Wie ein Pinselstrich im Gemälde der nächtlichen Stadt. Vertuscht verschwommen. Nur einen Augenblick sichtbar, und doch Teil des Gewebes. Wie ein blitzender Faden auf dem Lichtteppich der Straßen. Teil des Bildes und doch nichts Bleibendes. Unbemerkt und doch da. Auf einer geraden Bahn auf den nassglänzenden Straßen, die dafür gemacht sind ihn zu tragen und doch verloren im Gewirr. Zielstrebig aber doch an jeder Ecke neu entscheidend. Zwangsläufig aber doch frei.
Not to touch the sky, not to touch the sun. Nothing left to do but run run run…
In der riesigen Kulisse spielt er keine Rolle, aber ohne ihn wäre es ein anderes Stück. Das Theater ist da für ihn und alle andern. Es gibt keinen Dirigenten, aber jeder ist ein Ton in der Großstadtsymphonie. Jede Sekunde eine Uraufführung. Jeder ist ein Solist und der Star des Abends, solange er dabei ist.
Abends vor Denns Biomarkt in der Müllerstraße. Ich will mein Fahrrad vor dem Ladenschaufenster in der Seitenstraße abstellen. Zwei Jugendliche kommen auf mich zu: „Da dürfen Sie keine Fahrräder abstellen.“, sagt der Kleinere wichtigtuerisch im Straßenslang. Der Ältere weist mit dem Arm ins Dunkle, wo an einem Laternenmast mehrere Fahrräder stehen. „Da hinten müssen Sie hin!“, will er mich dirigieren. Die beiden können das schon ganz gut nachmachen, das typisch berlinerische Rumkommandieren. „So so“, sag ich. „Ich bleib aber mal hier stehen.“ Der Kleine gibt noch nicht auf. Er hebt sein riesiges Handy vor seinen Mund: „Dann ruf ich jetzt die Polizei.“, droht er und versucht, dabei so entschlossen zu klingen, wie ein 12-Jähriger klingen kann . Wo er das nur her hat? Lernen die Kinder das jetzt in der Schule, oder ist die Straße ihre Schule? Ich greife in meine Hosentasche und hole meinen Dienstausweis raus. Der ist grau und sieht sehr amtlich aus. In der Dunkelheit sollte es für einen Bluff reichen: „Ich bin von der Polizei.“, brumme ich und hebe den Ausweis nur ein bisschen hoch. „Au Scheiße!“ Der Kleine hüpft ein Stück zurück und verschwindet blitzschnell in der Dunkelheit. Er grinst dabei diebisch. Wir sind quitt.
Günther Brendel: Sozialistische Menschengemeinschaft, 1969 (ausgestellt im ehm. Sitz des Nationalrates der Nationalen Front der DDR, heute Bundesministerium für Arbeit und Soziales; Berlin)
Wir sind ein komisches Volk. Zum 35. Tag der Einheit morgen wird von der Stiftung Aufarbeitung eine Umfrage veröffentlicht, wonach das Trennende zwischen Ost- und Westdeutschland wächst statt zu verschwinden. Und das hat schon 2019 angefangen, also noch vor Corona. Ein Land mit unzufriedenen Bewohnern zu spalten, gehört seit dem Fall der Mauer zum Repertoire populistischer Politiker. Sei es im ehemaligen Jugoslawien, oder der ehemaligen Tschechoslowakei oder in der ehemaligen Sowjetunion. Komisch nur, dass das neue Wir-Gefühl im ehemals sozialistischen Osten heute am prominentesten von einem rechtsradikalen Geschichtslehrer aus Hessen verkörpert wird.
Ist da was schief gegangen, oder habe ich daran sogar aktiv mitgearbeitet? „Die endgültige Trennung Deutschlands, das ist unser Auftrag“, war seit dem Mauerfall die dem Zeichner Clodwig Poth zugeschriebene dadaistische Parole der Satirezeitschrift „Titanic“. Damit stellte sich das von mir damals bibelgleich verehrte Blatt als einziges gegen die gesamtdeutsche Besoffenheit der Medien. Doch hinter dem kindlichen Trotz verbarg sich vor allem eins: Die Trauer, dass es eine Alternative zur bräsigen Helmut Kohl-BRD bald nicht mehr geben würde. Nur so ist zu verstehen, dass ein paar Freunde und ich 1989 einen verzweifelten Versuch zur Rettung der DDR unternahmen. Waren wir nicht ausgebildete Krankenpfleger, und suchen nicht die Krankenhäuser im Osten verzweifelt Personal? Damals waren die Grenzen gerade aufgemacht worden. Wir also los, die kranken Menschen im Osten und den realen Sozialismus retten. Aber das einzig Reale am real existierenden Sozialismus war der Ruß. Den Ruß wischten wir jeden Tag einmal von den Fensterbrettern und nachts wurde die ganze Station durchgewischt. Der Ruß kam von Heizkraftwerk der Karl-Marx-Uni-Klinik Leipzig. Das war ein uralter ziegelroter Kasten mit einem zu kurzen Schornstein. Weil ich tagsüber brav wischte, durfte ich auch mal Nachts ran: Welliges PVC mit braunem Blümchenmuster putzen. Viel mehr Verantwortung wollen die Schwestern auf der chirurgischen Station mir seltsamen Subotnik aus dem Westen nicht übertragen. Oder doch? Ich durfte auch kaputte Vakuumpumpen in die Werkstatt bringen und die Besorgungen der Schwestern im HO-Laden der Klinik erledigen. So war das. Aber als sozialistischer Werktätiger gab es richtiges Geld. 600 Mark der DDR im Monat. Und als ich zurück in den Westen kam noch mal 600 Westmark. Es gab da so einen Fonds, für Medizinpersonal, das in den Osten gegangen war. Mein Bewilligungsbescheid hatte die laufende Nummer 001. Nach drei Monaten in Leipzig kam die Währungsunion und die D-Mark. Damit war die Hoffnung auf Eigenständigkeit des anderen deutschen Staates vorbei. Ich machte wieder rüber in den Westen und meine DDR-Oberinnen stellten mir ein einmaliges Besser-Wessi-Zeugnis aus.
Und heute? Bin ich ein Ossi geworden, jetzt, wo der Osten für mich vor der Haustüre liegt und die DDR in den Köpfen wieder aus Ruinen aufersteht? Ich muss sagen: ich bin gerne im Osten unterwegs. Es ist schön hier, seit der Grauschleier von den Fassaden und der Plaste-und Elaste-Geruch aus den Gebäuden verschwunden ist, auch wenn manche der blitzblank renovierten Orte etwas leblos wirken. Es gibt viel zu entdecken: Faltbootfahren auf den Mecklenburger Seen, Freunde besuchen in Leipzig und Chemnitz, Radtouren auf der Straße der Romanik in Sachsen-Anhalt, frisch rekonstruierte ostmoderne Architektur in Halle-Neustadt. Wer meinem Blog folgt, findet dort viele entspannte Reiseberichte und einige Bewunderung für die übriggebliebenen Errungenschaften des Sozialismus, zu denen auch mein Simson-Mokick gehört. Und Ausstellungen mit DDR-Kunst gibt es dieses Jahr allerorten zu sehen, nachdem die Werke vorher verschämt in den Archiven versteckt wurden. Auch für die Kinder gibt es viele schöne Ecken. Die Ostsee natürlich. Aber auch schon vorher. In Templin, der Heimat von Frau Merkel, waren wir dieses Jahr Ostern in einem riesigen ehemaligen FDGB-Plattenbau-Hotelturm mitten im Wald. Ein Leipziger Künstler hat ihn – nach der Wende – von oben bis unten bunt angemalt und rundherum gab es Ferienlageratmosphäre. Die Bedienung kam -wie früher- aus der Volksrepublik Vietnam. Sozialismus mit menschlichem Antlitz.
Nein, ich will die DDR nicht wiederhaben. Aber ich bin weiterhin froh, dass es hier 40 Jahre etwas anders gegeben hat als die westdeutsche Restauration und das Wirtschaftswunder, dass es Brüche gegeben hat. Es ist kumpelhaft und unkompliziert hier, solange man nicht mit Menschen, die man nicht kennt, über Politik redet. Aber um ganz ehrlich zu sein: Die Liebe zum Osten speist sich auch ein bisschen aus dem gleichen Umstand, der sie bei den Bürgern der DDR hatte entstehen lassen (und wieder hat): Ich kann nicht mehr in den Westen fahren. Nachdem ich in den vergangen Jahren zuverlässig im ICE von Berlin nach Köln mit meinen Jungs größere Ausfälle und eine Evakuierung erlebt habe, traue ich mich mit der Bahn nicht mehr über die ehemalige Zonengrenze. Alles was mit dem Regionalzug von Berlin aus erreichbar ist, gewinnt so deutlich an Attraktivität. Die Deutsche Bahn AG schirmt den Westen für mich fast so gut ab wie die Grenztruppen. Und niemand braucht mehr die Absicht, eine Mauer zu errichten.
Ich repariere mein Moped auf dem Gehweg vor der Haustüre. Hatte einen blöden Unfall vor ein paar Tagen an der Ecke wo das Spielcasino ist. Der Mann im Kleinwagen vor mir sieht einen Kumpel in der Kneipe auf anderen Straßenseite, haut in die Bremsen und zieht links rüber. Ich knalle hinten drauf. „Ich hab doch geblinkt“, schreit der blasse, dünne Kerl, der aus dem Auto springt. „Du bist rübergezogen ohne zu blicken“, schrei ich zurück. „Hol doch die Polizei, die wird dir sagen, wer hier schuld ist.“ Ich fotografiere sein Nummernschild. Das übliche Gezeter. Plötzlich steht sein Freund aus der Kneipe neben ihm. Breitschultrig, dunkler Bart, hängende Arme. „Kann ich helfen?“, fragt er. Und er will mich wohl wirklich nach Hause fahren. Der Fahrer will dafür, dass ich das Foto lösche. Irgendwas ist hier faul, aber: zwei gegen einen. Ich sehe zu, dass ich das Moped wieder ans Laufen kriege und fahre weiter. Meine Söhne warten, dass ich sie vom Sport abhole. Jetzt sitz ich hier mit dem Schaden. Ich habe den Scheinwerfer ausgebaut, kneife ein Auge zu und halte die Glühbirne prüfend gegen den wolkenlosen Himmel. Die ist hinüber. „Wie ein Diamant“, höre ich jemand hinter mir sagen. Ein junges arabisches Pärchen geht mit seinem Kinderwagen an mir vorbei. „So prüft man einen Diamanten“, ruft der junge Mann über die Schulter zu und lacht aufmunternd. Der Autoteileladen am Ende der Müllerstraße verkauft mit einen neuen Diamanten für 5,90 Euro.
V: Dann bin ich halb sechs bei dir und passe auf die Jungs auf.
M: Wie kommst du?
V: Mit der S 8.
M: Die S 8 fährt bis Ende September nicht. Komm mit der S 1 direkt zur Schule. Dann kann ich dir die Autoschlüssel geben. Dann kannst du eine halbe Stunde chillen und dann die Jungs direkt vom Sport abholen. Schau aber nach ob die S-Bahn wirklich kommt. Mit der S1 bin ich gestern stecken geblieben. Hat drei Stunden gedauert. Stellwerkprobleme.
V: Die Jungs gehen zum Sport?
M: Ich bin mir nicht sicher, ob sie gehen oder wieder in ihren Zimmern rumgammeln. Ich habe ihnen gesagt, sie sollen mit ihren Fahrrädern fahren.
V: Wenn die Jungs mit den Fahrrädern fahren, dann nehme ich auch das Fahrrad mit und komme zur Sporthalle, dann fahren wir zusammen zurück.
M: Bin mir gerade nicht sicher, ob sie die Räder nehmen. Nimm lieber das Auto.
V: Ich fahr nicht gern mit dem Auto. Und wie kommst du dann zurück?
M: Wird schon gehen, vielleicht mit dem Bus.
V: Fährt dann noch einer? Ich hab keine Lust, erst die Jungs und dann dich abholen zu fahren.
M: Du kannst auch mit der S-Bahn kommen und direkt zum Sport gehen und dann kommt ihr alle mit dem Bus.
V: Vielleicht will ja auch nur einer zum Sport. Dann komme ich mit dem Moped zur Sporthalle. Einen Sturzhelm hab ich für Hintendrauf.
M: Du kannst ja auch mit dem Moped zu mir kommen und ich nehme dich dann mit dem Auto mit zur Schule.
V: Und ich krieg die Schlüssel, hol die Jungs mit dem Auto ab und dann komm ich mit dem Moped zu dir zur Schule.
M: Auf das wacklige Ding steig ich nicht auf.
V: Ach komm! Wir haben doch schon ganz andere Touren miteinander erlebt.
M: Nein! Am besten kommst du mit dem Moped hierher und wir sehen weiter. Dann kommst du auch wieder zurück nach Berlin, wenn die S-Bahn nicht fährt.
V: Und wann? Ich brauche mindestens eine halbe Stunde zu euch.
M: Ich ruf dich noch mal an. Aber vergiss auf keinen Fall, drei Brötchen mitzubringen. Das ist unser Ritual nach dem Sport.
In Weimar ist sogar das Freibad schön. Es ist nagelneu, großzügig angelegt und es ist ausnahmsweise nicht nach Goethe- Schiller- Liszt- Herder- oder J. S. Bach oder dem Bauhaus benannt, wie sonst alle öffentlichen Einrichtungen in der Stadt. Es heißt einfach Schwanenseebad. Dabei war Tschaikowsky gar nicht hier. Die Schwimmringe im im Nichtschwimmerbecken sind schwarz, rot und gelb und weil Weimar ja auch Ort der Nationalversammlung der gleichnamigen Republik war, und auch dafür natürlich auch ein Museum hat, fällt es schwer, nicht auch darin etwas Symbolisches zu sehen. „Ach Gott ist das beziehungsreich, ich glaub, ich übergeb mich gleich.“ (Robert Gernhardt). Für meine Jungs ist vor allem der Sprungturm die Herausforderung. Trauen sie sich vom 5er oder gar vom 10er? Deshalb sind wir hier, weil mein Älterster mir jedesmal wenn wir im Urlaub ins Schwimmbad gehen, zeigen will, dass er sich das traut – und weil er weiß, dass ich das mitmache. Wegen Goethe auch, denn der hat Geburtstag und wegen Faust, denn der wird das ganze Jahr gefeiert. „Aber sie wollen mit den Kindern doch nicht nach Buchenwald?“ fragt der schmierige Jugendherbergsvater mit dem Froschblick gleich zur Ankunft und ich weiß nicht, wie er das meint. Immerhin sind wir hier im AfD-Höcke-Land Thüringen. Ich beschließe ihm zu mißtrauen und werde bestätigt, als ich merke, dass wir in dem natürlich wunderschönen Haus (Bürgervilla aus den 20er Jahren) die Dachkammer bekommen haben. Immerhin verrät er uns, dass der schönste Weg in die Stadt über den historischen Friedhof geht auf dem natürlich kein Geringerer als der Dichterfürst selbst begraben liegt. Die Jungs murren, nicht wegen der Historie, sondern wegen der vielen Bewegung (und weil Google-Maps einen anderen Weg vorschlägt). Aber dann lesen sie doch interessiert die Namen auf den bemoosten Grabsteinen. Außerdem habe ich eine Wette verloren und versprochen, sie in der Stadt einzulösen. Es ging um Schach. Ich hatte meinen guten Namen und 50 Euro darauf verwettet, dass wir in der Jugendherberge ein Schachspiel ausleihen könnten und wir deshalb unseres nicht von Berlin durch die halbe Republik schleifen müssten. Was im Ansatz richtig war, denn durch die Tücken der Deutschen Bahn mussten wir unsere schweren Koffer noch vor dem Losfahren mehrere Bahnsteige hoch und runterschleifen und in Erfurt beim Umsteigen gleich das Spielchen nochmal. Aber in dem edlen Eichenschrank, in dem sich die lieblose Spielesammlung der Herberge befand, befand sich nicht der Klassiker aller Spiele. Und das in Weimar. Dafür hatte die wohlsortierte und erstaunlich große Spielwarenhandlung in der Altstadt gleich fünf Varianten, was mich und die Jugend völlig überforderte (Mein Älterster schlug vor, noch mal bei Amazon zu checken, und sich das Spiel in die Herberge liefern zu lassen, was ich ablehnte.). Also gingen wir erst einmal auf dem Marktplatz ein Eis essen. Aber was ist Eis essen ohne Schach? Also schickte ich die hibbeligen drei Jungs mit einem Schein und dem Versprechen, sich in den Winkeln der Altstadt nicht zu verirren zurück zum Laden. Ich war schon mit dem Kaffee fertig, da kamen sie zurück. Sie hatten es tatsächlich geschafft, sich zu einigen und im Budget zu bleiben. Ein schönes, hölzernes Reiseschach aus Indien. Ich verlor drei Mal hintereinander, bevor wir endlich weiter konnten. Ich wollte in den Park an der Ilm, dem kleinen Flüsschen, das neben dem Schloss entlang plätschert. Und da passierte was ich mir bei der Vorbereitung der Reise vorgestellt hatte: Meine Jungs rannten runter zum Wasser, zogen die Schuhe aus und sprangen über die rutschige Staustufen. Die Sonne schien, das Wasser glitzerte und einer fiel rein, nass bis zum Hosenboden und lachte. Huckelberry Finn- Momente.
Den ganzen Nachmittag vertrödelten wir in dem, natürlich wunderschönen, Park, besuchten Goethes Gartenhaus und auf dem Rückweg kamen wir an einem sowjetischen Soldatenfriedhof vorbei, was mich ja immer interessiert. Vorher hatten wir über mein biblisches Alter und darüber gesprochen, was sich denn als Geschenk für meinen nächsten Geburtstag eignen würde. „Du bekommst von uns einen Grabstein.“, schlug mein Jüngster vor. Das war mein schönstes Ferienerlebnis.
Es ist schön, Besuch zu haben. Auf der Terrasse des ehemaligen Terrassencafés Minsk in Potsdam (jetzt: Kunsthaus DAS MINSK) bin ich der einzige Mensch, der sich nach dem Regen hinaus getraut hat. Und sie ist die einzige Wespe hier. Wir beide können es gut miteinander aushalten. Aber während ich nichts anderes zu tun habe, als an einem Samstagnachmittag meinen Americano (wenn Erich das wüsste) mit Milch zu trinken und den Blick auf den goldenen Kuppeln der Stadt ruhen zu lassen, ist sie eifrig. Die leere Tasse und das halbleere Milchkännchen werden unablässig untersucht. Zwischendrin werden die Fühler geputzt und wieder ein neuer Anlauf zur Nahrungssuche gesucht. Vorsichtig balanciert sie auf dem Rand der Kanne, ohne vor Gier hinein zu fallen. Ein kluges Tier. Anscheinend findet sie dort genug, um sich mit Eiweiß zu versorgen, das sie zu Hause gleich an die Larven verfüttern kann. Schwer schleppt sie am dicken Leib hinter der Wespentallie. Ob sie genug Luft kriegt? Und ist das fair? Dass sie sich so abrackern muss, um ein Bisschen von dem zu bekommen, was ich mir gerade für ein bisschen Kleingeld von der Theke geholt habe? Na ja, Kleingeld: 3,50 Euro. Im Prospekt zur Renovierung des Cafés war auf einer Speisekarte aus den 1970ern zu lesen, dass hier ein Kännchen Kaffee – es gab nur Kännchen – mit Milch und Zucker 1,90 M kostete. Offizieller Wechselkurs zur D-Mark war 2:1; dann wieder 2:1 von D-Mark in Euro. Also habe ich gerade 14 M für eine Tasse Kaffee gezahlt. Dafür war es echter Bohnenkaffee und kein Mokka Fix, dafür ist die Terrasse frisch renoviert, ich muss nicht mehr auf den Kellner warten, der mich „platziert“ und über mir, am Brauhausberg, in der dunkelroten Festung sitzt nicht mehr die Kreisleitung der SED, nicht mehr der Brandenburgische Landtag sondern Hasso Plattner, einer der Gründer von SAP, der wertvollsten Software-Firma Europas, der draus jetzt eine Hochschule für Wirtschaft und Recht machen will. Also für das Recht der Wirtschaft, würde ich mal vermuten. Das Café gehört ihm jetzt auch, oder seiner Stiftung. Dafür darf ich mir jetzt hier seine Sammlung von DDR-Kunst anschauen. Ist doch ein guter Deal, oder? Samstagsnachmittagsgedanken.
Der blaue Riegel vor der Stadt ist das neue Hallenbad „blu“
Die Wespe ist immer noch da. Anscheinend hat sie noch nicht genug zusammen bekommen für ihre Königin und deren Brut. Wer hängt eigentlich noch von dem ab, was ich übrig lasse? Wer arbeitet für mich, damit ich hier in Ruhe in die Luft schauen kann? Das Treppenhaus muss ich nicht putzen am Wochenende, das erledigt immer eine junge Frau mit Kopfhörern auf den Ohren, von der ich vermute, dass sie Ukrainerin ist. Die Wiese hinter dem Haus muss ich auch nicht mähen, und auch nicht das Laub harken, obwohl mir das mal gut täte. Das macht drei Mal im Jahr ein Trupp Gartenarbeiter, die sich ihre Stullen selber mitbringen. Mein Moped repariert eine Werkstatt in Neukölln… Und wer kümmert sich um meine Brut? Ich gerade nicht. Oh Gott, ich bin eine überflüssige Drohne ohne Stachel. Bei den Wespen sterben diese trägen Kerle, die von den Arbeiterinnen versorgt werden, im Herbst, wenn Königin ausfliegt, um ein neues Nest zu gründen. Ich schaue auf die Eifrige, die immer noch am Milchschaum kratzt. Gottseidank, sie will Eiweiß. Das sammeln Wespen nur im Sommer (so weiß ich jetzt auch, welche Jahreszeit sich gerade unter der Dauerregendecke verbirgt). Im Herbst gehen sie dann auf Obst und Süßes, um selber wieder Energie zu sammeln. Ein paar Monate habe ich also noch. Wenn die Wespen an meinen Pflaumenkuchen gehen, wird es gefährlich für mich.
Das kommt dabei heraus, wenn man das Wandgemälde „Die vom Menschen beherrschten Kräfte der Natur und Technik“ (Maljolikamalerei auf Steinzeugfliesen) von Josep Renau in Halle-Neustadt mit dem Panorama-Modus des iPhone 8 aufnimmt, ohne die Technik zu beherrschen.
Die Messe ist gelesen, der Vortrag ist beendet. Höflicher Applaus und ein paar Nachfragen verebben schnell in dem mit dunklem Holz vertäfelten Prachtsaal des alten halleschen Stadthauses. Die Arbeit ist getan. Jetzt kommt das Vergnügen. Bei belegten Brötchen und Filterkaffee gesellt sich der Veranstalter zu mir, ein gemütlicher Mann mit Bauch und Bart, dem es noch etwas peinlich ist, dass er auf der Podiumsdiskussion immer meinen Namen verdreht hat. Ob ich noch etwas Zeit mitgebracht hätte, mir die Stadt anzuschauen, fragt er gönnerhaft und offensichtlich bereit, mir ein paar geheime Tipps zu geben. Immerhin bin ich Besuch aus der Hauptstadt und ich habe etwas gut bei ihm. Die Altstadt von Halle an der Saale hätte ja auch einiges zu bieten: Kirchen, das Händel-Denkmal und die Frankeschen Stiftungen. Aber das interessiert mich nicht. Ich schaue etwas verlegen zu Boden und traue mich dann doch, meinen Wunsch auszusprechen: „Ich würde mir gerne sozialistische Wandgemälde anschauen, in Halle-Neustadt.“ Mein Gastgeber reagiert wie ein professioneller Concierge im Hotel, den ein Gast mal wieder nach Adressen im schmuddeligen Rotlichtviertel seiner Stadt gefragt hat. Und ich glaube, es wäre ihm lieber gewesen, hätte ich ihn einfach nach dem Bordell gefragt, für das es in Halle gleich am Hauptbahnhof auch ein Wandbild gibt. Sein Gesicht wird zu einer freundlichen Maske, der man die peinliche Berührtheit, das Fremdschämen und die Enttäuschung nicht ansehen soll. „Sie meinen so >Vorwärts mit der Arbeiterklasse-Bilder<?“, flüstert er tonlos. „Ja“, antworte ich. „Ich mag sowas.“ und halte ihm den Kuli und den Block hin, den er mir im Namen der Stadt Halle gerade dankbar überreicht hat. Ergeben malt er mir eine Skizze und ein paar Straßenbahnhaltestellen auf. Und um ganz sicher zu gehen, dass ich nicht doch eine Frau für den Abend gesucht habe, ruft er die Quartiersmanagerin des Plattenbauviertels herbei. Die hat nicht viel Zeit, ich habe keine Lust auf Begleitung. Entdeckungen mache ich lieber selber und den Stadtführer, den sie mir empfiehlt, den einzigen, der das Neubaugebiet überhaupt behandelt, habe ich mir schon am Bahnhof von Halle gekauft. Wir tauschen Visitenkarten aus. Ich habe noch zwei Stunden Zeit.
Was ich in der kurzen Zeit sehe, ist eine für den frühen Nachmittag sehr leere Stadt. In der Altstadt war Markttag und die Haltestellen der Straßenbahnen waren voll. Hier sehe ich außer ein paar Grauhaarigen auf der Einkaufsmeile noch ein paar Frauen mit Kopftuch über einen leeren Platz laufen. Das war’s. Vielleicht sind alle in dem neuen Einkaufszentrum, das nach der „Wende“ errichtet wurde. Aber da gehe ich nicht rein. Das kann ich auch in Berlin haben. Aber um ehrlich zu sein: Ich hatte mir „Ha-Neu“ noch grauer und noch leerer vorgestellt. So grau wie Berlin-Hellersdorf oder wie Hoyerswerda. 1993 hatte ich auf einer Russlandreise einen jungen Fotografen aus Halle getroffen, der gerade eine Ausstellung über die Aufbauzeit der Neustadt mit Fotos seines Vaters organisierte. Die waren alle schwarz-weiß und nach streng geometrischen Mustern fotografiert. Da war nichts Menschliches. Nichts Menschliches haben, trotz der vielen Gesichter, die man beim Näherkommen erkennt, auch die riesigen sozialistischen Wandbilder des Ensembles „Die Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift.“, die ich endlich am Ordnungsamt von Halle-Neustadt in den Himmel streben sehe. Aber immerhin: Es strahlt einen Optimismus aus, der uns heute nur noch zynisch gebrochen möglich ist. Manchmal auch als Real-Satire, wenn ich an unser neues Raumfahrtministerium denke. In den „Kosmos“ strebte auch der Sozialismus. Raketen zu den Sternen zu schießen war wohl schon damals einfacher als bröckelnde Brücken zu reparieren – und es ließ die realsozialistische Tristesse vergessen. Davon ist noch genug übrig in Ha-Neu. Aber es tut sich was: Von den heruntergekommen fünf „Scheibenhochhäusern“ an der Fußgängerzone strahlt schon wieder eins weißer als es als Neubau gestrahlt haben wird. Ein Leuchtturm gegen den Verfall. Das nächste ist in Arbeit. Sichtbar sind auch viele bunte Ecken, an denen mit Kunst versucht wird, gegen das Einerlei anzukämpfen. Die Quartiersmanagerin war sehr stolz darauf.
Zurück laufe ich durch das „Bildungsviertel“, mit seinen kleinen, würfelförmigen Pavilions . Endlich menschliches Maß nach all den 12-Geschossern. Das gefällt mir, obwohl viele davon verfallen. Es ist noch die Idee erkennbar, alles was eine Familie braucht, gleich neben dem Wohnblock zu bauen: Kindergarten, Schule, Ärztehaus, Schwimmbad. Und alles fast autofrei. Der Verkehr lief auf den großen Magistrale mittendurch. Dort, an der Straßenbahnhaltestelle, treffe ich auch wieder auf Leben. Wie im Wedding nachmittags um fünf sind hier die Jugendlichen in den Bahnen. Und es sind die gleichen Gesichter wie in Berlin. Die Neustadt ist mindestens so multikulti wie der Wedding. Und wer nicht in der Straßenbahn ist, der ist im Schwimmbad. Und keinem davon wird auffallen, dass die Schwimmhalle im klassischen Bauhausstil errichtet wurde. Aber wie in Berlin haben die Kids hier rausgekriegt, wie man Elektroroller knackt.
Wenn es Frühling wird im Wedding, wenn es endlich wärmer wird, dann blüht das Leben auf den Straßen. Die Menschen zeigen sich wieder und zeigen wieder etwas von sich. Und jedem Beobachter, der sich etwas Zeit nimmt und die Szene von einem ruhigen Kaffeehausstuhl beobachtet, wird klar: Was man im Wedding zu sehen bekommt, das ist nicht das, was es woanders gibt. Diese Styles, diese Moves und diese Mode, das ist einmalig. Was die Influencer in den Sozialen Medien verkaufen wollen, lässt die Menschen hier unbeeindruckt. Neo-Hippie-Style, Strickmoden, Skinny-Jeans. Das ist nichts für das Sehen und Gesehenwerden auf den Boulevards des Berliner Nordens. Hier trägt man mit Stolz, was man anderswo noch nicht gesehen hat oder nicht mehr sehen will.Und doch erkennt man auch in diesem Frühjahr deutlich neue Trends, die das Straßenbild prägen.
Ganz klar: Der Frühling bringt das Ende des Schwarze-Daunenjacken-Diktats auf den Straßen. Aber die neue Saison bringt leider auch nicht die Rückkehr der Farbe und der Muster, der Karos oder der Streifen (außer den allgegenwärtigen drei von Adidas). Auch der farbenfrohe Ethno-Style ist selten geworden und nur die Essensfahrer von „flink“ mit ihren schwarzen oder farbigen Turbanen verbreiten manchmal noch exotisches Flair. Der Weddinger Dresscode für diesen Frühling ist eine Wiederkehr der Einfarbigkeit und der gedeckten Töne: Hosen und Jacken meist in Schwarz, manchmal in Leder, in Beige oder in Indigo. Wenige wagen grün. Es sind weniger offen getragenen Marken-Logos zu erkennen. Kaum Röcke, Bodenlanges nur in der islamisch geprägten Mode in Hellbraun und Hellgrau. Kinderwagen und Rollatoren bleiben ein beliebtes Accessoire, weiße Plastiktüten mit Obst und Gemüse sind weiter ein Muss und ein Zeichen der Street-Credibility. Die Schuhe eher sportlich nicht nur bei den jungen Aficionados, weiße Sneaker sind auf dem Rückzug, überhaupt ist Weiß weniger zu sehen. Ausgedient hat die Bierflasche als Zeichen der Ortsverbundenheit und des Savoir-vivre. Nur in der Nähe des Leopodplatzes und um den Gesundbrunnen sieht man sie noch häufiger. Dort auch öfter individuelle Style-Kombinationen mit Decken, Capes, Plaids und halben Schlafsäcken, die gekonnt um die Schultern drapiert oder als Schärpe getragen werden. Die Mutigen tragen schon leichte Pullover, manchmal ein vorsichtiges Rosa. Es ist noch wenig Haut zu sehen, und wenn, dann unfreiwillig im üppigen Hüftbereich der Damen Herren. Der Wedding ist ein Vorreiter der natürlichen Body Positivity. Auf dem Kopf maximal Caps ohne Logo, Kopftücher und Hoodies, kaum Hüte, auch nicht bei den Damen. Verfilzte Haare und Dreadlocks sind auch nicht mehr so angesagt. Mann trägt eher kurzhaarig. Und bei den Kindern abrasierten Seiten, fast irokesig. Auch sonst hinterlassen die Friseure und Barbershops, die es an jeder Straßenecke gibt viel Bleibendes auf den Köpfen der Passanten. Bei Vielen sieht es dort aber auch lässig improvisiert oder selbstgemacht aus. Dazu werden blasierte bis grimmige Großstadtgesicher getragen, selten glattrasiert, oft mit dem überforderten Heroine-Chic, kombiniert mit einem langsamen, fast flaneurhaften Gang, manchmal trippelnd, manchmal watschelnd. Goldkettchen sind nicht mehr so offensiv sichtbar. Überhaupt wenig Schmuck im Straßenbild – anders als die Vielzahl der Juweliere und Goldhändler in den großen Straßen vermuten lassen würden. Auch keine protzigen Uhren. Das Smartphone hat alle anderen Statussymbole abgelöst. Schnurrbärte kommen wieder. Manche tragen sie aus Tradition, manche als ersten Versuch nach dem Bartflaum, wie in den 1970ern. Bei den Frauen gleichen Alters viel „Clean Girl“-Ästhetik mit starkem Make Up, betonten Lippen, ohne Falten und Unreinheiten. Sonnenbrillen als Macho Accessoire tauchen eher am Abend auf oder werden durch das Seitenfenster überschwerer PKW sichtbar. Auch wieder sichtbar: Hosen aus lockerem Baumwolljersey um nicht zu sagen: Jogginghosen, Sweatpants, die Hosen, die man trägt, wenn man sich, wie Karl Lagerfeld sagte, selber aufgegeben hat.
Ich blicke an mir selbst herab: Jeans, kariertes Hemd, zerknautschte grüne Schimanski-Jacke. Klassische Herrenmode, würde ich sagen, zumindest Anfang der 1990er. „Ich beobachte, dass viele an irgendeinem Punkt in ihrem Leben aufgeben.“, schreibt die Modejournalistin Diana Weis im Tagesspiegel. „Weil sie sowieso immer die gleichen Sachen kaufen, nämlich welche, die sie auf dem Höhepunkt ihrer Attraktivität anhatten.“ Mir scheint, dieser Höhepunkt hält bei mir jetzt schon über dreißig Jahre an.
Manchmal möchte ich ja dem Motto meines Blogs wieder Ehre machen. Dann fasse mir ein Herz und gehe durch einer der Türen, die in unserm Viertel immer offen stehen. Und manchmal entdecke ich dabei ein verborgenes Märchenland: Gardinestan! Es hat einen geheimnisvollen Namen. Es liegt gleich neben Babylon und nicht weit weg von den Kabul Nights. Manchmal ist es schwer zu finden, doch nie war es ganz verschwunden. Jetzt ist es wieder in voller Pracht aufgetaucht: Nicht hinter den sieben Bergen, nicht im wilden Kurdistan, sondern wieder in der Müllerstraße im Wedding. Und um seine Bewohner und ihre Schätze zu entdecken, muss man nur durch die neue goldene Pforte treten. Und manchmal trifft man dabei eine orientalische Prinzessin, die keine sein will.
Es ist kein Reich voll Tüll, Taft und Teppichen, auch wenn der orientalische Name etwas anderes vermuten lässt. „Gardinestan“, egal wer sich diesen Namen ausgedacht hat, er hat einen Treffer gelandet. Der markante gold-blaue Schriftzug bevölkert schon lange die Blogs und Instagram-Profile über den Wedding. „Gardinestan“, das klingt wie ein fernes Land, das irgendwo zwischen Afghanistan und Usbekistan an der Seidenstraße liegen könnte, ein geheimes Königreich, aus dem legendäre handgeknüpfte Teppiche kommen. Und gleichzeitig könnte es eine selbstironische Anspielung sein auf das Multi-Kulti im Wedding, auf orientalische Teppichhändler und auf das, was hier wirklich verkauft wird: Schimmernde Fenstervorhänge und – na ja: Gardinen.
„Vielleicht ist es auch nur eine Abkürzung von ‚Gardinenstange'“, vermutet der nüchterne Verkäufer, der mich durch den Laden führt. Er ist durch und durch Händler. „Schauen sie!“, wirbt er für seine Ware. „Das ist ein wirklich lichtdichtes Gewebe.“ Zum Beweis hält er seine Handy-Lampe unter eine Stoffprobe. Der Lichtfleck dringt nicht durch. Zum Vergleich zeigt er mir ein leichter gewebtes Stück: blickdicht, aber nicht lichtdicht. Einen Unterschied, den mir bei IKEA, wo ich bisher meine Vorhänge kaufte, keiner gezeigt hat. Und vielleicht ist diese Expertise und die Leidenschaft für den Stoff das wirklich Exotische an diesem Geschäft: „Gardinestan“ ist das letzte Gardinen-Fachgeschäft an der Müllerstraße. Erst vor Kurzem hat das „Ideal“-Gardinenhaus aufgegeben und die Gardinenabteilung von Karstadt am Leopoldplatz ist seit vergangenem Jahr Geschichte.
Aber um das Königreich hinter den seidigen Stores muss man sich keine Sorgen machen, auch wenn der markante Schriftzug für eine Weile von der Fassade verschwunden war – das Haus wurde renoviert. Denn die Kundschaft kommt nicht nur aus dem Wedding, sondern aus ganz Berlin und Brandenburg, verrät mir Fatih Genc, einer der Inhaber. Deshalb, und wegen des guten Online-Geschäfts, sei man durch die Veränderungen und die Geschäftsschließungen in der Müllerstraße auch nicht zu stark betroffen. Man habe Angebote zwischen 20 Euro und 300 Euro pro Meter Gardine. Damit sei man unter den etwa 60 Gardinenläden in Berlin noch nicht im obersten Preissegment, ergänzt sein Verkäufer eifrig. Im Schnitt werde im Wedding 100 Euro pro Meter ausgegeben. Für seine eigene Zwei-Zimmer-Wohnung habe er 1200 Euro für Gardinen und Vorhänge angelegt, verrät er mir. Teppiche habe man auch, aber eher Zusatzangebot und als Sonderangebot für die Laufkundschaft. Soviel zum Thema Wunschvorstellungen.
Im Hinausgehen versuche ich Aişe Genc, der Tochter von Mitgründer Cengiz Genc, zwischen edlen S-Linien-Gardinen und Lamellen-Rollos doch noch das Geheimnis des magischen Namens zu entlocken. Im Handelsregister eintragen ist die Firma als „Jung CFO GmbH“. Der Name sei eine Verbindung der Anfangsbuchstaben der drei Brüder Cengiz, Fatih und Oktay Genc, die das Geschäft gemeinsam führen und der deutschen Übersetzung ihres Nachnamens – Genc heißt jung, verrät Frau Genc. Ein Rätsel gelöst. Bleibt noch das Geheimnis um „Gardinestan“. „Er hat schon was mit Ländern wie Afghanistan zu tun,“, lächelt sie, „obwohl mein Vater und seine beiden Brüder aus der Türkei stammen.“ Ihr Vater habe die Idee gehabt. Mehr verrät sie nicht. Ob sie später mal das Geschäft übernehmen wolle, sozusagen als Kronprinzessin von Gardinestan, frage ich sie. „Nein“, lacht sie. „Ich studiere Bio-Informatik an der FU.“