Der Gurkenkönig

Samstagnachmittag im Eurogida, einem großen türkischen Gemüseladen im Wedding. Ich brauch noch Obst und Gemüse für‘s Wochenende. Und hier ist es um die Zeit noch günstiger als auf dem Markt hinter dem Rathaus. 70 Cent für eine abgepackte Schale Tomaten auf der noch das Etikett „Kaufland“ klebt, 1,50 Euro für eine Schale Nektarinen. Der Verkäufer draußen an der Waage stopft alles in einen Plastikbeutel. Ob er es nicht wiegen wolle, frage ich, denn ich weiß, dass man es später an der Kasse nicht mehr wiegen kann. Er schüttelt den Kopf und winkt mich weiter. Drinnen gibts drei Avocados für 1 Euro. Ich trage sie brav zur Waage im Laden, aber der junge Mann, der genau so schweigsam ist wie sein Kollege, winkt ab und deutet zur Kasse. Nur wegen der Gurke, die ich mir von einem Stapel geholt habe, meckert er mich an, zieht sie mir aus der Tasche, wiegt sie, klebt ein Etikett drauf und steckt sie zurück in den Beutel. Bei Edeka kosten alle Gurken das Gleiche.

Der Kassierer ist ein stämmiger Kerl mit dunklem Bart und Stiernacken, der auch Türsteher in einem Club sein könnte. Er trägt schwarze Handschuhe und liegt lässig auf seinem Drehstuhl als wäre es der Schalensitz seines Maserati. Vor mir ein eleganter Herr mit gebräuntem Gesicht und gestutztem weißen Bart. Als er meine Avocados auf dem Band sieht, fängt er ein Gespräch an. Wo ich die denn her hätte? Auf dem Markt habe er heute keine gefunden und so weiter. Schon hat er seine Finger auf meiner Ware und drückt sie. Ja, die seien genau richtig, lobt er. Ich lege demonstrativ eine Aluminiumstange zwischen sein Obst und meins. Dann fängt der mit dem Kassierer eine Diskussion an, ob er ihm einen Euro mehr zahlen könne, damit er sich hinterher dann noch die Avocados holen könne. Der Kassierer schaut ihn stoisch an. „6 Euro 50“, ist alles, was er sagt. „Er versteht mich nicht.“, sagt der Mann resigniert zu mir und zuckt die Schultern. Da ruft der Kassierer seinem Kollegen drei Regale weiter etwas zu und kommandiert den Avocado-Mann „Du gehst zu Ihm. Und 7 Euro 50.“ Das wäre geklärt. Ich verabschiede mich und wünsche meinem Gemüsefreund viel Glück. Jetzt bin ich dran. Wortlos wird mein Einkauf über die Kasse gezogen. Aber bei der Gurke stutzt er. Das Etikett ist abgefallen. „Die musst du wiegen lassen.“, brummt er und zeigt mit der Gurke nach da wo ich her komme. „Die hat dein Kollege schon gewogen.“, brumme ich schlecht gelaunt zurück. Ein Blick, dann ein schneller Dreh auf dem Stuhl, ein Ruf und meine Gurke fliegt durch den halben Laden, bis sie der Mann an der Waage auffängt. Rückwärts geht es vorsichtiger über eine alte Frau mit Kopftuch, von Hand zu Hand. Jetzt hat meine Gurke ein Etikett, „0,57 Euro“ und wird über den Scanner gezogen. Bei Edeka hätte es länger gedauert.

Mein kleiner grüner Kaktus

War ein wildes Wochenende. Fing damit an, dass mein Sohn, jetzt 13, zum ersten Mal allein mit der S-Bahn zu mir gekommen ist. Na ja, fast. Eigentlich muss man drei Mal umsteigen, und bevor er mir dabei verloren geht, hab ich ihn beim ersten Umsteigebahnhof abgeholt. Aber immerhin. Ein erster Schritt. Für ihn und für mich. Und als wir am nächsten Tag von der Bibliothek kommen ist auf dem Sportplatz in unserem Viertel ein Fußballfest. Der 3. Africacup Berlin. Stand nirgendwo – außer bei Instagram, aber da bin ich nicht. Aber eine Menge los. Alles junge Leute mit afrikanischen Wurzeln. Und obwohl das Viertel in dem ich wohne das Afrikanische Viertel ist und an der Afrikanischen Straße liegt, habe ich noch nie so viele schwarze Menschen meinem Viertel gesehen. Und so gut gelaunt. Fußball war Nebensache (ist es sowieso), es war mehr Party und ein stolzes Zusammenkommen der Community. Damit das alle in meinem Viertel erfahren bin ich schnell nach Hause und hab meinen Fotoapparat geholt. Dann habe ich den Jungs am Eingang gesagt, dass ich von der Presse bin und wir haben VIP-Bändchen bekommen, in Gold, mit dem Buchstaben VIP drauf. Das hat meinem Sohn natürlich gefallen. Ich hab wild geknipst aber das Eigentliche hab ich mich nicht getraut: Die vielen unterschiedlichen Gesichter. Ich hätte fragen müssen, die Spieler und die Spielerfrauen, die Köche an Ständen mit den frittierten Kochbananen und den Fischen. Hab ich aber nicht. Aber ein bisschen Atmo kommt hoffentlich doch rüber.

Dann hat es angefangen zu regnen und wir sind nach Hause gegangen. Ich hab den Artikel für unseren Kietz-Blog getippt und mein Sohn hat die Comics gelesen, die er aus der Bibliothek mitgebracht hat. Dann haben wir die Kochbanane gebraten, die wir uns mitgenommen hatten. Mein Sohn hat sie tapfer probiert und ich hab den Rest gegessen – mit Pflaumenmus, passt ganz gut mit den ganzen Nelken und dem Zimt dadrin. Nächsten Tag sind wir ins Kino gegangen in einen Zeichentrick über Außerirdische, die dicke Panzer anhaben aber darunter kleine Würmer sind. Im Kino lernt man was fürs Leben. Mein Sohn hat gelernt, dass er beim nächsten Mal nicht wieder einen ganzen Eimer salziges Popcorn bestellt, den hat er nämlich doch nicht geschafft. Ich hab ihn dann wieder in die S-Bahn gesetzt und bin zu meiner großen Tochter gefahren. Die wohnt in Neukölln, das ist am anderen Ende der Stadt, aber was macht man nicht alles. Sie hat gesagt, ihr Fahrrad sei kaputt. Also hab ich Werkzeug eingepackt. Aber als ich angekommen bin, ging es gar nicht um das Rad, sondern um die IKEA-Küche, die sich über eBay gebraucht gekauft hatte. Aber das war keine Küche sondern eine Ansammlung von weißen Würfeln aus Presspappe und Blech. Aber sie hat gewußt, wie das zusammengehört. Und obwohl ich noch nie eine Küche zusammengebaut habe, und obwohl wir uns erst mal bei der Nachbarin mit den zottligen rotgefärbten Haaren eine Wasserwaage leihen mussten (meine Tochter dachte, das geht auch mit dem iPhone, ging aber nicht) haben wir das in zwei Stunden so einigermaßen hingestellt. Wir waren richtig stolz auf uns. Das Fahrrad haben wir auch noch repariert und ich hab meiner Tochter die Luftpumpe dagelassen, denn Luft war das Einzige was fehlte. Dann bin ich noch zu meiner ehemaligen Kollegin nach Kreuzberg gefahren, das ist um die Ecke, die in der SPD ist. Wir haben eine Flasche Sekt geleert und uns überlegt, wie das weitergehen kann mit der SPD. Ich bin nicht in der SPD, aber wir haben viele Jahre zusammen politisch gearbeitet, und wenn man helfen kann… Wir sind aber auf keine Idee gekommen auf die nicht Frau Reichinek oder Frau Wagenknecht auch schon gekommen sind. Trotzdem bin ich nach Mitternacht ziemlich fröhlich zurückgeradelt. Auf der Friedrichstraße war die Polizei noch dabei, die letzten Herumtreiber von „Rave the Planet“ zusammen zu sammeln, die auf einem Baugerüst des ehemaligen Kaufhauses Lafayette turnten. Ich glaube, ich habe da nix verpasst.

Und warum kleiner grüner Kaktus? Weil ich, als mein Sohn auf dem Sofa seine „Brainrot“-Filmchen geguckt hat, einfach auf mein Balkon gegangen bin. Da steht ein Blumentopf in den ich ein Tütchen Wiesenblumen gesäht habe, die ich mal als Werbegeschenk vom Behindertenbeauftragten der Bundesregierung geschenkt bekommen habe – nicht persönlich natürlich, aber sein Logo und der Bundesadler waren auf der Verpackung. Nicht alles was die Regierung säht, gedeiht, aber die Blumen stehen mittlerweile in voller Blüte – immer eine Sorte nach der anderen. Und weil die Schönheit so vergänglich ist, habe ich meine Kamera genommen, das Objektiv verkehrt herum draufgeschraubt (so kriegt man ein improvisiertes Makro-Objektiv- hab ich bei You Tube gelernt) und bin ganz nah dran gegangen. Man muss sich ein bisschen konzentrieren und etwas Geduld haben, aber das ist ja das Entspannende. Ich mag es, wenn die Bilder etwas enthüllen, was mit bloßem Auge nicht zu sehen ist, eine eigene Welt und es gefällt mir auch, dass die Blüten, anders als die Smartphone-Fotos, ein bisschen unscharf werden, und wirken wie eigene Wesen. Na ja, schaut selbst.

Der Mann mit dem Blauhelm

Am EDEKA an der Müllerstraße. Vorne hat die CDU einen Info-Stand aufgebaut. Vier Männer und eine Frau verteilen „Wir in Mitte“. Einer mit Backenbart isst ein Frikadellen-Brötchen vom Bäckereistrand und schaut genervt auf seine Armbanduhr. Es ist 11:30 Uhr. Drinnen schiebt eine dicke Frau im weiten Kattundruck-Kleid einen leeren Einkaufswagen vor sich und zieht einen Hackenporsche hinter sich durch den Gemüsestand. Sie redet mit einem jungen EDEKA-Mann mit hell gebleichten Haaren und Schnurrbart, der vor dem Regal kniet und irgend etwas umräumt. „Ich komm hier nicht durch.“, nölt sie. „Ich kann hier nicht weg, ich räume um, das sehn sie doch.“ blafft der zurück. Langsam trollt sich die Dame und läuft um das Regal herum. Ich verschwinde zwischen den Regalreihen und als ich wieder auf den Gang zurück komme, zucke ich zusammen. Vor mir steht ein Gespenst. Ein steinalter Mann ohne Zähne mit eingefallenem Gesicht. Auf dem Kopf hat er einen hellblauen Helm mit Motorradbrille und vor den Augen noch eine dunkle Sonnenbrille. Er sieht aus wie ein exhumierter UN-Blauhelmsoldat aus der Serie über den Jugoslawienkrieg, die ich gerade bei arte schaue. Mühsam und wackelig schiebt er seinen Einkaufswagen weiter. Ich warte an der Kasse auf ihn, aber er erscheint nicht mehr.

Dafür steht ein fröhlich lachender Mann vor mir, der sich für jeden Handschlag der Kassiererin bedankt. Er ist der einzige Mensch im Laden, der mehr spricht als nötig und trotzdem ist er der Inbegriff von cool. Schwarz, wache Augen mit dicker Hornbrille und einer dicken Uhr mit Metallarmband am Handgelenk. Er könnte in einem Jazz-Club am Klavier sitzen oder sonst was Cooles machen. „Sie sind aber höflich.“ sage ich zu ihm. „Ja“, strahlt er zurück, „Wenn man will, dass die Leute freundlich sind, muss ja auch selber so sein.“ Er packt zehn Dosen mit Makrelen und einen glänzenden frischen Fisch ein, den ich in der Kühltruhe noch nie gesehen habe. Da fällt mir ein, das ich im „Bantou Village“, dem afrikanischen Restaurant um die Ecke vor Jahren den besten Fisch meines Lebens gegessen habe. Danach hatte ich auch gute Laune. Jetzt bin ich an der Reihe und die junge Kassiererin rollt die Augen nach oben, als ob sie sagen wollte „Sprich mich jetzt nich auch noch an.“ Tu ich aber trotzdem. „Haben sie den Pfand-Bon gesehen, den ich aufs Band gelegt habe?“ „Ja, hab ich gleich zu Anfang eingescannt.“, kommt die knappe Antwort. Ich packe meine Sachen in die Fahrradtasche. Genug geredet für heute.

Ps: Das Foto ist ein Ausschnitt eines rekonstruierten Wandbilds aus der Ausstellung „Sonnensucher“ in Zwickau. Für die Restaurierung des Bildes werden Spenden gesammelt.

https://www.wismut-stiftung.de

Auferstanden aus Ruinen?

Das kommt dabei heraus, wenn man das Wandgemälde „Die vom Menschen beherrschten Kräfte der Natur und Technik“ (Maljolikamalerei auf Steinzeugfliesen) von Josep Renau in Halle-Neustadt mit dem Panorama-Modus des iPhone 8 aufnimmt, ohne die Technik zu beherrschen.

Die Messe ist gelesen, der Vortrag ist beendet. Höflicher Applaus und ein paar Nachfragen verebben schnell in dem mit dunklem Holz vertäfelten Prachtsaal des alten halleschen Stadthauses. Die Arbeit ist getan. Jetzt kommt das Vergnügen. Bei belegten Brötchen und Filterkaffee gesellt sich der Veranstalter zu mir, ein gemütlicher Mann mit Bauch und Bart, dem es noch etwas peinlich ist, dass er auf der Podiumsdiskussion immer meinen Namen verdreht hat. Ob ich noch etwas Zeit mitgebracht hätte, mir die Stadt anzuschauen, fragt er gönnerhaft und offensichtlich bereit, mir ein paar geheime Tipps zu geben. Immerhin bin ich Besuch aus der Hauptstadt und ich habe etwas gut bei ihm. Die Altstadt von Halle an der Saale hätte ja auch einiges zu bieten: Kirchen, das Händel-Denkmal und die Frankeschen Stiftungen. Aber das interessiert mich nicht. Ich schaue etwas verlegen zu Boden und traue mich dann doch, meinen Wunsch auszusprechen: „Ich würde mir gerne sozialistische Wandgemälde anschauen, in Halle-Neustadt.“ Mein Gastgeber reagiert wie ein professioneller Concierge im Hotel, den ein Gast mal wieder nach Adressen im schmuddeligen Rotlichtviertel seiner Stadt gefragt hat. Und ich glaube, es wäre ihm lieber gewesen, hätte ich ihn einfach nach dem Bordell gefragt, für das es in Halle gleich am Hauptbahnhof auch ein Wandbild gibt. Sein Gesicht wird zu einer freundlichen Maske, der man die peinliche Berührtheit, das Fremdschämen und die Enttäuschung nicht ansehen soll. „Sie meinen so >Vorwärts mit der Arbeiterklasse-Bilder<?“, flüstert er tonlos. „Ja“, antworte ich. „Ich mag sowas.“ und halte ihm den Kuli und den Block hin, den er mir im Namen der Stadt Halle gerade dankbar überreicht hat. Ergeben malt er mir eine Skizze und ein paar Straßenbahnhaltestellen auf. Und um ganz sicher zu gehen, dass ich nicht doch eine Frau für den Abend gesucht habe, ruft er die Quartiersmanagerin des Plattenbauviertels herbei. Die hat nicht viel Zeit, ich habe keine Lust auf Begleitung. Entdeckungen mache ich lieber selber und den Stadtführer, den sie mir empfiehlt, den einzigen, der das Neubaugebiet überhaupt behandelt, habe ich mir schon am Bahnhof von Halle gekauft. Wir tauschen Visitenkarten aus. Ich habe noch zwei Stunden Zeit.

Was ich in der kurzen Zeit sehe, ist eine für den frühen Nachmittag sehr leere Stadt. In der Altstadt war Markttag und die Haltestellen der Straßenbahnen waren voll. Hier sehe ich außer ein paar Grauhaarigen auf der Einkaufsmeile noch ein paar Frauen mit Kopftuch über einen leeren Platz laufen. Das war’s. Vielleicht sind alle in dem neuen Einkaufszentrum, das nach der „Wende“ errichtet wurde. Aber da gehe ich nicht rein. Das kann ich auch in Berlin haben.
Aber um ehrlich zu sein: Ich hatte mir „Ha-Neu“ noch grauer und noch leerer vorgestellt. So grau wie Berlin-Hellersdorf oder wie Hoyerswerda. 1993 hatte ich auf einer Russlandreise einen jungen Fotografen aus Halle getroffen, der gerade eine Ausstellung über die Aufbauzeit der Neustadt mit Fotos seines Vaters organisierte. Die waren alle schwarz-weiß und nach streng geometrischen Mustern fotografiert. Da war nichts Menschliches. Nichts Menschliches haben, trotz der vielen Gesichter, die man beim Näherkommen erkennt, auch die riesigen sozialistischen Wandbilder des Ensembles „Die Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift.“, die ich endlich am Ordnungsamt von Halle-Neustadt in den Himmel streben sehe. Aber immerhin: Es strahlt einen Optimismus aus, der uns heute nur noch zynisch gebrochen möglich ist. Manchmal auch als Real-Satire, wenn ich an unser neues Raumfahrtministerium denke. In den „Kosmos“ strebte auch der Sozialismus. Raketen zu den Sternen zu schießen war wohl schon damals einfacher als bröckelnde Brücken zu reparieren – und es ließ die realsozialistische Tristesse vergessen.
Davon ist noch genug übrig in Ha-Neu. Aber es tut sich was: Von den heruntergekommen fünf „Scheibenhochhäusern“ an der Fußgängerzone strahlt schon wieder eins weißer als es als Neubau gestrahlt haben wird. Ein Leuchtturm gegen den Verfall. Das nächste ist in Arbeit. Sichtbar sind auch viele bunte Ecken, an denen mit Kunst versucht wird, gegen das Einerlei anzukämpfen. Die Quartiersmanagerin war sehr stolz darauf.

Zurück laufe ich durch das „Bildungsviertel“, mit seinen kleinen, würfelförmigen Pavilions . Endlich menschliches Maß nach all den 12-Geschossern. Das gefällt mir, obwohl viele davon verfallen. Es ist noch die Idee erkennbar, alles was eine Familie braucht, gleich neben dem Wohnblock zu bauen: Kindergarten, Schule, Ärztehaus, Schwimmbad. Und alles fast autofrei. Der Verkehr lief auf den großen Magistrale mittendurch. Dort, an der Straßenbahnhaltestelle, treffe ich auch wieder auf Leben. Wie im Wedding nachmittags um fünf sind hier die Jugendlichen in den Bahnen. Und es sind die gleichen Gesichter wie in Berlin. Die Neustadt ist mindestens so multikulti wie der Wedding. Und wer nicht in der Straßenbahn ist, der ist im Schwimmbad. Und keinem davon wird auffallen, dass die Schwimmhalle im klassischen Bauhausstil errichtet wurde. Aber wie in Berlin haben die Kids hier rausgekriegt, wie man Elektroroller knackt.

Catwalk Wedding

Wenn es Frühling wird im Wedding, wenn es endlich wärmer wird, dann blüht das Leben auf den Straßen. Die Menschen zeigen sich wieder und zeigen wieder etwas von sich. Und jedem Beobachter, der sich etwas Zeit nimmt und die Szene von einem ruhigen Kaffeehausstuhl beobachtet, wird klar: Was man im Wedding zu sehen bekommt, das ist nicht das, was es woanders gibt. Diese Styles, diese Moves und diese Mode, das ist einmalig. Was die Influencer in den Sozialen Medien verkaufen wollen, lässt die Menschen hier unbeeindruckt. Neo-Hippie-Style, Strickmoden, Skinny-Jeans. Das ist nichts für das Sehen und Gesehenwerden auf den Boulevards des Berliner Nordens. Hier trägt man mit Stolz, was man anderswo noch nicht gesehen hat oder nicht mehr sehen will.Und doch erkennt man auch in diesem Frühjahr deutlich neue Trends, die das Straßenbild prägen.

Ganz klar: Der Frühling bringt das Ende des Schwarze-Daunenjacken-Diktats auf den Straßen. Aber die neue Saison bringt leider auch nicht die Rückkehr der Farbe und der Muster, der Karos oder der Streifen (außer den allgegenwärtigen drei von Adidas). Auch der farbenfrohe Ethno-Style ist selten geworden und nur die Essensfahrer von „flink“ mit ihren schwarzen oder farbigen Turbanen verbreiten manchmal noch exotisches Flair. Der Weddinger Dresscode für diesen Frühling ist eine Wiederkehr der Einfarbigkeit und der gedeckten Töne: Hosen und Jacken meist in Schwarz, manchmal in Leder, in Beige oder in Indigo. Wenige wagen grün. Es sind weniger offen getragenen Marken-Logos zu erkennen. Kaum Röcke, Bodenlanges nur in der islamisch geprägten Mode in Hellbraun und Hellgrau. Kinderwagen und Rollatoren bleiben ein beliebtes Accessoire, weiße Plastiktüten mit Obst und Gemüse sind weiter ein Muss und ein Zeichen der Street-Credibility. Die Schuhe eher sportlich nicht nur bei den jungen Aficionados, weiße Sneaker sind auf dem Rückzug, überhaupt ist Weiß weniger zu sehen. Ausgedient hat die Bierflasche als Zeichen der Ortsverbundenheit und des Savoir-vivre. Nur in der Nähe des Leopodplatzes und um den Gesundbrunnen sieht man sie noch häufiger. Dort auch öfter individuelle Style-Kombinationen mit Decken, Capes, Plaids und halben Schlafsäcken, die gekonnt um die Schultern drapiert oder als Schärpe getragen werden. Die Mutigen tragen schon leichte Pullover, manchmal ein vorsichtiges Rosa. Es ist noch wenig Haut zu sehen, und wenn, dann unfreiwillig im üppigen Hüftbereich der Damen Herren. Der Wedding ist ein Vorreiter der natürlichen Body Positivity. Auf dem Kopf maximal Caps ohne Logo, Kopftücher und Hoodies, kaum Hüte, auch nicht bei den Damen. Verfilzte Haare und Dreadlocks sind auch nicht mehr so angesagt. Mann trägt eher kurzhaarig. Und bei den Kindern abrasierten Seiten, fast irokesig. Auch sonst hinterlassen die Friseure und Barbershops, die es an jeder Straßenecke gibt viel Bleibendes auf den Köpfen der Passanten. Bei Vielen sieht es dort aber auch lässig improvisiert oder selbstgemacht aus. Dazu werden blasierte bis grimmige Großstadtgesicher getragen, selten glattrasiert, oft mit dem überforderten Heroine-Chic, kombiniert mit einem langsamen, fast flaneurhaften Gang, manchmal trippelnd, manchmal watschelnd. Goldkettchen sind nicht mehr so offensiv sichtbar. Überhaupt wenig Schmuck im Straßenbild – anders als die Vielzahl der Juweliere und Goldhändler in den großen Straßen vermuten lassen würden. Auch keine protzigen Uhren. Das Smartphone hat alle anderen Statussymbole abgelöst. Schnurrbärte kommen wieder. Manche tragen sie aus Tradition, manche als ersten Versuch nach dem Bartflaum, wie in den 1970ern. Bei den Frauen gleichen Alters viel „Clean Girl“-Ästhetik mit starkem Make Up, betonten Lippen, ohne Falten und Unreinheiten. Sonnenbrillen als Macho Accessoire tauchen eher am Abend auf oder werden durch das Seitenfenster überschwerer PKW sichtbar. Auch wieder sichtbar: Hosen aus lockerem Baumwolljersey um nicht zu sagen: Jogginghosen, Sweatpants, die Hosen, die man trägt, wenn man sich, wie Karl Lagerfeld sagte, selber aufgegeben hat.

Ich blicke an mir selbst herab: Jeans, kariertes Hemd, zerknautschte grüne Schimanski-Jacke. Klassische Herrenmode, würde ich sagen, zumindest Anfang der 1990er. „Ich beobachte, dass viele an irgendeinem Punkt in ihrem Leben aufgeben.“, schreibt die Modejournalistin Diana Weis im Tagesspiegel. „Weil sie sowieso immer die gleichen Sachen kaufen, nämlich welche, die sie auf dem Höhepunkt ihrer Attraktivität anhatten.“ Mir scheint, dieser Höhepunkt hält bei mir jetzt schon über dreißig Jahre an.

A Farewell to Yoga #1

Erster Tag: Mal wieder Fasten und Yoga im Gutshaus.
Es ging leicht, diesmal, der Einstieg  ins Fasten zu Hause, neben den zwei letzten Arbeitstagen im Homeoffice. Mein Körper wusste schon, was ich von ihm wollte, aber zwischen Computerbildschirm und Sofa hing ich etwas matt in der Gegend herum (bis ich einen Flash bekam und innerhalb von zwei Stunden in meiner Ablage Frühjahrsputz machte). Die Sachen packte ich in der letzten Minute aber immerhin: kein Hunger, keine Sehnsucht nach Essen. Mit der Bahn und vollgepacktem Rad nach Fürstenberg. Von da sind es noch 20 Kilometer bis zum Gutshaus. Gleich in Fürstenberg nahm ich Platz auf eine Tasse Kräutertee im fröhlichen Bahnhofscafé, für das ich immer dankbar bin, dankbar für das kleine Stück Berlin in Brandenburg.  Auf dem Weg vorbei am KZ Ravensbrück wurde mir klar: Heute fährst du den geraden Weg, nicht den Auf-und-Ab-Weg durch den Wald, durch Himmelpfort an der Draisinenstrecke entlang, sondern die Autostraße, die beständig leicht ansteigt. Langsam mit wenig Kraft, aber kontinuierlich kam ich voran. Genau danach war mir, auch weil das Rad unter den Paktaschen verdächtig schwankte. Ich schaffte es tatsächlich, ohne zu schieben, bis auf den Hügel des alten Gutshofs, der zu DDR-Zeiten als Ferienanlage für ein Berliner Elektrowerk ausgebaut worden war. Japsend, aber stolz.  Und wurde empfangen von Christa, der großen, rothaarigen Hippiefrau, die ich schon von einigen Seminaren kenne. Ach je, was ich schon alles probiert habe…

Zweiter Tag: heute Morgen war ich spät dran. Um so gegen Neun stand ich auf den Stufen des Yogaraums und drehte wieder ab. Lieber ein Gang durch die Wiese und den Wald zum See. Auf dem Bootssteg brach der Himmel auf, und das Wasser wurde vom Wind unter mir her getrieben. Mit meinen zwei Jacken übereinander saß ich geschützt und der Wind konnte mir nichts anhaben. Ich sah alles wie zum ersten Mal, dabei war ich mindestens schon zehn Mal hier. Allein, oder mit den Jungs im Sommer.

Morgen werde ich früh aufstehen! Ich will bei den Aufladeübungen um halb sieben dabei sein. Denn das ist es, was allen den Jahren vom Yoga in meinem täglichen Leben übrig geblieben ist: In einer abgespeckten Version praktiziere ich sie jeden Morgen fünf Minuten. In Meditation werde ich nie reinkommen und bei den Asanas (Körperübungen) kann ich mit meinen zerfressenen Gelenken und zusammengeflickten Knochen nicht mehr mithalten. Denn fast alle um mich herum sind von unserem über siebzig Jahre alten Lehrer selber ausgebildete Yogalehrerinnen und einige Lehrer….(Wird fortgesetzt)

PS: Der Text ist ein kleines Experiment. Ich wollte über meine ereignisreiche Woche berichten, fand aber keinen Ansatz, der mich zum Schreiben gebracht hätte. Da habe einfach meine mit der Hand geschriebenen Tagebuchnotizen genommen, und sie in mein IPhone diktiert. Das ging erstaunlich gut und flott. Aber der Stil ist ein ganz anderer, als der, den ich sonst schreibe.
Die Idee kam mir, als ich sah, wie meine Jungs mit ihrem Telefon umgehen, wenn sie eine Nachricht schicken wollen: Sie tippen nicht mehr, sie quatschen mit dem Gerät. Beschränkt wird der Beitrag erst Mal durch die Technik, denn Apple lässt wohl nur 500 Wörter zu. Sagt mal, ob´s gefällt, dann werd´ ich morgen weiterdiktieren (hab ich schließlich noch gelernt (Punkt und Schluss).

The Good, the Mad and the Ugly

Es ist mitten in der Fastenzeit, aber das türkische Café ist rappelvoll. Die Sonne hat die deutschen Nachbarn ans Licht geholt, schließlich ist Sonntagnachmittag, da geht man Kaffee trinken. Man sieht ihnen an, dass sie den Winter in ihrer Wohnung verbracht haben. Die Sonne scheint auf bleiche schlaffe Haut, zigarettengelbe Hände, ausgewachsene Dauerwellen und ausgewaschene T-Shirts mit Totenkopf. Manche kommen im E-Rollstuhl, manche mit kurzen Turnhosen, manche mit verschossenen altrosa Leggings. Es wird Frühling in Berlin.

Ich finde einen Platz an einem Tisch in der Sonne, neben einem drahtigen schwarzen Mann und seiner etwas helleren Tochter, die an einer Limonade im Tetrapack nuckelt. In einfachem Deutsch erklärt er ihr, warum es wichtig ist, aufs richtige Gymnasium zu gehen. „Da sind gute Menschen“. Dann fängt er an ihr die Immobilienpreise zu erklären. Er ist ein Checker. Das Mädchen holt sein Handy raus, er rechnet weiter: „Für das was du für ein Haus in Brandenburg bekommst, bekommst du in Berlin eine Eigentumswohnung, und die wird immer mehr wert…“ Sie schaut auf sein altes Handy auf deren Rückseite zwei Bilder lockenköpfiger Kinder kleben. „Wann kriegst du endlich ein neues Handy?“, fragt die Kleine. Eine Nachbarin kommt vorbei, lacht und knuddelt das Mädchen. „Was macht Jonas jetzt?, fragt sie. „Ach der geht jetzt zur Bundeswehr.“ „Ja die Bundeswehr gibt ihm einen Halt.“, doziert der Vater. „Besser ist es, eine Ausbildung zu machen. Aber wenn man keine Ausbildung macht, ist die Bundeswehr gut für Männer.“ Aus einem Rohr an der Wand pladdert Wasser auf den Gehweg und das Mädchen verzieht angeekelt sein Gesicht. „Das ist nicht aus der Toilette.“, beruhigt der Vater sie, das schüttet man in Europa nicht auf die Straße, das kommt vom Dach.“, sagte er und schaut mich Bestätigung wünschend an. Ich verfolge das Rohr bis zum ersten Balkon. „Das ist Blumenwasser.“, sage ich beschwichtigend. „Da gießt jemand seine Blumen auf dem Balkon. Es ist Frühling.“ „Ja, Blumenwasser!, lacht mein Tischnachbar befreit und das Gesicht des Mädchens entspannt sich. Ich muss weiter: Milch kaufen bei Jashims Tante Emma Laden. Gestern war Frauentag in Berlin, da waren die Geschäfte zu. Aber das habe ich zu spät gemerkt. Jashim ist immer da. Mit seinem roten, hennagefärbtem Bart und und seien immer etwas müde blickenden Augen, seiner Frau und den drei Kindern, die im Laden rumhängen. Aber heute ist Jashim weg. Stattdessen ist ein junger Mann hinter der Theke. „Jashim hat Urlaub.“, sagt er mir auf meine Frage. „Und wo ist er hin? „Nach Mekka!“ „Auf die Hadsch?“ Der Verkäufer nickt anerkennend. „Darf man das denn im Ramadan?“ „Das wird sogar doppelt belohnt.“, belehrt er mich eifrig. Ich frag nicht nach, worin die Belohnung bestehen soll. Aber das Jashim zum Glauben gefunden hat, merkte ich schon, als er vor zwei Jahren aufhörte, Bier zu verkaufen. Seitdem ist sein Laden ziemlich oft leer. Der Fußballverein, dessen Bilder und Pokale die Wände zierten, hat sich wohl ein neues Vereinslokal gesucht und die Alkis, die immer auf der Zeitungskiste vor dem Laden ihr Bier tranken, sind in die „Gemütliche Ecke“ gegenüber gewechselt. Dafür gibt es jetzt Bio-Milch für 2,40 Euro und natürlich Hafermilch. Da wo die Bierkästen standen, steht jetzt eine Kühltruhe mit Eis am Stiel. Der Sommer kann kommen.

Kleine Rätsel lösen

Natürlich wäre es heute naheliegend, den Untergang unseres Landes wie wir es kennen zu beklagen, die Zustände im allgemeinen und dass in meinem Viertel immer mehr Geschäfte schließen. Außerdem haben wir dieses Jahr die 1,5 Grad-Celsius-Marke (was ist das eigentlich in Fahrenheit?) erreicht und wenn wir das noch ein paar Jahre hintereinander machen, dann können wir uns den Rest sparen und den ganzen Laden dicht machen. Ja, ja.

Aber ich schreibe lieber über was anderes. Etwas, was mir Freude und mich nicht dümmer macht: Ich mag es, wenn sich in meinem Kopf Begriffe verknüpfen. Wenn sich zwischen dem einen enormen Halbwissen, das ich in mehr als 60 Jahren angesammelt habe (nennen wir es mal Erfahrung) und dem anderen enormen Halbwissen aus Büchern, völlig nutzlose Verbindungen ergeben. Als ich vor vielen Jahren eine Freundin in London besuchte, die an einer halbkreisförmigen Straße wohnte, die „Crescent“ hieß ging mir auf einmal wie der Halbmond auf, dass das „Croissant“ deshalb so heißt, weil die französischen Hörnchen einen Halbkreis bilden. Oder wenn ich in Berlin eine Boulette esse und denke: Das waren die Hugenotten in Berlin, die das so genannt haben, wahrscheinlich, während sie Boule spielten. In einigen europäischen Sprachen habe ich ein paar Grundkurse belegt und es freut mich immer, wenn es mir mit ein bisschen Italienisch, Französisch und Spanisch gelingt, eine lateinische Inschrift auf einem Grabstein in irgendeiner Kirche zu enträtseln. Oder mit dem Wissen über die kyrillischen Buchstaben im Russischen in einem griechischen Llidl auf Kreta eine Büchse in die Hand zu nehmen und zu entziffern, dass das, was da in griechischen Buchstaben steht „Crema Galaktika“ heißt und dann mit dem 10% Zeichen und anderen Hinweisen zu verstehen, dass das „Kondensmilch“ ist und dann einen Geistesflash zu kriegen und meinen Freund, der stoisch die H-Milch-Packungen für sein Hippie-Camp in den Wagen läd, mit der Stimme des Erleuchteten anzuhauchen: „Jetzt weiß ich warum Galaxie Galaxie heißt.“ Worauf der schwäbisch trocken und völlig unbeindruckt antwortet: „Wegen der Milchstraße natürlich.“
Wie gesagt: Dieses Wissen ist völlig nutzlos. Weder spreche ich eine der Sprachen einigermaßen ordentlich, noch arbeite ich in einem Bereich, in dem mich das weiter bringt. Es gibt bei Umberto Eco in „Der Name der Rose“ einen Mönch namens Salvatore, der alle Sprachen des damaligen Abendlandes spricht, nur leider alle durcheinander, so dass ihn keiner mehr versteht.
Aber ich brauche keine fremden Sprachen, um in meinem Hirn Verwirrung zu stiften. Mein neuster Spleen ist Sütterlin (reimt sich). In Jüterbog fiel mir im Heimatmuseum eine Anleitung für die alte Schreibschrift in die Hände, die ich noch in der Schule gelernt, aber wieder vergessen hatte. Jetzt schreibe ich mit kratziger Feder die Buchstaben auf, die heute keiner mehr braucht und kann Stunden damit verbringen, die krakeligen Briefe von Schiller zu entziffern, die ich im Netz finde (aber nur, wenn ich eine Übersetzung dabei habe). Natürlich träume ich davon, dass irgendwann der Moment kommt, an dem ich, wie der Gelehrte bei Indiana Jones, plötzlich in einem alten Tempel stehe und der einzige bin, der die alten Schriftzeichen entzifferen kann und die vergessenen Formeln kenne, um die Tore zur Schatzkammer zu öffnen, oder die Welt vor dem Untergang zu retten. Aber meistens bin ich in solchen Situationen viel zu aufgeregt, um eine Entscheidung zu treffen. Als wir in Kapadokien waren und auf dem Rückweg mit unserem Leihwagen hektisch zum Flughafen in Ankara jagten, hatte ich mir genug Türkisch beigebracht um zu wissen, dass „Yol“ der Weg heißt (gibt auch einen Film, der so heißt. Und „Bal“ heißt Honig, auch ein toller Film. Leider gibt es keinen türkischen Film der „Nein“ heißt. Das vergesse ich nämlich immer). Und die türkische Luftfahrtgesellschaft heißt „Türk Hava Yollari“, also müsste Flughafen etwas mit „Hava“ sein, sagte ich meiner Freundin, die am Steuer war. Das blöde war, dass es in Ankara zwei Flughäfen gibt. Und der große heißt natürlich „Atatürk“, (was ich nicht wusste, aber mir hätte denken können. Aber solche Erkenntnisse kommen mir nur dann, wenn ich sie nicht brauche.). Und nur der kleine wird mit Havalimanı, also Flughafen, auf den Autobahnschildern angegeben. Im letzten Moment riss die Frau am Steuer, der meine Rabulistik auf die Nerven ging und die sich lieber an der Größe der Schilder orientierte, das Steuer in Richtung Esimboga um, wo der Atatürk-Flughafen liegt und wir kriegten unseren Flieger in der letzen Minute.
Aber Kreuzworträtsel kann ich mit meinen Fähigkeiten prima ausfüllen.

Katerstimmung

Es hätte so ein schöner Abend sein können: Die Nachbarschaft war zahlreich gekommen, um einen „bal populaire“ zu feiern. Ein Fest, bei dem sich deutsche und französische Stimmen jeden Alters mischten, und bei dem trotz des kühlen Herbstabends mit feurigen Merguez-Wüsten vom Grill, Live-Musik und zwei Bars eine ausgelassene sommerlich-südliche Stimmung aufkam. Mehr als 450 Spenderinnen und Spender aus der Nachbarschaft und ganz Berlin hatten per Crowdfunding 18.000 Euro zusammengetragen, um den Wiederaufbau des hölzerenen Eiffelturms vor dem Centre Français de Berlin zu ermöglichen. Und als Dank für die Unterstützung durften sich alle Spenderinnen und Spender an Bar und Grill einmal gratis bedienen lassen. Mit Einbruch der Dämmerung wurde das neu errichtete Wahrzeichen des Wedding in den französischen Nationalfarben angestrahlt. Die Glühbirnen, mit denen er bis zum Richtkranz an seiner Spitze dicht besetzt war, gaben dem 13 Meter hohen Holzturm ein festliches Aussehen. Fast hätte man meinen können, einen verfrühten Weihnachtsbaum strahlen zu sehen. Es war ja auch eine frohe Botschaft, die es zu feiern galt. Der alte Eiffelturm war morsch geworden, aber die Anwohner wollten auf den Turm als Wahrzeichen und die Wegmarke nicht verzichten. Was der Eiffelturm als Symbol für den Wedding und die Weddinger bedeutet wurde deutlich, als eine Rednerin mit einer Geschichte stürmischen Applaus erntete: „Wenn ich einem Taxifahrer sage: Bringen sie mich ins Centre Français in der Müllerstraße, dann fragt er mich, wo das sein soll. Wenn ich dann sage: Das ist da, wo der Eiffelturm ist, weiß jeder gleich, wo ich hin will.“
Vier Jahre Arbeit stecken in dem Projekt, das erst richtig ins Rollen kam, als der Geschäftsführer des Centre einen Bildungsverein gefunden hatte, die sich das Projekt zutraute und gleichzeitig in der Lage war, mehr als 75 deutsche und französische Jugendliche an dem Wiederaufbau zu beteiligen. Ein echter Schreinermeister trat auf das Podium, sprach von imprägniertem Eschenholz und davon, wie stolz er sei, und wie stolz die Schülerinnen und Schüler, wenn sie sich nach zwei Wochen in der Werkstatt trauten, selbstständig mit Fräse und Bohrer umzugehen.

Und dann platzte Olaf in die Stimmung. Drei Jahre hatte der Kanzler praktisch nichts gesagt, manchmal von der Zeitenwende geredet, aber sonst den Mund gehalten. Aber jetzt wurde er redselig. Wie ein Vater, der mit seinem ungezogenen Sohn lange Geduld gehabt hat. Meine Stimmung war im Eimer. Zum Glück hatte ich auch für das Projekt gespendet und deshalb einen Gutschein für die Bar, die auf der Empore im Foyer des 60er-Jahre Kinos im Hinterhof des Centre eingerichtet war. Die französischen Barfrauen sahen mein Gesicht und wussten, wie mir war. Denn mit plötzlichen Regierungsumbildungen hat man in Frankreich Erfahrung. Sie empfahlen mir ein Picon-Biere, eine Mischung aus einem bitteren Orangenlikör mit einem kalten Bier. Es half. Zumindest um beschwingt nach Hause zu gehen und einen fröhlichen Beitrag über das Fest für unser Kiezmagazin zu schreiben. Dann schaute ich bis zwei Uhr nachts abwechselnd in die Gesichter von Olaf, Donald, Kamela und Christian. Heute Morgen hatte ich Kopfschmerzen.

Was sonst noch so passiert ist

Vorgestern wars kalt, heute ist es nicht mehr so kalt. Das ist etwas, was ich mit Gewissheit sagen kann. Vorgestern war es sogar sehr kalt. Da saß ich mit meinen Jungs zum ersten Mal im Berliner Olympiastadion und wir schauten uns eine Trauerfeier an. Danach gab es ein Fußballspiel. Und der Westwind blies durch das Marathontor. Warum haben die Nazis da eine Lücke in dem schönen Oval gelassen? Wo doch in Berlin immer Westwind ist? Oder meistens. Auch im Winter. Wenn nicht gerade arktische Winde vom Nordpol kommen. Weil ihnen die Menschen schon immer egal waren. 42 000 saßen im Olympiastadion und froren -wegen den Nazis. Und noch ein paar 10 000 froren am Brandenburger Tor, auch wegen der Nazis. Die auf der Straße haben protestiert, die im Stadion haben geweint. Gestandene Männer schluchzten, weil ihr Präsi gestorben war. Einfach so, mit 43. Bernstein hieß er, aber nicht Leonhard sondern Kay. Deswegen wurde auch nicht gegeigt sondern gesungen: „Nur nach Hause gehen wir nicht“ auf die Melodie von „Sailing“. Rod Steward hätts auch nicht besser hingekriegt. Und kalt wars, sagte ich schon, zugig, aber warm ums Herz wurde es einem, nicht nur weil meine Jungs so begeistert waren, von allem, was sie sahen, sondern wegen der Leute. Leute, die man sonst nur schweigend und geduckt in der U-Bahn trifft, sangen, aufrecht. Und statt Kerzen gab es ein einsames Bengalo. Stilvoll. Lauter sympathische Leute da, sogar die Gegner aus Düsseldorf haben mitgeheult. Hätten auch alle am Brandenburger Tor stehen können, standen aber in der Ostkurve. Und dann ist das Spiel 2:2 ausgegangen. Das war fair. Fair ist ein schönes Wort. Hört man selten in letzter Zeit. Fair ist, wenn man sich streitet, und dabei weiß, dass der andere anders ist, aber auch Respekt verdient. Und wenn man sich an die Regeln hält.
Und deshalb sind auch alle ordentlich zurück gegangen aus dem Stadion in die S-Bahn. Und die S-Bahn hatte Sonderzüge, damit alle schnell weg kamen. Und keiner hat gerempelt und mein Jüngster hat auf dem Weg zur Bahn zwischen all den Bratwurstständen noch einen Schalverkäufer gesehen. Und dann wollte er unbedingt einen Schal. Keinen blau-weißen von Hertha, sondern einen rot-weißen vom FC Bayern München. Da habe ich mich kurz gefragt, von wem er das hat. Aber seine Mutter, die natürlich auch mitgekommen war, obwohl ich gesagt hatte, dass Fussball Männersache sei, und die an alles gedacht hatte, nur nicht an ein Taschntuch für ihre laufende Nase, hat ein gutes Wort für ihn eingelegt und gesagt, dass das nur so eine Phase sei. Und dann hat er hat ihn gekriegt, den Schal, hat ihn aber gleich weggesteckt, weil das wollten wir dann doch nicht riskieren, in einem Zug voller Hertha-Fans einen Bayern-Schal anziehen. Man weiß ja nie, wie die so drauf sind.