Fluch der Fotos

„Mach ihr doch ein Fotoalbum, so eins noch mit Ecken. Das kannst du doch so gut.“, säuselte die Mutter meiner großen Tochter, als ich sie fragte, was wir dem Kind denn zum 30. Geburtstag schenken könnten. Das war natürlich ein vergiftetes Lob. Denn sie hatte nie geschafft, die Fotos von unserer Großen in eine Form zu bringen. Und das schlechte Gewissen wurde an mich weitergereicht. Ja, ich mache gerne für Menschen, die ich mag kleine Alben mit Bild und Text. Und weil es bei meinen Eltern nur ein Album gab, das mit dem Hochzeitsfoto anfing und irgendwann abbrach, als wir zur Kommunion gegangen waren, habe ich mir, bevor ich zu Hause auszog, zu meiner Jugend ein eigenes Album gemacht. Aus dem Schuhkarton, in dem meine Eltern die restlichen Bilder sammelten, brachte ich sie heimlich zum Fotogeschäft. Dort wurden sie abfotografiert, ein neues Negativ erstellt und ein neuer Abzug. So ging das damals. Meine Eltern haben das nicht verstanden. Aber ich wollte meine eigene Geschichte sehen und mitnehmen. Und eigentlich sollten meine Kinder es besser haben. Fotografiert habe ich sie wie ein Wilder. Aber irgendwie war nie Zeit dafür, die Bilder zu sortieren, sich zu entscheiden, die besten zusammenzustellen. Wenn man selber Kinder hat, versteht man seine Eltern besser. Und deshalb steht da der große Umzugskarton im Keller: Bilder 1990-2010. Bisher hatte ich mich nicht daran getraut. Eigentlich wollte ich damit bis zur Rente warten – jetzt musste ich.

Es ist nicht einfach, einen Blick in seine eigene Vergangenheit und die seiner Kinder zu werfen. Immer, wenn ich es versuche, überfällt mich der Gedanke: Verdammt, was haben wir damals eigentlich gewollt? Und: Meine Güte, was haben wir alles veranstaltet? Was haben wir alles versucht? Und: Waren wir glücklich, in dem Moment, als wir auf den Auslöser drückten oder in die Kamera grinsten? In den bunten Papiertüten aus Fotogeschäften, Drogeriemärkten mit den vorne eingesteckten braunen Negativen und ein paar Briefen von Freunden, die mir Bilder zuschickten, in Fotolisten von Kindergärtnerinnen und Elternvertretern, in denen man Kreuze machen musste, um Abzüge von dem Ausflug in den Zoo oder der Klassenfahrt zu bekommen, stecken die offizielle Geschichte. Das was wir sein wollten, was wir zeigen wollten. Wie wir uns erinnern wollten. Von dem Rest gibt es keine Bilder. In den entscheidenden Momenten im Leben macht keiner ein Foto. Und Gedanken und Gefühle lassen sich nicht ablichten. Und natürlich sahen wir alle großartig aus, damals – und die Kinder waren wunderhübsch und süß. Tolle Freunde hatten wir und tolle Feste. Warum haben wir das damals nicht gemerkt? Es bleibt beim Durchblättern der Fototaschen immer ein schales Gefühl. Deswegen hatte ich die Kiste nur bei Umzügen angefasst.

Und dann kommt noch das Praktische. Bis 2005 war alles analog. Aber auch da gab es zwei Welten. Bild und Dia. Und weil ich mit meiner kleinen Minox immer nur Dias machte, gibt es davon auch noch eine extra Kiste. Und nach 2005 gibt es keine Kiste mehr. Dafür liegen drei alte Laptops in meinem Schrank und ein paar USB-Sticks und gebrannte Foto-CDs und eine komplette Festplatte. Was haben wir eigentlich die letzten 20 Jahre gemacht, außer uns gegenseitig zu fotografieren? Auf meinem Handy sind 2000 Bilder – und es ist erst drei Jahre alt. Und es gibt ja noch die Speicherkarte meiner Kamera. Und nein: Ich bin nicht in der Cloud und nicht bei Insta. Trotzdem: Einige Bilder fehlen. Denn irgendwann war mein Mädchen natürlich weg, in ihrer eigenen Welt, machte ihre eigenen Bilder. Manchmal hat sie mir ein paar aus dem Urlaub per Mail geschickt. Und einige Bilder, an die ich mich genau erinnerte, fanden sich nicht mehr in den gefledderten Tüten. Vielleicht an Freunde verschickt und dann doch nicht mehr nachbestellt? Oder gab es einen fotografischen Versorgungsausgleich als wir uns getrennt haben? Es ist alles so lange her.

Ich habe eine Woche gebraucht, bis ich das Album zusammen hatte. Nachmittage hatte ich an den Fotostationen in den Drogeriemärkten verbracht – so macht man das heute, wenn es schnell gehen soll – Nächte mit den ausgebreiteten Fotos auf dem Wohnzimmerfußboden. Es gab ein konspiratives Treffen in einer Pizzeria in Moabit mit der Mutter und unserem damaligen dänischen Au-pair-Mädchen, die zufällig in Berlin war, bei dem unbeschriftete Umschläge den Besitzer wechselten. Wie sollte das alles zusammen passen? Wie die Lücken verdecken. Sollte ich etwas dazu schreiben? Darf ich als Vater das Leben meiner Kinder kommentieren? Ein Tag vor dem Fest war das Werk vollendet und verpackt. Ich saß auf dem Sofa und versuchte aus drei alten Cannon-Kameras zwei funktionierende zu machen. Meine Zwillinge fahren auf Klassenfahrt. Und wir Eltern haben beschlossen, dass die Handys zu Hause bleiben. „Aber wie sollen unsere Kinder denn dann Erinnerungsfotos machen?“, fragte eine besorgte Mutter. „Kein Problem!“, meldete ich mich zu Wort. „Wir alle haben doch in den Schubladen alte Digitalkameras. Die können wir wieder flott machen und den Kindern mitgeben.“ Jetzt hatte ich den Salat. Bei einer fehlt das Ladekabel, bei der anderen die Speicherkarte. Das Handy klingelt und die Tochtermutter ist dran: „Ich hab noch ein Bild vom Abiball gefunden. Da sah sie so toll aus.“ Es folgte eine genervte Diskussion darüber, was die wichtigsten Stationen im Leben unserer Tochter waren und wer für das Story-Telling und Framing zuständig sei. Wir einigten uns darauf, dass das Abi- Bild nachträglich in das Album eingelegt, aber nicht eingeklebt werden könne, um das Gesamtkunstwerk nicht zu zerstören. So verhandeln zwei Juristen.

Das Geburtstagsfest war wunderschön. Bei Sonnenschein im Hasenheide-Park. Alle Freunde waren da, alles war sehr berlinerisch, ein wenig improvisiert und locker und cool und meine Tochter war glücklich und die Königin des Tages. Sie hatte eine moderne Polaroid-Kamera mitgebracht, damit ihre Gäste sich gegenseitig fotografieren konnten. Ich hatte natürlich ungefragt auch meine Kamera mit dem alten DDR-Objektiv dabei. Es sind unvergessliche Bilder geworden.

Die Wespe

Es ist schön, Besuch zu haben. Auf der Terrasse des ehemaligen Terrassencafés Minsk in Potsdam (jetzt: Kunsthaus DAS MINSK) bin ich der einzige Mensch, der sich nach dem Regen hinaus getraut hat. Und sie ist die einzige Wespe hier. Wir beide können es gut miteinander aushalten. Aber während ich nichts anderes zu tun habe, als an einem Samstagnachmittag meinen Americano (wenn Erich das wüsste) mit Milch zu trinken und den Blick auf den goldenen Kuppeln der Stadt ruhen zu lassen, ist sie eifrig. Die leere Tasse und das halbleere Milchkännchen werden unablässig untersucht. Zwischendrin werden die Fühler geputzt und wieder ein neuer Anlauf zur Nahrungssuche gesucht. Vorsichtig balanciert sie auf dem Rand der Kanne, ohne vor Gier hinein zu fallen. Ein kluges Tier. Anscheinend findet sie dort genug, um sich mit Eiweiß zu versorgen, das sie zu Hause gleich an die Larven verfüttern kann. Schwer schleppt sie am dicken Leib hinter der Wespentallie. Ob sie genug Luft kriegt? Und ist das fair? Dass sie sich so abrackern muss, um ein Bisschen von dem zu bekommen, was ich mir gerade für ein bisschen Kleingeld von der Theke geholt habe? Na ja, Kleingeld: 3,50 Euro. Im Prospekt zur Renovierung des Cafés war auf einer Speisekarte aus den 1970ern zu lesen, dass hier ein Kännchen Kaffee – es gab nur Kännchen – mit Milch und Zucker 1,90 M kostete. Offizieller Wechselkurs zur D-Mark war 2:1; dann wieder 2:1 von D-Mark in Euro. Also habe ich gerade 14 M für eine Tasse Kaffee gezahlt. Dafür war es echter Bohnenkaffee und kein Mokka Fix, dafür ist die Terrasse frisch renoviert, ich muss nicht mehr auf den Kellner warten, der mich „platziert“ und über mir, am Brauhausberg, in der dunkelroten Festung sitzt nicht mehr die Kreisleitung der SED, nicht mehr der Brandenburgische Landtag sondern Hasso Plattner, einer der Gründer von SAP, der wertvollsten Software-Firma Europas, der draus jetzt eine Hochschule für Wirtschaft und Recht machen will. Also für das Recht der Wirtschaft, würde ich mal vermuten. Das Café gehört ihm jetzt auch, oder seiner Stiftung. Dafür darf ich mir jetzt hier seine Sammlung von DDR-Kunst anschauen. Ist doch ein guter Deal, oder? Samstagsnachmittagsgedanken.

Die Wespe ist immer noch da. Anscheinend hat sie noch nicht genug zusammen bekommen für ihre Königin und deren Brut. Wer hängt eigentlich noch von dem ab, was ich übrig lasse? Wer arbeitet für mich, damit ich hier in Ruhe in die Luft schauen kann? Das Treppenhaus muss ich nicht putzen am Wochenende, das erledigt immer eine junge Frau mit Kopfhörern auf den Ohren, von der ich vermute, dass sie Ukrainerin ist. Die Wiese hinter dem Haus muss ich auch nicht mähen, und auch nicht das Laub harken, obwohl mir das mal gut täte. Das macht drei Mal im Jahr ein Trupp Gartenarbeiter, die sich ihre Stullen selber mitbringen. Mein Moped repariert eine Werkstatt in Neukölln… Und wer kümmert sich um meine Brut? Ich gerade nicht.
Oh Gott, ich bin eine überflüssige Drohne ohne Stachel. Bei den Wespen sterben diese trägen Kerle, die von den Arbeiterinnen versorgt werden, im Herbst, wenn Königin ausfliegt, um ein neues Nest zu gründen. Ich schaue auf die Eifrige, die immer noch am Milchschaum kratzt. Gottseidank, sie will Eiweiß. Das sammeln Wespen nur im Sommer (so weiß ich jetzt auch, welche Jahreszeit sich gerade unter der Dauerregendecke verbirgt). Im Herbst gehen sie dann auf Obst und Süßes, um selber wieder Energie zu sammeln. Ein paar Monate habe ich also noch. Wenn die Wespen an meinen Pflaumenkuchen gehen, wird es gefährlich für mich.

Mehr als Marx und Museum

Man muss nicht mutig sein, um nach Chemnitz zu fahren. Die diesjährige europäische Kulturhauptstadt hat sich schick gemacht, empfängt ihre Besucher mit freundlichem Gleichmut und es gibt an einem sonnigen Wochenende einiges zu sehen. Aber besser ist es schon, mit einem Freund dahin zu fahren, mit dem ich schon seit 35 Jahren gemeinsam per Bahn und Rad die Länder erkunde, die früher für uns hinter dem eisernen Vorhang lagen. Und noch besser ist es, hier einen Freund zu besuchen, der das zu Fuß, per Bahn und per Anhalter gemacht hat, seit zwei Jahren in Chemnitz wohnt und uns die weniger bekannten Ecken der Stadt zeigen kann.

Und so treffen wir uns mit Andreas, den ich über seinen Blog https://andreas-moser.blog mit einzigartigen Reiseberichten aus aller Welt kennengelernt habe, nicht am bekannten Karl-Marx-Kopf, sondern eine Ecke weiter am Stadtbad, einem Architektur- Juwel aus den 1920er-Jahren. Und weiter geht‘s, die leeren, in der Sonne glühenden sozialistischen Prachtstraßen und den hoch aufragenden Turm des ehemaligen Hotels „Kongress“ (ich habe mir natürlich einen kleinen Reiseführer für Karl-Marx-Stadt vom VEB Tourist Leipzig besorgt) den Rücken kehrend in den Schlossteichpark, in dem die holden Schwäne auf dem heilignüchternen Wasser schwimmen. Ganz so romantisch wie bei Hölderlin ist es zwar nicht, aber schon sehr zauberhaft, auch wenn die riesigen Schwäne aus Plaste sind und als Verkleidung für gemächlich dahingleitende Tretboote dienen. Einen größeren Kontrast zu der fünf Minuten entfernten 60er-Jahre-Beton-Innenstadt kann ich mir nicht denken. Aber es wird noch verwunschener. Über eine Brücke aus Stein geht es hinauf in den Küchwaldpark und gleich stehen wir vor einer gotischen Kirche, einem ehemaligen Kloster (in dem Relikte sozialistischer Stadtplanung unter den leidenden Augen der größten Ansammlung gotischer Holzmadonnen präsentiert werden, die ich je gesehen habe), einen lebhaften Biergarten (sie werden platziert) und wenn wir weiter gegangen wären, hätten wir noch eine sowjetische Mondrakete gesehen. Bergab gehts vorbei an Gaststätten in Fachwerkhäusern, die auch in Tübingen hätten stehen könnten. Ach Hölderlin.

So viel zu dem Motto der Kulturhauptstadt Chemnitz: „C the unseen“. Vom Überraschenden zum Erwartbaren ist es auch nicht weit. Vor dem Karl Marx Kopf, dem bekannten Wahrzeichen der Stadt findet eine Tanzperformance „Odyssee in C“ statt. Hunderte versammeln sich davor. Ich kann mit Tanz nicht viel anfangen und es ist heiß. Aber wenn ich die Kamera auf Schwarz-Weiß schalte, sieht es aus wie bei einer 1. Mai-Manifestation. Die Stadt wird zur Kulisse meiner Erinnerung an unsere vergangenen Reisen. Aber zum Glück ist die Wirklichkeit heute bunter.

Übernachtet haben wir standesgemäß in einem Industriedenkmal neben der sozialistischen Flaniermeile „Rosengarten“. Ein ehemaliges Umspannwerk der Straßenbahn im allerbesten weißen Bauhausstil ist zur Jugendherberge No 1 umgebaut worden. Die schöne Terasse nach hintenraus ist normalerweise schon um 10 Uhr abends wegen der lärmempfindlichen Nachbarn geschlossen. Aber in einer kulturhauptstädtischen Sommernacht wie heute drückt der Junge an der Pforte ein Auge zu. An Nachtruhe ist sowieso nicht zu denken. In einem heruntergekommen Lagerhaus gleich nebenan wird Heavy-Metal-Live-Musik gedröhnt, von der ich bezweifele, dass sie zum offiziellen Kulturprogramm gehört. Es hört sich eher so an, als würden die Uran-Bergmänner der SDAG Wismut, deren Porträts wir uns in der sehr sehenswerten Ausstellung „Sonnensucher“ in Zwickau auch noch angeschaut haben, mit ihren Presslufthämmern am Mischpult stehen.

Gemälde von Werner Pätzold, Wismut GmbH

Chemnitz ist nicht Kassel. Und eine Kulturhauptstadt ist keine documenta. Aber wie Kassel haben Chemnitz und Zwickau meine Neugier geweckt und mich zum Staunen gebracht. Wir haben zum Glück noch die Ausstellung zur europäischen realistischen Malerei „European Realities“ im Museum Gunzenhauser angeschaut, die gut aufbereitet und in ihrer Vielfalt wirklich einmalig ist. Nur die Gemälde aus Russland und der Sowjetunion fehlen. Den Rest der zahlreichen reizvollen Ausstellungen zur Industriekultur in Chemnitz und Umgebung haben wir schon nicht mehr geschafft. Aber auch die moderne Architektur der Stadt hat ihre eigene Schönheit. Auf jeden Fall an einem sonnigen Sommerwochenende. Im Winter war ich auch schon hier, beruflich, vor vielen Jahren. Da war’s ungemütlich. Ums mit Hölderlin zu sagen: „Die Mauern stehn sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen.“

Zum Schluss hat uns Andreas noch in den schönsten Biergarten der Stadt eingeladen, der ausnahmsweise an diesem warmen Sommerabend mal nicht um 17 Uhr die Theke dicht gemacht hat und dessen Name ich natürlich nicht verrate. Chemnitz soll ja mein Geheimtipp bleiben.

Auferstanden aus Ruinen?

Das kommt dabei heraus, wenn man das Wandgemälde „Die vom Menschen beherrschten Kräfte der Natur und Technik“ (Maljolikamalerei auf Steinzeugfliesen) von Josep Renau in Halle-Neustadt mit dem Panorama-Modus des iPhone 8 aufnimmt, ohne die Technik zu beherrschen.

Die Messe ist gelesen, der Vortrag ist beendet. Höflicher Applaus und ein paar Nachfragen verebben schnell in dem mit dunklem Holz vertäfelten Prachtsaal des alten halleschen Stadthauses. Die Arbeit ist getan. Jetzt kommt das Vergnügen. Bei belegten Brötchen und Filterkaffee gesellt sich der Veranstalter zu mir, ein gemütlicher Mann mit Bauch und Bart, dem es noch etwas peinlich ist, dass er auf der Podiumsdiskussion immer meinen Namen verdreht hat. Ob ich noch etwas Zeit mitgebracht hätte, mir die Stadt anzuschauen, fragt er gönnerhaft und offensichtlich bereit, mir ein paar geheime Tipps zu geben. Immerhin bin ich Besuch aus der Hauptstadt und ich habe etwas gut bei ihm. Die Altstadt von Halle an der Saale hätte ja auch einiges zu bieten: Kirchen, das Händel-Denkmal und die Frankeschen Stiftungen. Aber das interessiert mich nicht. Ich schaue etwas verlegen zu Boden und traue mich dann doch, meinen Wunsch auszusprechen: „Ich würde mir gerne sozialistische Wandgemälde anschauen, in Halle-Neustadt.“ Mein Gastgeber reagiert wie ein professioneller Concierge im Hotel, den ein Gast mal wieder nach Adressen im schmuddeligen Rotlichtviertel seiner Stadt gefragt hat. Und ich glaube, es wäre ihm lieber gewesen, hätte ich ihn einfach nach dem Bordell gefragt, für das es in Halle gleich am Hauptbahnhof auch ein Wandbild gibt. Sein Gesicht wird zu einer freundlichen Maske, der man die peinliche Berührtheit, das Fremdschämen und die Enttäuschung nicht ansehen soll. „Sie meinen so >Vorwärts mit der Arbeiterklasse-Bilder<?“, flüstert er tonlos. „Ja“, antworte ich. „Ich mag sowas.“ und halte ihm den Kuli und den Block hin, den er mir im Namen der Stadt Halle gerade dankbar überreicht hat. Ergeben malt er mir eine Skizze und ein paar Straßenbahnhaltestellen auf. Und um ganz sicher zu gehen, dass ich nicht doch eine Frau für den Abend gesucht habe, ruft er die Quartiersmanagerin des Plattenbauviertels herbei. Die hat nicht viel Zeit, ich habe keine Lust auf Begleitung. Entdeckungen mache ich lieber selber und den Stadtführer, den sie mir empfiehlt, den einzigen, der das Neubaugebiet überhaupt behandelt, habe ich mir schon am Bahnhof von Halle gekauft. Wir tauschen Visitenkarten aus. Ich habe noch zwei Stunden Zeit.

Was ich in der kurzen Zeit sehe, ist eine für den frühen Nachmittag sehr leere Stadt. In der Altstadt war Markttag und die Haltestellen der Straßenbahnen waren voll. Hier sehe ich außer ein paar Grauhaarigen auf der Einkaufsmeile noch ein paar Frauen mit Kopftuch über einen leeren Platz laufen. Das war’s. Vielleicht sind alle in dem neuen Einkaufszentrum, das nach der „Wende“ errichtet wurde. Aber da gehe ich nicht rein. Das kann ich auch in Berlin haben.
Aber um ehrlich zu sein: Ich hatte mir „Ha-Neu“ noch grauer und noch leerer vorgestellt. So grau wie Berlin-Hellersdorf oder wie Hoyerswerda. 1993 hatte ich auf einer Russlandreise einen jungen Fotografen aus Halle getroffen, der gerade eine Ausstellung über die Aufbauzeit der Neustadt mit Fotos seines Vaters organisierte. Die waren alle schwarz-weiß und nach streng geometrischen Mustern fotografiert. Da war nichts Menschliches. Nichts Menschliches haben, trotz der vielen Gesichter, die man beim Näherkommen erkennt, auch die riesigen sozialistischen Wandbilder des Ensembles „Die Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift.“, die ich endlich am Ordnungsamt von Halle-Neustadt in den Himmel streben sehe. Aber immerhin: Es strahlt einen Optimismus aus, der uns heute nur noch zynisch gebrochen möglich ist. Manchmal auch als Real-Satire, wenn ich an unser neues Raumfahrtministerium denke. In den „Kosmos“ strebte auch der Sozialismus. Raketen zu den Sternen zu schießen war wohl schon damals einfacher als bröckelnde Brücken zu reparieren – und es ließ die realsozialistische Tristesse vergessen.
Davon ist noch genug übrig in Ha-Neu. Aber es tut sich was: Von den heruntergekommen fünf „Scheibenhochhäusern“ an der Fußgängerzone strahlt schon wieder eins weißer als es als Neubau gestrahlt haben wird. Ein Leuchtturm gegen den Verfall. Das nächste ist in Arbeit. Sichtbar sind auch viele bunte Ecken, an denen mit Kunst versucht wird, gegen das Einerlei anzukämpfen. Die Quartiersmanagerin war sehr stolz darauf.

Zurück laufe ich durch das „Bildungsviertel“, mit seinen kleinen, würfelförmigen Pavilions . Endlich menschliches Maß nach all den 12-Geschossern. Das gefällt mir, obwohl viele davon verfallen. Es ist noch die Idee erkennbar, alles was eine Familie braucht, gleich neben dem Wohnblock zu bauen: Kindergarten, Schule, Ärztehaus, Schwimmbad. Und alles fast autofrei. Der Verkehr lief auf den großen Magistrale mittendurch. Dort, an der Straßenbahnhaltestelle, treffe ich auch wieder auf Leben. Wie im Wedding nachmittags um fünf sind hier die Jugendlichen in den Bahnen. Und es sind die gleichen Gesichter wie in Berlin. Die Neustadt ist mindestens so multikulti wie der Wedding. Und wer nicht in der Straßenbahn ist, der ist im Schwimmbad. Und keinem davon wird auffallen, dass die Schwimmhalle im klassischen Bauhausstil errichtet wurde. Aber wie in Berlin haben die Kids hier rausgekriegt, wie man Elektroroller knackt.

Catwalk Wedding

Wenn es Frühling wird im Wedding, wenn es endlich wärmer wird, dann blüht das Leben auf den Straßen. Die Menschen zeigen sich wieder und zeigen wieder etwas von sich. Und jedem Beobachter, der sich etwas Zeit nimmt und die Szene von einem ruhigen Kaffeehausstuhl beobachtet, wird klar: Was man im Wedding zu sehen bekommt, das ist nicht das, was es woanders gibt. Diese Styles, diese Moves und diese Mode, das ist einmalig. Was die Influencer in den Sozialen Medien verkaufen wollen, lässt die Menschen hier unbeeindruckt. Neo-Hippie-Style, Strickmoden, Skinny-Jeans. Das ist nichts für das Sehen und Gesehenwerden auf den Boulevards des Berliner Nordens. Hier trägt man mit Stolz, was man anderswo noch nicht gesehen hat oder nicht mehr sehen will.Und doch erkennt man auch in diesem Frühjahr deutlich neue Trends, die das Straßenbild prägen.

Ganz klar: Der Frühling bringt das Ende des Schwarze-Daunenjacken-Diktats auf den Straßen. Aber die neue Saison bringt leider auch nicht die Rückkehr der Farbe und der Muster, der Karos oder der Streifen (außer den allgegenwärtigen drei von Adidas). Auch der farbenfrohe Ethno-Style ist selten geworden und nur die Essensfahrer von „flink“ mit ihren schwarzen oder farbigen Turbanen verbreiten manchmal noch exotisches Flair. Der Weddinger Dresscode für diesen Frühling ist eine Wiederkehr der Einfarbigkeit und der gedeckten Töne: Hosen und Jacken meist in Schwarz, manchmal in Leder, in Beige oder in Indigo. Wenige wagen grün. Es sind weniger offen getragenen Marken-Logos zu erkennen. Kaum Röcke, Bodenlanges nur in der islamisch geprägten Mode in Hellbraun und Hellgrau. Kinderwagen und Rollatoren bleiben ein beliebtes Accessoire, weiße Plastiktüten mit Obst und Gemüse sind weiter ein Muss und ein Zeichen der Street-Credibility. Die Schuhe eher sportlich nicht nur bei den jungen Aficionados, weiße Sneaker sind auf dem Rückzug, überhaupt ist Weiß weniger zu sehen. Ausgedient hat die Bierflasche als Zeichen der Ortsverbundenheit und des Savoir-vivre. Nur in der Nähe des Leopodplatzes und um den Gesundbrunnen sieht man sie noch häufiger. Dort auch öfter individuelle Style-Kombinationen mit Decken, Capes, Plaids und halben Schlafsäcken, die gekonnt um die Schultern drapiert oder als Schärpe getragen werden. Die Mutigen tragen schon leichte Pullover, manchmal ein vorsichtiges Rosa. Es ist noch wenig Haut zu sehen, und wenn, dann unfreiwillig im üppigen Hüftbereich der Damen Herren. Der Wedding ist ein Vorreiter der natürlichen Body Positivity. Auf dem Kopf maximal Caps ohne Logo, Kopftücher und Hoodies, kaum Hüte, auch nicht bei den Damen. Verfilzte Haare und Dreadlocks sind auch nicht mehr so angesagt. Mann trägt eher kurzhaarig. Und bei den Kindern abrasierten Seiten, fast irokesig. Auch sonst hinterlassen die Friseure und Barbershops, die es an jeder Straßenecke gibt viel Bleibendes auf den Köpfen der Passanten. Bei Vielen sieht es dort aber auch lässig improvisiert oder selbstgemacht aus. Dazu werden blasierte bis grimmige Großstadtgesicher getragen, selten glattrasiert, oft mit dem überforderten Heroine-Chic, kombiniert mit einem langsamen, fast flaneurhaften Gang, manchmal trippelnd, manchmal watschelnd. Goldkettchen sind nicht mehr so offensiv sichtbar. Überhaupt wenig Schmuck im Straßenbild – anders als die Vielzahl der Juweliere und Goldhändler in den großen Straßen vermuten lassen würden. Auch keine protzigen Uhren. Das Smartphone hat alle anderen Statussymbole abgelöst. Schnurrbärte kommen wieder. Manche tragen sie aus Tradition, manche als ersten Versuch nach dem Bartflaum, wie in den 1970ern. Bei den Frauen gleichen Alters viel „Clean Girl“-Ästhetik mit starkem Make Up, betonten Lippen, ohne Falten und Unreinheiten. Sonnenbrillen als Macho Accessoire tauchen eher am Abend auf oder werden durch das Seitenfenster überschwerer PKW sichtbar. Auch wieder sichtbar: Hosen aus lockerem Baumwolljersey um nicht zu sagen: Jogginghosen, Sweatpants, die Hosen, die man trägt, wenn man sich, wie Karl Lagerfeld sagte, selber aufgegeben hat.

Ich blicke an mir selbst herab: Jeans, kariertes Hemd, zerknautschte grüne Schimanski-Jacke. Klassische Herrenmode, würde ich sagen, zumindest Anfang der 1990er. „Ich beobachte, dass viele an irgendeinem Punkt in ihrem Leben aufgeben.“, schreibt die Modejournalistin Diana Weis im Tagesspiegel. „Weil sie sowieso immer die gleichen Sachen kaufen, nämlich welche, die sie auf dem Höhepunkt ihrer Attraktivität anhatten.“ Mir scheint, dieser Höhepunkt hält bei mir jetzt schon über dreißig Jahre an.

Stayn alive

Nein, Alkohol ist auch keine Lösung, obwohl das viele hier versuchen. Und nach der Sylvesternacht nüchtern durch mein Viertel zu gehen, ist an diesen unwirklichen Tagen zwischen den Jahren wirklich nicht einfach. Geflüchtet unter ein Brandenburger Flachdach komme ich am Neujahrstag zurück und mache meine jährliche Runde um den Block. Aber ich weiß immer noch nicht, ob das hier noch lebt, oder ob ich in einer untoten Stadt gelandet bin. Freunde waren im vergangenen Jahr in den USA und erzählten von Stadtzentren, in denen alle Läden geschlossen waren und sich auf den Straßen nur noch Menschen bewegten, die wie Zombies aussahen. Ich sach mal: Den Flug hätten sie sich sparen können. Hätten sie sich mal in die BVG gesetzt und wären mich besuchen gekommen. Allerdings: Weit wären sie damit nicht gekommen. Denn seit Sylvester fährt die Straßenbahn hier nicht mehr. Ausgestorben und leer sind die Haltestellen, verstummt die ratternden Schienen, ein großer Krater mitten auf der Strecke. Keine Kugelbombe wars, sondern ein 100 Jahre altes gusseisernes Wasserrohr ist gleich nach dem Feuerwerk geplatzt. Zu viel Vibration. Hätte längst ausgetauscht werden sollen, aber das hätte ja bedeutet, dass man die Straßenbahn hätte stilllegen müssen. Jetzt kann man hier Geisterbahn fahren, oder schnallt sich besser gleich die Rollschuhe unter.

Menschen, die unter einem Haufen Decken schlafen, und bei denen man nicht weiß, ob darunter noch ein lebender Körper liegt, gibt es hier auch in vielen Hauseingängen. So viele, dass ich sie schon nicht mehr wahrnehme. Einem, der immer würdevoll aufrecht vor einem neu renovierten leeren Ladengeschäft sitzt und aussieht wie eine Mischung zwischen Weihnachtsmann und indischem Guru hab ich gestern ein paar Münzen in die Filzpantoffel gesteckt, die er vor seinem Lager aufgestellt hat.

Bleiben die Zombie-Läden. Es werden immer mehr Läden in den Haupt- und Nebenstraßen, bei denen ich mich frage: Lebt da noch was? Machen die noch mal auf? Wird das noch was oder kommt da noch was Neues? Laden zu, Auslage leer und nicht immer ein Schild, das einem sagt was hier mal war, ob hier was kommt, oder ob einfach nur bis zum Ende der Weihnachtsferien zu ist. Der Uhrmacher, der Optiker und der Musikalienladen sind schon lange weg. Hier sind jetzt ein Shisha-Shop, eine Obdachlosenberatung oder auch einfach das Nichts eingezogen.

Und dann gibt es noch die Geschäfte, von denen man denkt, die sind doch bestimmt tot, da ist doch alles vorbei. Und dann brennt da doch noch ein kleines Licht, dann geht es doch irgendwie weiter. Die Fischerpinte am Plötzensee, die noch so lange leben darf, bis der Besitzer stirbt, der Angelladen, der gleich neben den leeren Schaufenstern seines alten Geschäfts ein neues Geschäft aufgemacht hat, der Buchladen, den die beiden Besitzer schon mehr als 40 Jahre führen und so lange offen halten wollen, bis sie umfallen. Und der windschiefe Kiosk von Herrn Nguyen, der die Nachbarschaft mit Schnaps und guten Worten versorgt. Und natürlich der Karstadt. Dieser riesige leere Betonklotz, der mit seinen zerrissenen und im Wind wehenden grauen Sicherungsnetzen an der Fassade schon von alleine aussieht wie eine Kulisse aus einem Endzeitfilm. Am Anfang des Jahres soll hier ein LIDL einziehen. Wenigstens ins Erdgeschoss. Na, ist doch was.

Ja und noch schöner ist es im neuen Jahr was wirklich Neues zu entdecken. Gleich neben dem nassen Loch in der Straßenbahntrasse sehe ich in der Nebenstraße diesen strahlenden Engel. Ein Geschäft mit Glamour und Schönheit in dieser grauen Ecke. Ja, ja: Es geht immer weiter. Und die Überraschungen hören nicht auf. Auch auf diesem Blog. Ein schönes neues Jahr wünsche ich euch.

Zweite Lesung

Samstagmittag. Wir sitzen beim Döner. Meine zwei Jungs, ihr Freund und ich. Sie haben sich in der Bibliothek einen Harry-Potter Film und zwei Kilo Donald Duck-Hefte ausgeliehen und sie haben sich bei mir einen Filmnachmittag herausverhandelt. Die Stimmung ist aufgekratzt. Aber erstmal gibt es was Ordentliches zu essen und zu lesen. „Papa, du hast doch die Geschichte mit dem ICE geschrieben. Kannst du die mal vorlesen?“, heißt es, kaum dass wir am Tisch sitzen. Die Jungs sind der festen Überzeugung, dass ich meinen Blog nur schreibe, um meine Erlebnisse mit ihnen und ihrem Bruder für die Nachwelt zu erhalten, was nicht ganz falsch ist. Manchmal lese ich ihnen nach einem gemeinsamen Abenteuer vor, was ich getippt habe. „Ich würd dich instant liken“, sagte der eine mal abends, als ich wieder eines unserer alltäglichen Dramen in Worte gegossen hatte. Und ich denke, das ist ein Lob. Aber das hier ist ist jetzt was anderes. Das ist in der Öffentlichkeit. Der Freund ist dabei, die zwei Döner-Männer hinter der Theke und ein Pärchen in unserem Rücken, das sich nebenan einen Lamachun geholt hat, weil das billiger ist als ein Döner. Wenn ich jetzt die Geschiche vorlese ist das eine öffentliche Lesung! Vor Publikum! Natürlich drängt es jeden Autor dazu, seine Werke der Welt anzuvertrauen, und bisher habe ich erst einmal die Gelegenheit dazu gehabt, bei einem mäßig besuchten Leseabend an meiner Arbeitsstelle. Es war schnell vorbei, gab eine Flasche Sekt zur Belohnung und zwei Monate später die Überraschung bei einer Arbeitssitzung mit einer anderen Abteilung, als eine Kollegin sagte: „Sie sind doch der, der vorgelesen hat. Ich hab sie an ihrer Stimme erkannt.“ Da schmiedet man stundenlang ein Schmuckstück aus Worten, und sowas bleibt also in in Erinnerung. Mein heutiges Publikum kennt meine Stimme zur genüge in allen Lagen und Lautstärken. Aber sie wollen mit meiner Hilfe ihren Freund beeindrucken. „Fang doch jetzt endlich an mit der Geschichte.“, drängt mich mein Sohn, während ich noch an meinem Adana Dürum kaue – und sie ihren Döner in Lichtgeschwindigkeit abgenagt haben. Auf dem Tisch und darunter sieht es aus wie nach einem Wirbelsturm. Aber ein wahrer Künstler muss der richtigen Stimmung sein, um sein bestes zu geben. Also bestelle ich mir noch einen Tee und ziehe langsam das Handy aus der Tasche. „Die Stimmung war gut…“ beginne ich mit der epischen Einleitung. Der Freund kommt neugierig auf meine Seite, aber die Jungs drängeln: „Muss das sein? Lass das doch weg. Kommt das auch mit der U-Bahn?“. Kunstbanausen. Hatten sie sich nicht neulich beschwert, dass ich sie in ihrer Jugend betrogen hätte, weil ich bei den ewigen Wickie der Wikinger-Geschichten beim Vorlesen ganze Absätze unterschlagen hätte? Also müssen sie sich jetzt gedulden. Genüsslich komme ich zum ersten Cliffhanger: „Was ich nicht wusste: Sie hatte sich neue Verbündete gesucht…“ Der Döner-Wirt kommt mit mürrischem Gesicht und versucht die Ordnung auf unserem Tisch wieder herzustellen. Das Pärchen hinter uns kaut unbeeindruckt an seinen Teigrollen. Am Glückspielautomaten im Hinterzimmer ist jetzt ein Biertrinker zu Gange. Der Laden füllt sich. Wahre Kunst findet immer ihr Publikum. Aber nicht immer ein dankbares. Ständig spoilern meine Jungs vor lauter Aufregung kichernd die Pointen. „Das stimmt doch gar nicht.“ Wir hätten noch mehr Cola aus dem Bisto holen können“. „Sind wir wirklich schwarz gefahren in der U-Bahn?“ Dem Freund wird langweilig und mein Schlussatz geht unter, weil die drei schon wieder bei einem anderen Thema sind. Wahrscheinlich ob sie zum Film lieber Popcorn oder Chips bei Edeka kaufen sollen. Ich drücke ihnen einen Zehner in die Hand und scheuche sie zum Supermarkt. Der Künstler bleibt sitzen und genießt den kurzen Ruhm. Nach zehn Jahren Bloggerei endlich der ersehnte Erfolg. Eine treue, wenn auch bestechliche Anhängerschaft und einen Platz in der Ewigkeit. Hatte mein Älterer nicht eben an der Ampel gesagt: „Irgendwann schreib ich ein Buch über dich“?

Katerstimmung

Es hätte so ein schöner Abend sein können: Die Nachbarschaft war zahlreich gekommen, um einen „bal populaire“ zu feiern. Ein Fest, bei dem sich deutsche und französische Stimmen jeden Alters mischten, und bei dem trotz des kühlen Herbstabends mit feurigen Merguez-Wüsten vom Grill, Live-Musik und zwei Bars eine ausgelassene sommerlich-südliche Stimmung aufkam. Mehr als 450 Spenderinnen und Spender aus der Nachbarschaft und ganz Berlin hatten per Crowdfunding 18.000 Euro zusammengetragen, um den Wiederaufbau des hölzerenen Eiffelturms vor dem Centre Français de Berlin zu ermöglichen. Und als Dank für die Unterstützung durften sich alle Spenderinnen und Spender an Bar und Grill einmal gratis bedienen lassen. Mit Einbruch der Dämmerung wurde das neu errichtete Wahrzeichen des Wedding in den französischen Nationalfarben angestrahlt. Die Glühbirnen, mit denen er bis zum Richtkranz an seiner Spitze dicht besetzt war, gaben dem 13 Meter hohen Holzturm ein festliches Aussehen. Fast hätte man meinen können, einen verfrühten Weihnachtsbaum strahlen zu sehen. Es war ja auch eine frohe Botschaft, die es zu feiern galt. Der alte Eiffelturm war morsch geworden, aber die Anwohner wollten auf den Turm als Wahrzeichen und die Wegmarke nicht verzichten. Was der Eiffelturm als Symbol für den Wedding und die Weddinger bedeutet wurde deutlich, als eine Rednerin mit einer Geschichte stürmischen Applaus erntete: „Wenn ich einem Taxifahrer sage: Bringen sie mich ins Centre Français in der Müllerstraße, dann fragt er mich, wo das sein soll. Wenn ich dann sage: Das ist da, wo der Eiffelturm ist, weiß jeder gleich, wo ich hin will.“
Vier Jahre Arbeit stecken in dem Projekt, das erst richtig ins Rollen kam, als der Geschäftsführer des Centre einen Bildungsverein gefunden hatte, die sich das Projekt zutraute und gleichzeitig in der Lage war, mehr als 75 deutsche und französische Jugendliche an dem Wiederaufbau zu beteiligen. Ein echter Schreinermeister trat auf das Podium, sprach von imprägniertem Eschenholz und davon, wie stolz er sei, und wie stolz die Schülerinnen und Schüler, wenn sie sich nach zwei Wochen in der Werkstatt trauten, selbstständig mit Fräse und Bohrer umzugehen.

Und dann platzte Olaf in die Stimmung. Drei Jahre hatte der Kanzler praktisch nichts gesagt, manchmal von der Zeitenwende geredet, aber sonst den Mund gehalten. Aber jetzt wurde er redselig. Wie ein Vater, der mit seinem ungezogenen Sohn lange Geduld gehabt hat. Meine Stimmung war im Eimer. Zum Glück hatte ich auch für das Projekt gespendet und deshalb einen Gutschein für die Bar, die auf der Empore im Foyer des 60er-Jahre Kinos im Hinterhof des Centre eingerichtet war. Die französischen Barfrauen sahen mein Gesicht und wussten, wie mir war. Denn mit plötzlichen Regierungsumbildungen hat man in Frankreich Erfahrung. Sie empfahlen mir ein Picon-Biere, eine Mischung aus einem bitteren Orangenlikör mit einem kalten Bier. Es half. Zumindest um beschwingt nach Hause zu gehen und einen fröhlichen Beitrag über das Fest für unser Kiezmagazin zu schreiben. Dann schaute ich bis zwei Uhr nachts abwechselnd in die Gesichter von Olaf, Donald, Kamela und Christian. Heute Morgen hatte ich Kopfschmerzen.

Ewigkeit

Wer‘s noch nicht wusste: Das ist das Motto für das Jahr 2246. Gestiftet vom Kölner Kabarettisten Jürgen Becker für das John-Cage-Orgel-Kunstprojekt in Halberstadt. 2246! Das sind noch 223 Jahre hin. Ziemlich lange. Aber in der Burchardi-Kirche in Halberstadt denkt man weit in die Zukunft. Bis zum Jahr 2639. Bis dahin soll das Stück „As slow as possible“ von John Cage dort von einer Orgel gespielt werden – so langsam wie möglich. Alle paar Jahre ein neuer Ton. Der nächste 2024. 639 Jahre, das ist das Alter, das die älteste Orgel der Welt erreicht hat. Schön und gut, aber eigentlich ist das doch Quatsch, oder? Mehr als sechshundert Jahre in die Zukunft denken, wer macht das denn heute noch? Schon in 10 Jahren soll sich ja alles grundlegend ändern, wegen Klimawandel und so – natürlich zum Schlechten. Andererseits: Vor etwa 1000 Jahren hat man diese Kirche gebaut. Und? Das Gemäuer steht immer noch. Genau so wie der Dom von Halberstadt und die vielen anderen Kirchen der Stadt. Das nennt man Gottvertrauen. Ist viel passiert seither. Als ich mit meinem Freund Jürgen den Plan schmiedete, uns die Orgel anzuschauen, sagte er mir „In Halberstadt gibts nicht viel zu sehen, das ist im Krieg ziemlich zerbombt worden.“ Aber die Kirchen stehen noch oder wieder und dazu eine sehr schnuckelige Fachwerk-Altstadt, die sogar den Sozialismus überstanden hat, was mein Freund nicht wusste, weil er immer nur direkt zur Orgel gefahren ist, wenn er nach Halberstadt kam. Das darf einen doch beruhigen, dass auch nach so langer Zeit etwas bleibt. Sogar die Eisbecher sind hier noch aus der DDR.

Als neuesten Marketing-Gag haben sich die Orgelbetreiber (www.aslsp.org) jetzt ausgedacht, Tickets für das Abschlusskonzert 2639 zu verkaufen. Ich hatte schon fast mein Portemonnaie gezückt, um meiner Tochter ein originelles Geschenk zu machen, das sie Ihren Kindern vererben kann, als mir klar wurde, dass es bis dahin noch 616 Jahre sind. In die Vergangenheit projiziert, wäre das so, als hätte jemand für mich im Jahr 1407 ein Ticket gekauft für ein Konzert, das heute stattfindet. Wahrscheinlich wäre es damals noch in Fraktur auf Pergament geschrieben worden und mittlerweile durch so viele Hände gegangen, dass es niemand mehr lesen könnte. Da wurde mir doch etwas blümerant. Die einzige, die heute noch in solchen Kategorien denken kann ist unsere Umweltministerin. Die gab heute, anlässlich der morgigen Stilllegung der letzten Atomkraftwerke in Deutschland, bekannt, dass man jetzt ein Endlager für den Millionen Jahre strahlenden radioaktiven Müll sucht, das für die Ewigkeit sicher ist. Die Endlager werden dann so was wie die „Kathedralen des Fortschritts“. Nicht so erhaben wie die alten und eher unter der Erde.

Besuchen Sie lieber Halberstadt, solange es noch geht. Es ist wirklich nett da.

Tod mit guter Aussicht

Terrasse des Museums für Sepulkralkultur, Kassel

Das Ende war dann noch sehr schön.

Für den zweiten Tag meines Besuchs hatte ich mir eine kleine Mutprobe auferlegt: „Das Museum für Sepudingsda?“ frage ich die Frau in einem der allgegenwärtigen weißen Garderobencontainern, an dem man seine Rucksäcke abgeben muss. „Ja, den Namen musste ich auch erst lernen.“, sagte sie freundlich.“ Das ist ist hinter der Grimm-Welt die Straße hoch.“ Noch vor fünf Jahren habe ich schockiert auf die Empfehlung von docvogel reagiert, die das Museum für Totenkultur in Kassel pries. Dunkle Grüfte mit verwesenden Kadavern stellte ich mir vor. So wie in Neapel. Ich hatte eine Heidenangst vor Totenkulten und all dem schwarzen Zeug, das da drumherum gemacht wird. Aber man wird ja älter und der Gedanke kommt näher. Und es war dann auch gar nicht so schlimm, im Gegenteil: Es war recht wunderbar. Ein Haus auf dem Hügel, viel Licht und eine Terrasse wie auf dem Deck eines Luxusliners. Die Exponate über Gevatter Tod in seinen vielen Formen verloren bei so viel Helligkeit ihren Schrecken und endlich stand ich für die Länge eines Kaffees auf der Terrasse in der Sonne und über den Dingen. Deswegen war ich nach Kassel gekommen.

Ach ja, und wegen der documenta. Die ganze Zugfahrt zurück nach Berlin (halbe Stunde Verspätung) versuchte ich das Assoziationskarussell einigermaßen in den Griff zu bekommen, das die Ausstellung gestern bei mir angeworfen hatte und das sich die Nacht über weiter drehte. Gab es einen gemeinsamen Nenner? War alles beliebig nebeneinander? War das überhaupt wichtig? Bleiben wir bei den Fakten:

Menschen: Ich habe in den zwei Tagen mit genau einem Menschen gesprochen. Er stand vor dem Schloss, vor dem Joseph Beus begonnen hatte seine 7000 Eichen zu pflanzen und fegte den Platz zwischen den Bäumen. Er trug die gleiche Mütze wie ich und eine graue Weste wie Beus. Es war offensichtlich sinnlos was er da machte. Ebensogut hätte er wie ein buddhistischer Mönch ein Mandala in den Sand legen und dann wieder wegwischen können. Das sagte ich ihm, und er freute sich. Er war nicht halb so verrückt, wie ich vermutet hatte, sondern sehr klar. Es wollte an die Beus-Aktion vor dem Düsseldorfer Landtag erinnern. Mit dem Besen hatte der den Platz gefegt und behauptet, er habe damit mehr für die Gemeinschaft getan, als alle Abgeordneten mit ihren Beschlüssen. Seinen Besenstiel hatte mein neuer Freund in den Farben der Bundesfahne lackiert.

Gemeinschaft: Damit wären wir bei dem Wort, an dem man auf der documenta nicht vorbei kam „lumbung“. Ich hatte das Glück, gleich am ersten Tag morgens im „ruru Haus“, dem Empfangsgebäude in einem leerstehenden Kaufhaus aus den 50ern, in einen Vortrag von einer indonesischen Künstlergruppe (rungagrupa?) zu stolpern und war gleich fasziniert.

Nicht nur von der Geduld, mit der diese sichtbar übermüdeten Männer geduldig das indonesische Prinzip des gemeinsamen Wirtschaftens erklärten, war ich beeindruckt. Auch von der Tatsache, dass es auf den 1700 indonesischen Inseln etwa genau so viele Sprachen und Dialekte gäbe, aber kein Wort für den Begriff „Ich“. Man hebe die Verdienste des Einzelnen nicht hervor, verwende den Passiv, der offen lässt, wer was oder wieviel getan hat für die Gruppe. Dagegen sei der Begriff des „zum Gedeihen der Ernte/ des Gemeinwesens beizutragen“ sehr wichtig. „Nourishing“ wie es ungenügend ins Englische übersetzt wurde. Man müsse nicht nur sähen und ernten, sondern müsse auch etwas dafür tun, dass der Boden fruchtbar bleibe, dass die Gemeinschaft gedeihe. Der Gedanke entstamme aus dem Matriarchat, das vor den männlich dominierten Religionen auf den Inseln herrschte. Ach war das schön. Mal was Positives, etwas, von dem wir lernen können, statt des erwarteten Imperialisten-Bashings. Ich kaufte mir das Buch der Gruppe (30 Euro) und war einigermaßen enttäuscht. Was ich da las, von den klugen Bäuerinnen und Bauern, die klug genug sind, ihre Sachen in Eigenregie und zum Wohle aller zu regeln (wenn man sie denn lässt), kannte ich schon. „Die Bauern von Solentiname“ von Ernesto Cardenal aus Nicaragua. Theologie der Befreiung. Auch die lebten auf einer kleinen Insel. Hab ich mit 20 gelesen.

Worte an der Wand: Über all steht was geschrieben. Mal als Kunst, mal als Meinungsäußerung, mal als Ablaufschema das zeigt, wie sich Ideen entwickeln sollen. Viel Mindmap und Brainstorming. Hat mich dann recht bald nicht mehr interessiert. Unsortierte Gedanken habe ich selber genug und wenn ich lesen will, kauf ich mir ein Buch.

Ruhe: Im Obergeschoss des Staatstheaters war kein Mensch. Nur eine recht übersichtliche Installation mit Materialien wie Sand, Holz und Stahl, die Stoffe halt, aus denen das Haus gebaut wurde. Ich hole mir den Audio-Guide, lege mich auf eine Bank am Fenster und lasse mich von der ruhigen Stimme der isländischen Künstlerin über die Herkunft des Eichenparketts belehren. Habe lange nicht so gut geschlafen. Die Audiofiles kann man sich im Internet anhören.

Humor: Es gab einen Running Gag auf der dokumenta. Überall gab es Werbeschilder für einen Hähnchen-Imbiss. Das hat ein britischer Künstler sich ausgedacht, als satirische Antwort auf den Unterstellung der britischen Presse, dass in den muslimischen Händelbratereien in England heimlich für den Dschihad gearbeitet werde. Und zu einem richtigen Dschihad gehört natürlich auch eine „Befreiungsfront der gebratenen Hähnchen.“ Der aktuelle „Spiegel“ hat den Witz nicht kapiert und hält den Künstler für einen wirklichen Gotteskämpfer. Um den Irrtum zu vermeiden, hätte man als Qualitätsjournalist nur die zwei Seiten im Ausstellungskatalog lesen müssen. Oder den Podcast „Birds of Paradise“ auf YouTube anschauen.

Politische Kunst: Habe ich auf der documenta kaum mehr gefunden. Außer der Botschaft der australischen Ureinwohner in einem Zelt und einem aus der Zeit gefallenen Agitprop-Plakat an der Fassade von C&A. Aber außerhalb der Ausstellung, in der dunklen gotischen Alten Brüderkirche bin ich zufällig auf eine sehr radikale und sehr verwirrende Ausstellung von Jan Kath getroffen. Rug Bombs sind riesige, handgeknüpfte Wandteppiche, die moderne (US-amerikanische) Waffen mit klassischen Teppichmustern zeigen, jeweils vor dem Hintergrund von Flucht, Vertreibung und Zerstörung. Die Bilder haben im Dunkeln eine magische Wirkung. Sie sind wohl das politische Coming Out eines erfolgreichen Designers, der Luxusvillen mit teuren Teppichen ausstattet. Für ein Bomben-Bild wird mehr als 35 000 Euro aufgerufen. So werden diese politischen Anklagen wohl wieder in Luxusvillen landen. Vorher kommen sie aber noch mal in eine Galerie in Berlin.

Treiben lassen: Recht bald merkte ich, dass es mich bei dem klaren Herbstwetter mehr reizte, die sehr grüne Stadt zu erkunden, als ziellos in einer künstlich in eine Wellblechhütte verwandelten Ausstellungshalle herumzuirren, in der man auch noch eine lärmende Halfpipe für Skater aufgebaut hatte. Es gab auch eine Ausstellung an der Fulda, im Bootsverleih „Ahoi“. Die Kunst dort bestand aus einem Gang, in dem man sich immer tiefer bücken musste um an einen Bildschirm zu kommen, um dort irgendwas über die Schleimspur japanischer Schnecken zu erfahren, die jetzt in Korea leben. Ich schnappte mir das letzte verbliebene Kajak und ließ mich eine Weile auf der Fulda treiben. Abends lief ich zurück zum Hotel, denn die Straßenbahnen fuhren nur noch alle halbe Stunde, als ich an einem großen Irish-Pub vorbei kam, aus dem wehmütige Folk-Songs von der geliebten grünen Insel klangen. Ich wagte einen Schritt hinein, prallte vor einer Wand von menschlichen Stimmen und Bierdunst zurück, aber war sofort erfüllt von einer Sehnsucht nach einem Rausch, blödem Geschwätz und sinnlosen Diskussionen über Kunst und den Rest der Welt. Gehörte das früher nicht mal zusammen: Kunst und Leben?