Fluch der Fotos

„Mach ihr doch ein Fotoalbum, so eins noch mit Ecken. Das kannst du doch so gut.“, säuselte die Mutter meiner großen Tochter, als ich sie fragte, was wir dem Kind denn zum 30. Geburtstag schenken könnten. Das war natürlich ein vergiftetes Lob. Denn sie hatte nie geschafft, die Fotos von unserer Großen in eine Form zu bringen. Und das schlechte Gewissen wurde an mich weitergereicht. Ja, ich mache gerne für Menschen, die ich mag kleine Alben mit Bild und Text. Und weil es bei meinen Eltern nur ein Album gab, das mit dem Hochzeitsfoto anfing und irgendwann abbrach, als wir zur Kommunion gegangen waren, habe ich mir, bevor ich zu Hause auszog, zu meiner Jugend ein eigenes Album gemacht. Aus dem Schuhkarton, in dem meine Eltern die restlichen Bilder sammelten, brachte ich sie heimlich zum Fotogeschäft. Dort wurden sie abfotografiert, ein neues Negativ erstellt und ein neuer Abzug. So ging das damals. Meine Eltern haben das nicht verstanden. Aber ich wollte meine eigene Geschichte sehen und mitnehmen. Und eigentlich sollten meine Kinder es besser haben. Fotografiert habe ich sie wie ein Wilder. Aber irgendwie war nie Zeit dafür, die Bilder zu sortieren, sich zu entscheiden, die besten zusammenzustellen. Wenn man selber Kinder hat, versteht man seine Eltern besser. Und deshalb steht da der große Umzugskarton im Keller: Bilder 1990-2010. Bisher hatte ich mich nicht daran getraut. Eigentlich wollte ich damit bis zur Rente warten – jetzt musste ich.

Es ist nicht einfach, einen Blick in seine eigene Vergangenheit und die seiner Kinder zu werfen. Immer, wenn ich es versuche, überfällt mich der Gedanke: Verdammt, was haben wir damals eigentlich gewollt? Und: Meine Güte, was haben wir alles veranstaltet? Was haben wir alles versucht? Und: Waren wir glücklich, in dem Moment, als wir auf den Auslöser drückten oder in die Kamera grinsten? In den bunten Papiertüten aus Fotogeschäften, Drogeriemärkten mit den vorne eingesteckten braunen Negativen und ein paar Briefen von Freunden, die mir Bilder zuschickten, in Fotolisten von Kindergärtnerinnen und Elternvertretern, in denen man Kreuze machen musste, um Abzüge von dem Ausflug in den Zoo oder der Klassenfahrt zu bekommen, stecken die offizielle Geschichte. Das was wir sein wollten, was wir zeigen wollten. Wie wir uns erinnern wollten. Von dem Rest gibt es keine Bilder. In den entscheidenden Momenten im Leben macht keiner ein Foto. Und Gedanken und Gefühle lassen sich nicht ablichten. Und natürlich sahen wir alle großartig aus, damals – und die Kinder waren wunderhübsch und süß. Tolle Freunde hatten wir und tolle Feste. Warum haben wir das damals nicht gemerkt? Es bleibt beim Durchblättern der Fototaschen immer ein schales Gefühl. Deswegen hatte ich die Kiste nur bei Umzügen angefasst.

Und dann kommt noch das Praktische. Bis 2005 war alles analog. Aber auch da gab es zwei Welten. Bild und Dia. Und weil ich mit meiner kleinen Minox immer nur Dias machte, gibt es davon auch noch eine extra Kiste. Und nach 2005 gibt es keine Kiste mehr. Dafür liegen drei alte Laptops in meinem Schrank und ein paar USB-Sticks und gebrannte Foto-CDs und eine komplette Festplatte. Was haben wir eigentlich die letzten 20 Jahre gemacht, außer uns gegenseitig zu fotografieren? Auf meinem Handy sind 2000 Bilder – und es ist erst drei Jahre alt. Und es gibt ja noch die Speicherkarte meiner Kamera. Und nein: Ich bin nicht in der Cloud und nicht bei Insta. Trotzdem: Einige Bilder fehlen. Denn irgendwann war mein Mädchen natürlich weg, in ihrer eigenen Welt, machte ihre eigenen Bilder. Manchmal hat sie mir ein paar aus dem Urlaub per Mail geschickt. Und einige Bilder, an die ich mich genau erinnerte, fanden sich nicht mehr in den gefledderten Tüten. Vielleicht an Freunde verschickt und dann doch nicht mehr nachbestellt? Oder gab es einen fotografischen Versorgungsausgleich als wir uns getrennt haben? Es ist alles so lange her.

Ich habe eine Woche gebraucht, bis ich das Album zusammen hatte. Nachmittage hatte ich an den Fotostationen in den Drogeriemärkten verbracht – so macht man das heute, wenn es schnell gehen soll – Nächte mit den ausgebreiteten Fotos auf dem Wohnzimmerfußboden. Es gab ein konspiratives Treffen in einer Pizzeria in Moabit mit der Mutter und unserem damaligen dänischen Au-pair-Mädchen, die zufällig in Berlin war, bei dem unbeschriftete Umschläge den Besitzer wechselten. Wie sollte das alles zusammen passen? Wie die Lücken verdecken. Sollte ich etwas dazu schreiben? Darf ich als Vater das Leben meiner Kinder kommentieren? Ein Tag vor dem Fest war das Werk vollendet und verpackt. Ich saß auf dem Sofa und versuchte aus drei alten Cannon-Kameras zwei funktionierende zu machen. Meine Zwillinge fahren auf Klassenfahrt. Und wir Eltern haben beschlossen, dass die Handys zu Hause bleiben. „Aber wie sollen unsere Kinder denn dann Erinnerungsfotos machen?“, fragte eine besorgte Mutter. „Kein Problem!“, meldete ich mich zu Wort. „Wir alle haben doch in den Schubladen alte Digitalkameras. Die können wir wieder flott machen und den Kindern mitgeben.“ Jetzt hatte ich den Salat. Bei einer fehlt das Ladekabel, bei der anderen die Speicherkarte. Das Handy klingelt und die Tochtermutter ist dran: „Ich hab noch ein Bild vom Abiball gefunden. Da sah sie so toll aus.“ Es folgte eine genervte Diskussion darüber, was die wichtigsten Stationen im Leben unserer Tochter waren und wer für das Story-Telling und Framing zuständig sei. Wir einigten uns darauf, dass das Abi- Bild nachträglich in das Album eingelegt, aber nicht eingeklebt werden könne, um das Gesamtkunstwerk nicht zu zerstören. So verhandeln zwei Juristen.

Das Geburtstagsfest war wunderschön. Bei Sonnenschein im Hasenheide-Park. Alle Freunde waren da, alles war sehr berlinerisch, ein wenig improvisiert und locker und cool und meine Tochter war glücklich und die Königin des Tages. Sie hatte eine moderne Polaroid-Kamera mitgebracht, damit ihre Gäste sich gegenseitig fotografieren konnten. Ich hatte natürlich ungefragt auch meine Kamera mit dem alten DDR-Objektiv dabei. Es sind unvergessliche Bilder geworden.

Diamant am Straßenrand

Ich repariere mein Moped auf dem Gehweg vor der Haustüre. Hatte einen blöden Unfall vor ein paar Tagen an der Ecke wo das Spielcasino ist. Der Mann im Kleinwagen vor mir sieht einen Kumpel in der Kneipe auf anderen Straßenseite, haut in die Bremsen und zieht links rüber. Ich knalle hinten drauf. „Ich hab doch geblinkt“, schreit der blasse, dünne Kerl, der aus dem Auto springt. „Du bist rübergezogen ohne zu blicken“, schrei ich zurück. „Hol doch die Polizei, die wird dir sagen, wer hier schuld ist.“ Ich fotografiere sein Nummernschild. Das übliche Gezeter. Plötzlich steht sein Freund aus der Kneipe neben ihm. Breitschultrig, dunkler Bart, hängende Arme. „Kann ich helfen?“, fragt er. Und er will mich wohl wirklich nach Hause fahren. Der Fahrer will dafür, dass ich das Foto lösche. Irgendwas ist hier faul, aber: zwei gegen einen. Ich sehe zu, dass ich das Moped wieder ans Laufen kriege und fahre weiter. Meine Söhne warten, dass ich sie vom Sport abhole.
Jetzt sitz ich hier mit dem Schaden. Ich habe den Scheinwerfer ausgebaut, kneife ein Auge zu und halte die Glühbirne prüfend gegen den wolkenlosen Himmel. Die ist hinüber. „Wie ein Diamant“, höre ich jemand hinter mir sagen. Ein junges arabisches Pärchen geht mit seinem Kinderwagen an mir vorbei. „So prüft man einen Diamanten“, ruft der junge Mann über die Schulter zu und lacht aufmunternd. Der Autoteileladen am Ende der Müllerstraße verkauft mit einen neuen Diamanten für 5,90 Euro.

Rolf ist wieder da!

War er schon da, als ich kam? Oder kam er, als ich schon da war? Wann ist er gegangen? Warum bin ich geblieben? Seine Wege waren die gleichen, die ich ging, sein Viertel war mein Viertel. Er kannte jede Ecke und ich folgte seinen Spuren. Immer wieder konnte ich etwas Neues von ihm entdecken: In der U-Bahn, an einem Verkehrsschild, auf einem Ampelmast. Rolf war da und doch weg, nah aber doch unfassbar. Spielte er ein Spiel mit mir, oder wollte er mich zum Wahnsinn treiben? Es war wie Hase und Igel. Kaum lief ich nachts durch die Straßen des Wedding, schon konnte ich am nächsten Tag dort frische Tags finden. Verfolgte er mich heimlich, oder war er mir immer einen Schritt voraus? Warum verwendete er meinen Namen? War es auch seiner, oder hatte er sich die vier Buchstaben als „Tag“ zugelegt,um mich zu verhöhnen? Ich dachte, ich würde es nie erfahren, denn irgendwann war Rolf weg. Es muss vor fünf Jahren gewesen sein, als ich seinen letzten Tag fand. Um die gleiche Zeit, als meine Kinder mit ihrer Mutter in den Berliner Speckgürtel zogen und ich mir eine neue Wohnung suchen musste. Keine Tags mehr, keine Überraschungen. Vielleicht hatte Rolf auch einfach das Spiel satt.

Es war ja von Anfang an eine blöde Idee. Wer heißt denn heute noch Rolf? Emil, Emma und Paul sind wieder en vouge. Aber Rolf? Schon der Pfarrer, der mich taufte, weigerte sich, diese Zumutung von einem Namen in das Kirchenbuch einzutragen. Dort steht „Rudolf“, die ursprüngliche Version, weil es bei den Katholiken keinen heiligen Rolf gibt. Eher im Gegenteil. Rolf Hochhuth zum Beispiel, der seinen „Stellvertreter“, das Drama in dem er die Nazi-Kollaboration des Papstes anprangert, im Jahr meiner Geburt als Manuskript vorlegte. Vielleicht durfte der Name deshalb nicht in ein katholisches Kirchenbuch. Hatte der heilige Stuhl Wind davon bekommen? Oder Rolf Mützenich, der streitbare SPD-Fraktionsvorsitzende, der weiter wacker Deeskalation zwischen Russland und der Ukraine fordert. Ja, ja, das sind ehrenhafte Männer, aber sonst findet man den Namen vor allem in den Todesanzeigen der Zeitungen. Rolf war immer zu einsilbig und immer zu kurz, um verstanden zu werden („War das jetzt Wolf oder Ralf?“) Und immer öfter ist Rolf auch tot.

Aber keine Bange. Wer so einen blöden Namen hat, der lässt sich nicht so leicht unterkriegen. Der hat gelernt, Tiefschläge einzustecken und sich zu wehren. Es gibt von Johnny Cash das wunderbare Lied „A Boy Named Sue“ Die Geschichte von einem Vater, der seinem Sohn einen Mädchennamen gibt und sich dann aus dem Staub macht. Irgendwann findet ihn der Sohn, verdrischt seinen Vater und der antwortet. „I gave you that name and I said goodbye. And I knew you‘d get tough or die.“ Und deshalb war es weniger eine Überraschung als eine Gewissheit, die Wirklichkeit wurde, als ich gestern am U-Bahnhof Seestraße aus dem Fenster schaue. Rolf ist wieder da!

Groß, selbstbewusst und unübersehbar. Sein Stil ist gereift. Auf das Wesentliche reduziert. Keine Farbspielereien, keine überheblichen Sprüche. Nur der pure Rolf. Rolf 65. Und wer im Wedding wohnt weiß, dass das kryptische Zahlenspiel kein Geburtsdatum oder eine Altersangabe ist, sondern ein klares Bekenntnis zur alten Heimat. 1 Berlin 65 ist die alte Postleitzahl des Wedding.

Rolf, wo immer du dich rumgetrieben hast. Ick freue mir, dass de wieder da bis. Willkommen zu Hause!

Ach, Frühling

Gestern noch hätte ich ein wehklagendes Weltuntergangsgedicht schreiben wollen. Mit ächzenden Baukränen, die stöhnen wie untergehende Tanker, dem Mantel einer Selbstmörderin, der nachts verlassen auf einer Bank am Kanalufer liegt und kalkweißen Lichtfingern, die den Himmel über Berlin nach neuem Unheil absuchen. „Oh Welt…,! Das volle Expressionistenprogramm.
Zum Glück scheint heut Morgen die Sonne. Ich hole mir einen Kaffee beim türkischen Bäcker um die Ecke und suche mir ein warmes Plätzchen. Vor den Ruinen des kroatischen Restaurants an der Ecke hat jemand für mich die Reste des Mobiliars auf das Trottoir gestellt. Menschen rennen vorbei, Paketautos kurven in Parklücken. Ich sitze auf einem klapprigen Lederstuhl und spüre die zaghafte Wärme. Am Schaufenster hängt noch das muntere Plakat für die Demo am Wochenende, das ich selber geklebt habe. War gar nicht schlecht. Der Bürgermeister war da und hat uns das Blaue vom Himmel herunter versprochen. Auch schon wieder vorbei. Der Wind bläht die Plane über meinem Motorrad. „Ruhig Brauner!“ raune ich ihm zu. „In ein paar Stunden sind wir auf der Autobahn.“ Ein Blick auf die Uhr. Mit wippenden Schritten federe Ich meinem Home Office entgegen. Das kommt von den neuen, wunderbar weichen Silikoneinlagen- in den Schuhen. Merkt keiner, aber lassen mich wieder laufen wie einen jungen Hüpfer. „I look pretty tall, but my heels are high.“ Das Jahr kann so weiter gehen.

Tauwetter?

Nordkorea II

 

Die nordkoreanische Botschaft in Berlin ist ein klotziger grauer Plattenbau, über dem eine  riesige filigrane Antenne schwebt. Sie erinnert mich an ein abgenagtes Fischgerippe und ich glaube nicht, dass es noch Wellen im Äther gibt, die sie erreichen. In allen Fenstern zur Straße hin sind die steifen, senfbraunen Kunstfaservorhänge zugezogen. Die Verkäuferin in der bulgarischen Apotheke gegenüber, die sich auf traditionelle chinesischen Medizin spezialisiert hat, weiß zu berichten, dass die Botschaftsangehörigen nur selten rauskommen, stets nur zu zweit Ausgang haben und kaum Deutsch sprechen.

Auch medienmäßig scheint die Botschaft von der Außenwelt und sogar von der Heimat abgeschnitten zu sein. Denn die Wandzeitung am Eingang, die sonst von den aktuellsten Besuchen des jeweiligen Kim, des geliebten Führers in mitten seiner lächelnden Untertanen berichtet,  von Genossinnen und Genossen, die sehnsüchtig auf seine Worte der  „Anleitung“ warten,  ist seit einem halben Jahr nicht mehr erneuert.

Peyonchang? Treffen zwischen den Regierungen von Süd- und Nordkorea? Tauwetter in der Atomfrage? Hier findet das alles nicht statt. Kim lächelt, Kim durchschneidet ein rotes Band und das Volk freut sich über die erfolgreichen Tests der Atomraketen. (Sang nicht auch der westdeutsche Barde Franz Josef Degenhart in den 70ern „Komm und erzähl von Havanna, der Schönen, geschützt von Raketen aus Stahl.“? Ja, so waren die Zeiten)

Ein bisschen erinnert das an die DDR-Führung kurz vor ihrem Ende, die einfach die Vorhänge zuzuog, als plötzlich der große Bruder etwas von Umbau und Transparenz flötete.  Bockig nuschelte sie etwas von: „Der Sozialismus in seinem Lauf…“

Die Nordkoreaner singen nicht, sie nuscheln nicht, sie geben sich in schweren Zeiten einem poetischen Traum hin:

Nordkorea

Ist das nicht schön? Die Morgenröte und der doppelte sozialistische Genitiv.

Ich glaube, der nordkoreanische Botschafter wird dieses Bild erst entfernen, wenn er es durch ein Bild mit der Skyline des Frankfurter Bankenviertels im Sonnenuntergang ersetzen kann. An der Unterzeile feilt er noch. Aber vielleicht heißt sie: „Der Sonnenuntergang über der protzigen Zeil kündigt die endgültige Niederlage des menschenverachtenden Finanzkapitalismus an.“

So oder so: Wir müssen uns warm anziehen in diesen Zeiten.

 

Berliner Poesie

Poeten

Julius Meinl ist eine österreichische Kaffeerösterei, die seit ein paar Jahren versucht, über die billige Berliner Bäckerkette Thürmann in der Hauptstadt Fuß zu fassen. Wie wichtig den KuK-Poeten der Kaffee war wird aus dem Zitat von Franz Kafka deutlich: „Kaffee dehydriert (entwässert) den Körper nicht. Ich wäre sonst schon Staub.“

Und was fällt dem Berliner ein zu dem inspirierenden Türkentrank? Ein Verbot.

Jet nich – jibts nich- das ist der neue Sound der Berliner Back-Poeten.

Dabei gibt es auch eine großzügigere Berliner Tradition. Über den Ausflugslokalen der Kaiserzeit hing groß das Schild: Hier können Familien Kaffee kochen.

Oder die Bäckereien von Aschinger, in denen es zum Essen so viele Schrippen gab wie man wollte –  und in denen sich deshalb die halbe Berliner Boheme durchfutterte.

Grosszügigkeit ist der Honig, mit dem man Poeten anzieht, nicht Wiener Kaffee.

Dit wär doch mal wieder wat, ihr Thürmänner.