Seit zwei Jahren wohnt er bei einem guten Freund im Afrikanischen Viertel und sucht eine Wohnung hier, in der für ihn und seinen Sohn Platz ist. Bislang Fehlanzeige. Er ist froh, dass der Waschsalon wieder aufgemacht hat. Und es sei besser als vorher. “Der alte Laden hatte zwar gute Maschinen aus Schweden, aber Probleme mit dem Wasser. Da war manchmal Dreck drin, der dann auch in die Wäsche gekommen ist.” Es sind erstaunlich viele Männer hier. Die einzige Frau im Laden legt die Wäsche für ihren alten Vater zusammen. Der Vater erzählt mir, dass er seit 20 Jahren in einer kleinen 1,5 Zimmerwohnung wohnt, eine Dienstwohnung der Bundeswehr in der Cité Jofre. Da passe keine Waschmaschine rein. Aber er komme gerne hierher, sagt der ehemalige Soldat, auch wegen der Gesellschaft. Aber nicht nur Menschen, die keine eigene oder nur eine kleine Wohnung haben, gehören zur Kundschaft, die für 5 Euro 50 bis zu 6,5 Kilo Wäsche sauber mit nach Haue nimmt. Ein Nachbar, nennen wir ihn Wolfgang, ist heute mit seinem Bettzeug da. “Wenn sie alles auf einmal in eine Waschmaschine stecken wollen, dann kommen sie besser hierher. Und es geht auch schneller, denn zu Hause habe ich keinen Trockner.”

Angefixt von dem zufällig Gefundenen, mache ich noch am Abend eine Tour durch die Handvoll anderen Salons im Wedding. Was ich finde ist ernüchternd: Ein paar verlorene junge Männer und ängstliche ukrainische Frauen in kleinen Ladengeschäften, die vollgestopft sind mit einer notdürftig zusammengewürfelten Ansammlung von grauen Kisten mit verwirrenden Bedienungsvorschriften und vielen Verbotsschildern.

Immerhin hat die Pop-Kultur den Waschsalon wiederentdeckt. Schon von zehn Jahren nutzte Gott persönlich in der belgischen Komödie “Das brandneue Testament” einen Waschsalon als den geheimen Ort, an dem er vom Himmel auf die Erde kommt. Und im letztjährigen Oscar-Preisträger-Film “Everything everywhere at once” ist ein Waschsalon die Einstiegspforte für eine Parallelwelt, in der ein Kampf von Gut gegen Böse ausgefochten wird. Ein neues Abenteuer lockt. Ich geb den Salons also eine letzte Chance. Ich lass Waschmaschine mal eine Pause machen und geht in den Salon um die Ecke. Die Bettwäsche meiner Jungs braucht dringend eine Grundsanierung, auch weil einer gegen Staub allergisch ist. Und ich will wieder mal was erleben.

Der Zaun

Eigentlich haben wir es schön. Wer hat schon in Berlin einen so großen Garten, wie ihn unser Häuserblock umschließt? Nicht so einen dämmerigen Lichtschacht wo sich Mülltonnen und Fahrräder den Platz streitig machen und ein paar mickrige Kletterpflanzen auf der Suche nach Licht nicht über den ersten Stock hochkommen. Nein, ein halbes Fußballfeld, Wiese, riesige alte Bäume, sogar einen Sandkasten für die Kinder. Doch dann wurde der halbe Block verkauft, an eine Immobiliengesellschaft, die das Brandenburger Tor im Briefkopf trägt und auf ihre hundertjährige Tradition verweist. Und dann kam der Zaun. Grün, stabil und mannshoch teilte er den Garten in der Mitte. Aber immerhin gab es noch eine Tür. Als ich einzog, war die Tür noch auf. Aber die Welten hatten sich schon getrennt. Bei uns nur deutsche Nachnamen auf dem Klingelschild auf der anderen Seite, Namen aus Tausend und einer Nacht. Auf der einen Seite sah man Frauen mit Kopftuch Wäsche aufhängen und halbwüchsige Jungs wild Fußball spielen oder apathisch abhängen. Auf unserer Seite: Leere. Ab und zu mal ein paar Nachbarn, die ihren Hund ausführten und die Gärtnerin aus dem Erdgeschoss, die sich in dem Erdstreifen unter ihrem Balkon ein üppiges Blumenparadies geschaffen hatte. Eimal flog ein Fußball über den Zaun. Dann waren sie da. Drei freche Dreikäsehoch mit lockigen schwarzen Haaren, vielleicht zehn Jahre alt, die von mir und meinen Jungs den Ball wieder haben wollten. Vielleicht, dachte ich, wären es gute Spielkameraden für meine Jungs, die damals nur halb so alt waren. Deswegen fragte ich sie nach ihrem Namen. Ich verstand sie nicht, deswegen ließ ich sie ihre Namen auf einen Zettel schreiben. Krakelige, ungelenke Buchstaben. Ein Name fing mit einem X an. Schöner Name, sagte ich. Sie prahlen mit ihren Fußballtricks. Ich ließ es auf ein Spiel ankommen. Nach fünf Minuten waren meine Jungs überrannt, nölten und wollten nicht mehr mitspielen. Als sich die drei wieder hinter ihren Zaun trollten, sagte einer: „Ich würd mir wünschen, dass mein Vater auch mal mit mit Fussball spielt.“

Ein paar Monate später war die Tür zugeschweißt. Es sei wegen dem Müll, erzählte mir die Nachbarin, die alles weiß. Die Hausverwaltungen hätten sich in die Haare gekriegt. Angeblich würde unsere Seite ihren Sperrmüll heimlich auf die andere Seite bringen, dort wo sich immer wieder ganze Zimmergarnituren neben den Mülleimern ablagerten. Blöd für uns. Denn auf der anderen Seite ist das Tor, durch das man von außen in den Garten kommt. Jetzt können die Gärtner nicht mehr mit dem Rasentraktor rein, sondern müssen einen kleinen Handrasemäher durchs Treppenhaus tragen, und statt großen Containern stehen seither kleine Mülleimer bei uns, die mehr kosten. Am Sperrmüll auf der anderen Seite hat sich nichts geändert. Vielleicht werfen ihn die unseren jetzt nachts einfach über den Zaun.

X habe ich noch ein paar mal wieder gesehen. Jedesmal leuchteten seine Augen. Stolz präsentierte er mir sein neues Fahrrad, so ein Angeberding, mit viel Chrom und vielen Speichen. Schön, sagte ich. Beim letzten Mal hat er mich nicht mehr angeschaut. Er war mit ein paar Kumpels auf der Straße. Er ist jetzt 14 oder 15. Vielleicht war es ihm peinlich, einen so alten Mann zu kennen.

Berliner Botanik

Ist eine Ärztin in meiner Leserschaft, oder wenigstens ein Botaniker? Bitte melden sie sich schnell. Es geht um Leben und Tod. Kalter Schweiß steht mir auf der Stirn und im Bauch ist mir blümerant.

Frau Doktor, nach einer harten Arbeitswoche ging ich Waldbaden. Soll man jetzt ja so machen. Ich ging also nur im Park so für mich hin, nach schmackhaften Früchten stand mir der Sinn. Ich kam an einem Baum, nein eher einem Strauch vorbei, der mich mit roten Beeren lockte. Sie müssen wissen, dass ich bei den Pfadfindern war und gelernt habe, im Wald Essbares zu finden. Bucheckern, Brombeeren, Blaubeeren, kaum gesehen wandert es in meinen Mund. Sogar Sauerampfer weiß ich im Sommer zu genießen. Meine Kinder denken, ich bin ein Pferd. Aber als Pfadfinder hab ich natürlich gelernt: Iss nie etwas, was du nicht kennst. Von Pilzen lasse ich die Finger. Von Vogelbeeren auch. Aber diese roten Dinger, sehen die nicht aus wie Kirschen? Oder sehen Kirschen nicht irgendwie anders aus? So mit Zacken an den Blättern?

Und ich weiß nicht wie’s passiert ist, schon hab ich so ein Ding im Mund. Nicht schlecht, ein bisschen sauer, Kern in der Mitte. Doch eine Kirsche? Aber ist die Kirschenzeit nicht schon vorbei? Wer weiß das heutzutage noch , wo es alles zu jeder Zeit im Supermarkt gibt? Das war doch jetzt nicht schlimm, oder? Ich meine, das ist doch ein öffentlicher Park, da darf doch gar nichts Giftiges wachsen. Da passt doch einer drauf auf, schon wegen der Kinder, so von Amts wegen? So richtig glaube ich das aber nicht mehr. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass sich die Berliner Grünflächenämter in die ewigen Ferien verabschiedet haben, wenn ich so in die Botanik schaue und sehe wie alles zuwächst.

Jetzt weiß ich nicht was ich tun soll. Klatschnass bin ich, was nicht daran liegen kann dass es nach dem letzten Schauer im heißen Park dampft wie im Urwald und dass ich eine Jacke anhabe, weils ja eben noch geregnet hat. Um es kann auch nicht am Schwedenbecher liegen, den ich im Eiscafe mit extra Eierlikör bestellt habe. Ach sie wissen nicht was ein Schwedenbecher ist? Ist auch egal. Irgendwas stimmt nicht mit mir. Bitte melden Sie sich schnell….

Rotzlöffel

Wieder so ein Feierabend. Sonne scheint, Luft riecht gut der Himmel hängt hoch. Endlich! Aber keiner da für ein bisschen dummes Gerede in einem Biergarten, oder einem Café. Keine Kraft, jemand anzurufen, warum immer ich? Nach Hause will ich nicht. Nach einem Wochenende mit meinen lauten Jungs ist die Wohnung immer so leer und leise. Schnecken haben sie nochmal gesammelt, nachdem uns der Regen im Park überrascht hat. Sie haben ihnen noch mal Nester aus Blättern und Stöckchen gebaut. Aber dann haben sie sich zerstritten und die Tiere draußen im Hof ihrem Schicksal überlassen.

Also schlinger ich ein bisschen durch die Stadt. Kenn ich. Alles was ich sehe, hab ich schon mal gesehn. Mal was Neues ausprobieren. SuperCoop? Da will ich nicht hin, muss aber. Muss man ja unterstützen, wenn sich 500 Leute zusammentun und einen Bio-Supermarkt gründen. Muss man? Die Idee käme aus New York, schreiben die jungen Rotzlöffel. Was wissen die denn? Hätten nicht nach Amerika fliegen müssen, die Klimaretter, hätten mich mal fragen sollen. „Wurzelwerk“ hieß der selbstverwaltete Bio-Laden im Friedrichshain, in dem ich schon in den 90ern im Vorstand war. Danach LPG und dann „Natürlich Bio“. Bis der letztes Jahr pleite ging. War nicht schade drum. Die überreifen Tomaten und welken Salate hab ich am Ende nur noch gekauft, weil ich die Besitzerin nach 10 Jahren nicht im Stich lassen wollte. Will ich mir jetzt wirklich wieder die Abende um die Ohren hauen wegen der Frage, ob man im Winter Paprika aus Ägypten ins Regal nehmen soll? Und dann sehen, dass deine Leute sie dann doch einfach bei Edeka kaufen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Die Coop-Regale in der alten Fabrikhalle haben den Charme eines Lebensmittellagers vom Roten Kreuz. Nur keine Begierden wecken. Freundlich erklärt mir die junge Frau mit den kunstvoll vernachlässigten Haaren die Konditionen für den Kennenlernabend und den obligatorischen Arbeitseinsatz. Nur nicht sagen, dass sie mir gefällt. Nur keine Begierden wecken. Keine Lust hier zu stöbern, keine Lust, was auszuprobieren. Lieber wieder wie gestern unbekannte Früchte und verlockend glänzende Berge gerösteter Nüsse beim Baharat-Markt kosten als krümmliges Knabbergebäck zum selbst Abfüllen. Raus hier. Gehe heute lieber zu Ramona ins Café Kibo. Ramona war mal blond, heute hat sie eine schwarze, stachlige Punk-Frisur. „Du wirst immer schöner“, fange ich an. „Hab ich gemacht, weil ich Frust hatte.“, winkt sie ab. Ihre Tochter, die mit meinen Jungs in der Kita war, hab ich schon lange nicht mehr gesehen. Den Vater auch nicht. „Wie willst du deinen Kaffee?“ Ein Satz, und ich fühle mich willkommen. Die Bistro-Tische sind klapprig, die Farbe ist abgeplatzt, nebenan hat einer in der Shisha-Bar das große Wort. „Sagt der: Du hast Bankkaufmann gelernt, für einen Dönerladen bist du total überqualifiziert..“ Dann gehts weiter mit Autos und Tricks bei den Versicherungen. Der Sound des Wedding. Nach einer Ewigkeit kommt der Kaffee. Der schlacksige Kerl, der ihn zu meinem Tisch balanciert ist neu hier und hat einen drolligen französischen Akzent. „Tut mir leid, hab dich total vergessen. Ramona sagt, der Kaffee geht aufs Haus.“

Das Wort zur Wurst

Mit meinem Sohn sitze ich in der S-Bahn. Ich hab ihn bei seiner Mutter abgeholt und wir fahren zu mir. Es hat gedauert, bis wir losgekommen sind. Erst kam keiner aus dem Bett, dann warf der Jüngste seinen Ball auf die Hecke des Nachbarn und wir mussten die Leiter holen, um ihn wieder zu finden, und dann mussten wir kurz vor dem Bahnhof umdrehen, weil ich bei dem ganzen Durcheinander mein Handy und er seine Fahrkarte vergessen hatte. Jetzt ist Sammstagmittag und wir sind fast da. Mir ist flau. Die Woche war grauenhaft, die Nacht kurz. Eigentlich gehen wir wenn die Jungs zu mir kommen immer zum Döner, damit sie mal was Ordentliches zu Essen bekommen, nach all dem gesunden Zeug bei ihrer Mutter. Aber einen Döner schaff ich heute nicht. Aber Currywurst geht immer. „Magst du ne Currywurst?“, frage ich den Zwölfjährigen. „Kenn ich nicht, Currywurst. Was is n das?“, antwortet das große Kind. Heiliger Vater! Gesternabend noch hat mir mein Sohn eine Urkunde präsentiert: Bester im Wissenswettbewerb Heureka, und jetzt das! Was lernen die denn in der Schule in Brandenburg? Dass sie Sonne um 12 Uhr im Süden steht musste ich ihm auch erklären (Er hatte schon die Kompass-App angetippt). Wenn die mal in die große Stadt kommen, sind sie völlig aufgeschmissen. „Currywurst ist das, was die Leute gegessen haben, bevor es Döner gab.“, definiere ich aus dem Stehgreif. „Willste mal probieren? Wir sind gleich in Gesundbrunnen, da gibt es die beste Currywurst vom Wedding.“ Zum Glück habe ich den kulinarisch experimentierfreudigeren meiner Söhne dabei und wir steigen unterwegs aus, irren durch den riesigen Umsteigebahnhof (heute geht nichts einfach) über den zugigen Bahnhofsvorplatz zur „Currybaude“. Doch was ist das? Die Bude hat doch immer auf, Tag und Nacht, Sonn- wie Feiertags. Aber nicht heute. An herunter gelassenen Rollos klebt der Zettel „Urlaub bis 22. Februar“. Gibt`s sowas? Urlaub für eine Currybude? In Berlin? Die treue Kundschaft wollte es wohl auch nicht glauben, und hat einen Zettel daneben geklebt:

Aber hilft ja nix. Jetzt muss ich mein Versprechen halten. Döner wär einfacher, denn richtige Curry-Buden gibt es wirklich nicht mehr so viele. Man kann natürlich auch eine Currywurst in einer Döner-Bude bekommen. Aber davon rate ich ab. Da bruzzeln die Würste nicht liebevoll auf der Platte, sondern werden ahnungslos in die Fritteuse geworfen und saugen sich mit Fett voll. Tödlich. Zum Glück hat vor einem Jahr in der Müllerstraße eine neue Bude aufgemacht. Die „Curry-Keule“ wird von den Söhnen des Kroaten betrieben, der sein jugoslawisches Restaurant ein paar hundert Meter stadtauswärts aufgegeben hat. Da ist jetzt ein Vietnamese drin. Und da wo die Curry-Keule jetzt ist, war vorher ein christlicher Buchladen. Es tut sich was im Viertel. Der Keulen-Wirt begrüßt uns herzlich in seiner kleinen warmen Stube, die gerade leer ist. „Zwei Mal Curry mit Darm und Pommes für hier.“, erwidere ich seinen Gruß. „Und ne Molle für den Großvater von dem Kleenen?“, macht der Mann sich bei mir unbeliebt. Seh ich so schlecht aus? Heute ist echt nicht mein Tag. Mein Sohn sitzt schon erwartungsfroh am Tisch und schaut hypnotisiert auf den Bildschirm, der unter der Kneipendecke hängt. Noch nicht mal den Schal hat er ausgezogen. Aus den Augenwinkeln seh ich, wie der Wurstmaxe zwei kalte Würstchen vom Bratblech nimmt und in die Fritteuse wirft. Eigentlich wäre das ein Grund zu gehen. Aber das war ja mal ein Raum, in dem das Wort Christi verkündet wurde. Und hat mir nicht einer meiner Jungs vor Weihnachten angewidert „dieses komische Buch“ geschenkt? Eine Schulbibel, die er von der Religionslehrerin geschenkt bekommen hat. Und habe ich nicht die ganzen Rauhnächte darin herumgestöbert? Und so spricht der HERR zu mir in meiner Not: „Wenn wir Bedenken haben, davon zu essen, sind wir vor Gott nicht weniger wert; und wenn wir davon essen, sind wir vor Gott nicht mehr wert.“ (1. Korinther 8, 7). Also sind wir geblieben. War gar nicht so schlecht, sagt mein Sohn. Und ich hab mein Bier dazu getrunken, mich danach erstmal eine Stunde aufs Bett gelegt und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen.