Fluch der Fotos

„Mach ihr doch ein Fotoalbum, so eins noch mit Ecken. Das kannst du doch so gut.“, säuselte die Mutter meiner großen Tochter, als ich sie fragte, was wir dem Kind denn zum 30. Geburtstag schenken könnten. Das war natürlich ein vergiftetes Lob. Denn sie hatte nie geschafft, die Fotos von unserer Großen in eine Form zu bringen. Und das schlechte Gewissen wurde an mich weitergereicht. Ja, ich mache gerne für Menschen, die ich mag kleine Alben mit Bild und Text. Und weil es bei meinen Eltern nur ein Album gab, das mit dem Hochzeitsfoto anfing und irgendwann abbrach, als wir zur Kommunion gegangen waren, habe ich mir, bevor ich zu Hause auszog, zu meiner Jugend ein eigenes Album gemacht. Aus dem Schuhkarton, in dem meine Eltern die restlichen Bilder sammelten, brachte ich sie heimlich zum Fotogeschäft. Dort wurden sie abfotografiert, ein neues Negativ erstellt und ein neuer Abzug. So ging das damals. Meine Eltern haben das nicht verstanden. Aber ich wollte meine eigene Geschichte sehen und mitnehmen. Und eigentlich sollten meine Kinder es besser haben. Fotografiert habe ich sie wie ein Wilder. Aber irgendwie war nie Zeit dafür, die Bilder zu sortieren, sich zu entscheiden, die besten zusammenzustellen. Wenn man selber Kinder hat, versteht man seine Eltern besser. Und deshalb steht da der große Umzugskarton im Keller: Bilder 1990-2010. Bisher hatte ich mich nicht daran getraut. Eigentlich wollte ich damit bis zur Rente warten – jetzt musste ich.

Es ist nicht einfach, einen Blick in seine eigene Vergangenheit und die seiner Kinder zu werfen. Immer, wenn ich es versuche, überfällt mich der Gedanke: Verdammt, was haben wir damals eigentlich gewollt? Und: Meine Güte, was haben wir alles veranstaltet? Was haben wir alles versucht? Und: Waren wir glücklich, in dem Moment, als wir auf den Auslöser drückten oder in die Kamera grinsten? In den bunten Papiertüten aus Fotogeschäften, Drogeriemärkten mit den vorne eingesteckten braunen Negativen und ein paar Briefen von Freunden, die mir Bilder zuschickten, in Fotolisten von Kindergärtnerinnen und Elternvertretern, in denen man Kreuze machen musste, um Abzüge von dem Ausflug in den Zoo oder der Klassenfahrt zu bekommen, stecken die offizielle Geschichte. Das was wir sein wollten, was wir zeigen wollten. Wie wir uns erinnern wollten. Von dem Rest gibt es keine Bilder. In den entscheidenden Momenten im Leben macht keiner ein Foto. Und Gedanken und Gefühle lassen sich nicht ablichten. Und natürlich sahen wir alle großartig aus, damals – und die Kinder waren wunderhübsch und süß. Tolle Freunde hatten wir und tolle Feste. Warum haben wir das damals nicht gemerkt? Es bleibt beim Durchblättern der Fototaschen immer ein schales Gefühl. Deswegen hatte ich die Kiste nur bei Umzügen angefasst.

Und dann kommt noch das Praktische. Bis 2005 war alles analog. Aber auch da gab es zwei Welten. Bild und Dia. Und weil ich mit meiner kleinen Minox immer nur Dias machte, gibt es davon auch noch eine extra Kiste. Und nach 2005 gibt es keine Kiste mehr. Dafür liegen drei alte Laptops in meinem Schrank und ein paar USB-Sticks und gebrannte Foto-CDs und eine komplette Festplatte. Was haben wir eigentlich die letzten 20 Jahre gemacht, außer uns gegenseitig zu fotografieren? Auf meinem Handy sind 2000 Bilder – und es ist erst drei Jahre alt. Und es gibt ja noch die Speicherkarte meiner Kamera. Und nein: Ich bin nicht in der Cloud und nicht bei Insta. Trotzdem: Einige Bilder fehlen. Denn irgendwann war mein Mädchen natürlich weg, in ihrer eigenen Welt, machte ihre eigenen Bilder. Manchmal hat sie mir ein paar aus dem Urlaub per Mail geschickt. Und einige Bilder, an die ich mich genau erinnerte, fanden sich nicht mehr in den gefledderten Tüten. Vielleicht an Freunde verschickt und dann doch nicht mehr nachbestellt? Oder gab es einen fotografischen Versorgungsausgleich als wir uns getrennt haben? Es ist alles so lange her.

Ich habe eine Woche gebraucht, bis ich das Album zusammen hatte. Nachmittage hatte ich an den Fotostationen in den Drogeriemärkten verbracht – so macht man das heute, wenn es schnell gehen soll – Nächte mit den ausgebreiteten Fotos auf dem Wohnzimmerfußboden. Es gab ein konspiratives Treffen in einer Pizzeria in Moabit mit der Mutter und unserem damaligen dänischen Au-pair-Mädchen, die zufällig in Berlin war, bei dem unbeschriftete Umschläge den Besitzer wechselten. Wie sollte das alles zusammen passen? Wie die Lücken verdecken. Sollte ich etwas dazu schreiben? Darf ich als Vater das Leben meiner Kinder kommentieren? Ein Tag vor dem Fest war das Werk vollendet und verpackt. Ich saß auf dem Sofa und versuchte aus drei alten Cannon-Kameras zwei funktionierende zu machen. Meine Zwillinge fahren auf Klassenfahrt. Und wir Eltern haben beschlossen, dass die Handys zu Hause bleiben. „Aber wie sollen unsere Kinder denn dann Erinnerungsfotos machen?“, fragte eine besorgte Mutter. „Kein Problem!“, meldete ich mich zu Wort. „Wir alle haben doch in den Schubladen alte Digitalkameras. Die können wir wieder flott machen und den Kindern mitgeben.“ Jetzt hatte ich den Salat. Bei einer fehlt das Ladekabel, bei der anderen die Speicherkarte. Das Handy klingelt und die Tochtermutter ist dran: „Ich hab noch ein Bild vom Abiball gefunden. Da sah sie so toll aus.“ Es folgte eine genervte Diskussion darüber, was die wichtigsten Stationen im Leben unserer Tochter waren und wer für das Story-Telling und Framing zuständig sei. Wir einigten uns darauf, dass das Abi- Bild nachträglich in das Album eingelegt, aber nicht eingeklebt werden könne, um das Gesamtkunstwerk nicht zu zerstören. So verhandeln zwei Juristen.

Das Geburtstagsfest war wunderschön. Bei Sonnenschein im Hasenheide-Park. Alle Freunde waren da, alles war sehr berlinerisch, ein wenig improvisiert und locker und cool und meine Tochter war glücklich und die Königin des Tages. Sie hatte eine moderne Polaroid-Kamera mitgebracht, damit ihre Gäste sich gegenseitig fotografieren konnten. Ich hatte natürlich ungefragt auch meine Kamera mit dem alten DDR-Objektiv dabei. Es sind unvergessliche Bilder geworden.

Feierabend

Berlin, S-Bahnhof Bornholmer Straße. Es ist Freitagnachmittag, ich bin müde und warte auf die S-Bahn, um meine Jungs zum Wochenende abzuholen. Zum Glück hat der kleine Kiosk auf dem Bahnsteig noch auf. Die Regale sind schon fast leergekauft und die Verkäuferin putzt schon die Auslage. „Crema?“, fragt sie mich, als ich meinen Kaffeebecher über den Glastresen reiche. Mit eigenem Becher ist der Kaffee hier 20 Cent billiger, also muss ich nicht den abgestandenen „Hauskaffee“ trinken und kann mir was Ordentliches leisten. „Crema!“ nicke ich. Da lacht mich eins der letzten Schokobrötchen an. „Was kosten die?“, frage ich. „2 Euro 20“. „Gibt’s keinen Feierabendrabatt?“, versuche ich zu handeln. Es ist viertel vor fünf. Das Wort ist neu für sie und sie stutzt. Dann kommt es prompt zurück „Feierabendrabatt ist erst ab 17 Uhr!“, Das soll preußisch knapp klingen. Tut’s aber nicht. Ist ein weicher Ton drin, Polnisch vielleicht. „Also gut“, seufze ich und krame in meinem Portmonee, „geben sie mir eins.“ Sie streckt mir die weiße Tüte mit einem Lächeln rüber. „Ist Feierabendrabatt, 1 Euro 10.“ Ich wünsche ihr ein schönes Wochenende.

Endlich: Wissenschaft entwickelt perfekte Hochzeit!

Was ist denn das?, frage ich mich, als die Baugerüste gefallen sind und ich das neue Gebäude der Berliner Hochschule für Technik, an dem ich jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit vorbeikomme, zum ersten Mal sehe. „Wedding Advanced Laboratories“, Fortgeschrittene Hochzeitslabore? Das kann doch nicht wahr sein. Nach den Gender Studies jetzt ein Studiengang für die Tradwifes? Ist es jetzt auch bei uns schon so weit gekommen? Die CDU-Familiensenatorin in Berlin ist doch erst seit zwei Jahren im Amt. Und warum ist das neue fünfstöckige Labor genau gegenüber dem Institut für Bauwesen? Und welche Technik soll da entwickelt werden? „Studiengänge für Biotechnologie, Lebensmitteltechnologie, Pharma- und Chemietechnik sowie Verfahrenstechnik“ sollen hier ihr Zuhause finden, säuselt die Website der Hochschule, die mal aus dem Zusammenschluss mehrerer Ingenieurakademien entstanden ist. 1200 Studierende sollen hier ab dem Wintersemester arbeiten. 1200 Studierende, die sich mit der Herstellung von Hochzeitstorten beschäftigen? Ist das unsere Zukunftsoffensive? Und braucht man hier tatsächlich eine Professur für Verpackungstechnik, um die Hochzeitsgeschenke professionell aufzuhübschen?
Ich beschließe der Sache auf den Grund zu gehen und lasse mich nicht ablenken von den Plakaten, die auf den Resten des Bauzauns drapiert sind und die mit offenen Fragen eine zärtliche und gefühlvolle Herangehensweise an das Forschungsthema Paarbeziehungen vorgaukeln:

Ich spüre, dass das nicht alles sein kann, dass ich tiefer graben muss. Ganz tief. Ich muss rein in das Labor. Da ich ab und zu in der gegenüberliegenden Mensa zu Gast bin, und eine „Mensa Card“ vorweisen kann, schöpft keiner der Wachleute Verdacht. Kein Wunder: mit meiner abgetragenen englischen Barbour-Jacke und dem grauen Bartstoppeln sehe ich aus wie ein typischer deutscher Gelehrter. Der Weg ist frei! In den oberen Etagen schaue ich nur kurz vorbei: Helle Räume, noch halbe Rohbauten. Hier ist nichts zu holen, also runter in den Keller. Ja, ich habe schon Hochzeiten erlebt, die im Keller gefeiert wurden. Haben nicht lange gehalten, die Ehen, die da geschlossen wurden – wenn man schon so tief anfängt. Überhaupt haben die Ehen meist nicht das gehalten, was Hochzeiten versprachen. Ob sie nun im Heidelberger Schloss gefeiert wurden in einem Brandenburger Gutshaus oder im Stadtteiltreff in Berlin-Wedding. Gut, dass ich immer nur zu Gast war.
Aber ist es nicht das, was Wissenschaft den Menschen verspricht? Dass sie in der Lage ist, die Unzulänglichkeiten des Menschen zu überwinden und die Menschheit zu einem besseren Morgen zu befähigen? Wie beschränkt war unser Wissen vor Erfindung des Internets, wie orientierungslos waren wir vor der Einführung der Mobiltelefone und Navis? Und wenn jetzt noch die Roboter und die Künstliche Intelligenz…? Ein Schauder überfällt mich. Noch bevor ich die Tür mit der Aufschrift: „Weddingstyle“ öffne, weiß ich, woran sie in dieser geheimen Kammer arbeiten:

Hochzeits-Avatare! Das erste Grausen, das mich nach dem schauerlichen und trostlosen Anblick der leblosen Maschinenmenschen überfällt, legt sich rasch. Ja, wäre es nicht sogar besser, schießt es durch mein aufgewühltes Hirn, wenn man/frau die Hochzeit von intelligenten Kopien erledigen lassen würde? Nie wieder stressige Jungesellenabschiede, kein Auffegen von zerschlagenem Porzellan am Polterabend vor der Trauung, keine Nervenzusammenbrüche überforderter Mütter, keine Ausfälligkeiten betrunkener Väter, keine nöligen Kinder in zu engen und zu feinen Kleidchen, keine unzufrieden meckernden Tanten und Onkels und keine peinlichen Power-Point-Shows überengagierter Freunde. Und die Hochzeitsfotos ohne verlaufenes Make Up und rote, alkoholgedunsene Köpfe wären auch perfekt. Heinrich Böll hat das automatisierte Feiern durch Stellvertreter für das Weihnachtsfest schon in den 1950er Jahren in seiner Geschichte „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ literarisch vorweggenommen. Jetzt sind wir also nach der Mondlandung in den 1970ern endlich in der Lage, auch diesen Menschheitstraum technisch umzusetzen. Leise, ehrfürchtig und beglückt schließe ich die Tür hinter mir. Meine Tochter wird bald 30, ein gefährliches Alter. Bald könnte ich eine Einladungskarte erhalten. Ich hoffe, dass diese Forschung schnell Serienreife erlangt.

Letzte Weihnachtsgeschichte

Der alte Mann in der roten Daunenjacke hält sich an einem Glas Kräuterschnaps fest. Er ist der einzige Gast in dem riesigen Döner-Restaurant, dem einzigen Lichtblick in der verwaisten Fußgängerzone einer sterbenden Stahlstadt im Norden von Berlin. Was macht er hier am Heiligabend um halb Vier? Wo andere sich mit ihrer Familie um den Weihnachtsbaum scharen und Geschenkpapier zerfetzen? Ist es einer der verwahrlosten Stadtstreicher, die ihr erbetteltes Geld in Alkohol umsetzen, oder ist es einer dieser trostlosen Weihnachtsmanndarsteller, der sich für seinen schlechten Auftritt bei ungläubigen Kindern in warmen Eigenheimen in den Vorortsiedlungen vorbereitet, um seine mickrige Rente aufzubessern? Vielleicht ist es auch nur ein einsamer alter Mann, der nirgendwo hin gehört an einem Abend, an dem niemand einsam sein sollte. „Have you seen the old man outside the seaman’s mission…? Selbst die tuschelnden Männer hinter dem Tresen, die in einer Sprache sprechen, die er nicht versteht, und denen Weihnachten nichts bedeutet, sind heute zu zweit.

Wie lange darf man mit einem Schnaps in der warmen Gaststube bleiben? Reicht das Geld für einen zweiten oder muss er bald los in die Kälte, dorthin wo die blinkende Weihnachtsbeleuchtung höhnisch strahlt. Diese Lichter wärmen ihn nicht. Es ist kurz vor Vier als er sich müde und seufzend erhebt um nach dem Preis für den kurzen Augenblick der Wärme zu fragen. Wortlos schiebt er drei Euro in die Hand des Wirts. Kein Gruß, kein „Frohe Weihnachten“. Wieso auch?

Auf seinem Weg zurück sieht er andere Verlorene. Eingehakte Paare, denen es zu Hause zu eng wurde. Einen Vater mit einem Lastenrad, der mit seinen drei Kinder das Weihnachtsessen bei „Call a Pizza“ abholt; und das erinnert ihn, dass er ja auch drei Söhne hat, denen er versprochen hat, am nächsten Tag zu Mc Donalds zu gehen. Der einzige Weg sie dazu zu bringen, heute ihre heilige Christenpflicht zu erfüllen und am Heiligabend anderen Menschen eine Freude zu machen. Müde von dem langen Kampf, der schon seit Wochen währt wankt er die Stufen zur Kirche hoch, über deren Eingang ein einsamer roter Herrenhuther Stern leuchtet. Ist das sein Nachtasyl? Hofft er auf etwas Barmherzigkeit oder eine Pause von seinem harten Leben? Der Kirchendiener drückt ihm ein Heft mit Weihnachtsliedern in die Hand und wünscht freundlich ihm eine „Frohe Weihnacht“, was den Alten in seinem Grimm erschreckt. Was hat das hier mit Weihnachten zu tun? Er quetscht sich in eine der vollbesetzten Holzbänke. Der Pfarrer schnoddert in bestem Berlinerisch die Lithurgie herunter. Der Organist eiert die bekannten Melodien. Es klingt wie Karussellmusik auf dem Jahrmarkt. Die Gemeinde hält nach Kräften mit. Doch da erklingt wie aus anderen Sphären von der Empore der Kinderchor. Auch schief, weil zu wenig geübt und zu viel mit den Handys gespielt, aber dabei, glockenklar, die Stimmen seiner Jungs. Auf die letzte Minute hatte er sie zur Generalprobe hier abgeliefert, nur unter Protest hatten sie die weißen Hemden angezogen, aber immerhin waren sie mitgekommen. Und jetzt singen sie „ und soll es werden Frieden auf Erden; den Menschen allen ein Wohlgefallen…“ Na, das kann ja eine schöne Weihnacht werden.

Zweite Lesung

Samstagmittag. Wir sitzen beim Döner. Meine zwei Jungs, ihr Freund und ich. Sie haben sich in der Bibliothek einen Harry-Potter Film und zwei Kilo Donald Duck-Hefte ausgeliehen und sie haben sich bei mir einen Filmnachmittag herausverhandelt. Die Stimmung ist aufgekratzt. Aber erstmal gibt es was Ordentliches zu essen und zu lesen. „Papa, du hast doch die Geschichte mit dem ICE geschrieben. Kannst du die mal vorlesen?“, heißt es, kaum dass wir am Tisch sitzen. Die Jungs sind der festen Überzeugung, dass ich meinen Blog nur schreibe, um meine Erlebnisse mit ihnen und ihrem Bruder für die Nachwelt zu erhalten, was nicht ganz falsch ist. Manchmal lese ich ihnen nach einem gemeinsamen Abenteuer vor, was ich getippt habe. „Ich würd dich instant liken“, sagte der eine mal abends, als ich wieder eines unserer alltäglichen Dramen in Worte gegossen hatte. Und ich denke, das ist ein Lob. Aber das hier ist ist jetzt was anderes. Das ist in der Öffentlichkeit. Der Freund ist dabei, die zwei Döner-Männer hinter der Theke und ein Pärchen in unserem Rücken, das sich nebenan einen Lamachun geholt hat, weil das billiger ist als ein Döner. Wenn ich jetzt die Geschiche vorlese ist das eine öffentliche Lesung! Vor Publikum! Natürlich drängt es jeden Autor dazu, seine Werke der Welt anzuvertrauen, und bisher habe ich erst einmal die Gelegenheit dazu gehabt, bei einem mäßig besuchten Leseabend an meiner Arbeitsstelle. Es war schnell vorbei, gab eine Flasche Sekt zur Belohnung und zwei Monate später die Überraschung bei einer Arbeitssitzung mit einer anderen Abteilung, als eine Kollegin sagte: „Sie sind doch der, der vorgelesen hat. Ich hab sie an ihrer Stimme erkannt.“ Da schmiedet man stundenlang ein Schmuckstück aus Worten, und sowas bleibt also in in Erinnerung. Mein heutiges Publikum kennt meine Stimme zur genüge in allen Lagen und Lautstärken. Aber sie wollen mit meiner Hilfe ihren Freund beeindrucken. „Fang doch jetzt endlich an mit der Geschichte.“, drängt mich mein Sohn, während ich noch an meinem Adana Dürum kaue – und sie ihren Döner in Lichtgeschwindigkeit abgenagt haben. Auf dem Tisch und darunter sieht es aus wie nach einem Wirbelsturm. Aber ein wahrer Künstler muss der richtigen Stimmung sein, um sein bestes zu geben. Also bestelle ich mir noch einen Tee und ziehe langsam das Handy aus der Tasche. „Die Stimmung war gut…“ beginne ich mit der epischen Einleitung. Der Freund kommt neugierig auf meine Seite, aber die Jungs drängeln: „Muss das sein? Lass das doch weg. Kommt das auch mit der U-Bahn?“. Kunstbanausen. Hatten sie sich nicht neulich beschwert, dass ich sie in ihrer Jugend betrogen hätte, weil ich bei den ewigen Wickie der Wikinger-Geschichten beim Vorlesen ganze Absätze unterschlagen hätte? Also müssen sie sich jetzt gedulden. Genüsslich komme ich zum ersten Cliffhanger: „Was ich nicht wusste: Sie hatte sich neue Verbündete gesucht…“ Der Döner-Wirt kommt mit mürrischem Gesicht und versucht die Ordnung auf unserem Tisch wieder herzustellen. Das Pärchen hinter uns kaut unbeeindruckt an seinen Teigrollen. Am Glückspielautomaten im Hinterzimmer ist jetzt ein Biertrinker zu Gange. Der Laden füllt sich. Wahre Kunst findet immer ihr Publikum. Aber nicht immer ein dankbares. Ständig spoilern meine Jungs vor lauter Aufregung kichernd die Pointen. „Das stimmt doch gar nicht.“ Wir hätten noch mehr Cola aus dem Bisto holen können“. „Sind wir wirklich schwarz gefahren in der U-Bahn?“ Dem Freund wird langweilig und mein Schlussatz geht unter, weil die drei schon wieder bei einem anderen Thema sind. Wahrscheinlich ob sie zum Film lieber Popcorn oder Chips bei Edeka kaufen sollen. Ich drücke ihnen einen Zehner in die Hand und scheuche sie zum Supermarkt. Der Künstler bleibt sitzen und genießt den kurzen Ruhm. Nach zehn Jahren Bloggerei endlich der ersehnte Erfolg. Eine treue, wenn auch bestechliche Anhängerschaft und einen Platz in der Ewigkeit. Hatte mein Älterer nicht eben an der Ampel gesagt: „Irgendwann schreib ich ein Buch über dich“?

Höcke und das Moped

So sieht das Moped aus, mit dem Björn Höcke mit der AfD stärkste Kraft in Thüringen geworden ist. Eine Simson S 51 aus dem VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk „Ernst Thälmann“ Suhl/Thüringen. Eine auch gestalterisch gelungene Eigenkonstruktion aus der DDR. Einfache, anspruchslose Technik, leicht zu reparieren (und zu „frisieren“). Als ich sie zum ersten Mal Ende der 1970er auf einem Prospekt sah, den mir ein Freund von der Internationalen Motorrad und Fahrrad Messe in Köln mitbrachte, war ich begeistert. Ich fuhr zu der Zeit eine Simson Spatz, auch aus der DDR. Ein ziemlich hässliches Entlein, das ein Nachbar vor 10 Jahren bei Neckermann gekauft hatte und damit jeden Tag 10 Kilometer zum Bahnhof gefahren war. Für 100 D-Mark, die ich mit Zeitung austragen verdient hatte, habe ich sie ihm abgekauft. Die rote Farbe war ausgeblichen und der Rost blühte. Ein Freund half mir, sie wieder flott zu machen und ich überstrich die Rostflecken mit oranger Mennige. Die Flecken umrahmte ich mit bunter Lackfarbe. So bekam das Ost-Moped einen Hauch von Flower Power. Aber gegen die Zündapps, Hercules und Yamahas, die vor unserer Schule parkten konnte ich damit natürlich nicht ankommen. Und das Ding hatte eine Sitzbank für nur eine Person – Mädchen mitnehmen war nicht. Da wäre eine S 51 schon was anderes gewesen. Schick, 3,7 PS, 60 Km/h flott und Platz für zwei. Aber vielleicht zu flott für den Westen. Es gab sie nur im Osten zu kaufen. Und dort erlebt sie seit Jahren eine Rennaissance. Bei alten Kerlen, wie mir, die ihre Jugendträume ausleben wollen und vor allem bei der Jugend. Eine „Simme“ zu fahren, gehört außerhalb von Berlin zum guten Ton und ist für Viele auch ein Teil einer zusammengestrickten Ost-Identität. Das Internet ist voll mit Schraubertipps, es gibt deutschlandweit Clubs und Treffen auf der grünen Wiese. Eine Firma in Thüringen mit einem imposanten Lagerhaus versorgt die Szene mit Ersatzteilen und findige Händler finden immer neue Schrott-Mopeds zum „Neuaufbauen“ (bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend, bau auf!), die sogar aus Vietnam zurück gekauft werden.

Das alles ist bekannt. MDR, RBB haben interessante Reportagen über das Simson-Fieber und die halbseidenen Geschäfte gemacht. Aber nur Björn Höcke hat sich für ein Wahlplakat auf eine Simson gesetzt. Man sah ihn grauhaarig, ohne Helm auf öffentlicher Straße mit gezogener Kupplung. Gefahren sein kann er so nicht wirklich. Das Plakat kam trotzdem an. „Ja zur Jugend“ hat seine Werbeagentur draufgeschrieben. Bei einer Befragung von Schülern, die schon wählen durften meinten sie, das mit der „Simme“, das wäre doch toll gewesen.

Warum hat sich nicht Bodo Ramelow auf einer Simson ablichten lassen? Mehr Thüringen geht doch nicht? Und inzwischen gibt es die Simson auch mit Elektroantrieb. Ein findiges Start-Up um einem wuschelköpfigen Maschinenbaustudenten hat einen Weg gefunden, den knatternden Zweitakter an einem Nachmittag in ein summendes Elektromobil zu verwandeln. Ramelow auf der E-Simme. Warum hat es das nicht gegeben? Weil auch die Simson-Szene inzwischenzeit auch von Rechten unterwandert wird, die auf den Treffen den Hitlergruß zeigen? Weil sich der Designer der S 51 inzwischen deshalb davon distanziert? Ich glaube es war nicht die Angst. Ich glaube, Die Linke und die anderen Parteien und ihre professionellen Berater haben das mit den Simsons einfach nicht mitbekommen. Sie wussten schlicht nicht, was sie Jugendlichen umtreibt. Nicht auf Tik Tok und nicht auf der Straße. Und ihre Werbeagentur kam wahrscheinlich aus Berlin. Da gabs mal einen Hype um alte Schwalbe-Motorroller. Auch von Simson, aber das war nach der Wende. Das ist für Werber wie aus einem anderen Jahrtausend.

Die Wahl ist verloren, aber ich liebe meine Simson immer noch. Vor zwei Jahren habe ich mir eine S 51 zu Weihnachten geschenkt. Unterstütze ich jetzt die Nazis, wenn ich damit durch Berlin brause? Verdächtig viele grinsen mich freundlich an, geben ein Thumbs up oder kurbeln sogar die Seitenfenstern runter, um mit ihre Begeisterung durch den Verkehrslärm zu brüllen. Bisher dachte ich, das seien so groß gewordene Kinder, die auch gerne mit den alten Sachen von früher spielen wie ich. Inzwischen bin ich mir da nicht mehr sicher. Die AfD kann einem wirklich den schönsten Sommer verderben.

Ergänzung im September 2025: Nach der Wahl ist in Thüringen die Sache noch mal hochgekocht. Nachdem Höcke nun zum Glück doch nicht Ministerpräsident geworden ist, hat er viel Zeit, mit Jugendlichen AfD-Simson-Touren anzubieten (hoffentlich mit Helm). Aber auch die anderen Parteien haben die Popularität der kleinen Mopeds endlich erkannt: Im Landtag wurde ein Beschluss der Regierungsparteien CDU, SPD und BSW gefasst, sich dafür einzusetzen, alle Simsons die Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h zu erlauben. Bisher war das nur den in der DDR oder bis 1992 in Gesamtdeutschland zugelassenen Simsons erlaubt.

https://www.heise.de/news/Simson-Kleinkraftraeder-Thueringen-will-auch-Reimporten-60-km-h-zugestehen-10641681.html

Fänd ich gut. Dafür müsste man den Einigungsvertrag ergänzen. Da fielen mir noch ein paar andere Kapitel ein.

Weihnachtswärme

Es war dunkel geworden. So dunkel wie es in einer Vollmondnacht in einer Vorortstraße eben werden kann. So dunkel, wie es das Lichterkettengeflatter und die beleuchteten Rentiere in den Vorgärten noch zuließen. Es war der erste Weihnachtstag und wir standen im bläulichen Halblicht an einer Straßenkreuzung. Wir wollten an die frische Luft und wir wollten weiter, denn wir hatten noch eine Pflicht zu erfüllen. Wir waren erst fünf Minuten von zu Hause weg, und standen erst am Anfang des Waldes, aber die Kinder wollten wieder zurück in den Keller, zu ihrer Spielkonsole. Also waren wir mutig und ließen sie ziehen. Natürlich nicht ohne sie fünf Minuten später anzurufen, ob sie angekommen wären. Uns führte der Weg tiefer und tiefer in den Wald. Bald schon hörte die Feldsteinstraße auf und wurde zu einer schlammigen Kraterlandschaft. In den wassersatten ausgefahrenen Schlaglöchern spiegelte sich der Mond. Hier war kein Durchkommen mehr für Menschen ohne Auto, und doch schlichen wir uns an den Rädern, durch Büsche und kleine Umwege weiter, immer bedacht, nicht bis zu den Knöcheln im feuchten Dreck zu versinken und nicht das Geschenk aus der Hand fallen zu lassen, bis wir die weißen Häuser sahen, die einsame Straßenlaterne und das offene Feld. Hunde bellten. Wir hatten es geschafft. Ich hätte das Geschenk jetzt einfach in den Briefkasten am wackligen Zaun vor dem etwas halbfertigen Fertighaus geworfen. Ich kannten die Leute hier kaum und wir waren nicht angemeldet. Aber die Mutter meiner Söhne klingelte. Wir sahen durch das große, gemütliche erleuchtete Verandafenster Menschen an einem Tisch in goldenem Licht. Aber sie bewegten sich nicht. „Ich bin sicher, die haben schon Besuch.“, flüsterte ich peinlich berührt meiner Gefährtin zu, aber die hatte schon das schief hängende Gartentor aufgeschoben und stapfte durch den Garten, in dem, das wusste ich vom Sommer, Füchse auf die Hühner des Hausherrn lauern. Über eine Metalltreppe kamen wir zum Hauseingang und klingelten noch mal. Es rumpelte drinnen und in der Tür stand ein breitschultriger Mann mit dichten Augenbrauen. Und er war kein bisschen überrascht, freute sich wirklich, uns zu sehen und bat uns herein in einen engen, mit Kinder- und Wanderschuhen vollgestellten Flur und dann in ein Wohnzimmer, das warm war und aussah wie die Dekoration zur Carmen-Nebel-Weihnachts-Show, die zur gleichen Zeit im Fernsehn lief, nur in echt. Ein stattlicher, glänzender Weihnachtsbaum an dem echte Kerzen brannten, Pfeffernüsse; Tannenzweige und Stolle überall auf dem festlich geschmückten Tisch, zwei Jungs in Weihnachtspullovern und mit großen Augen, die auf den unerwarteten Besuch gerichtet waren. Im Hause meiner Söhne hatte die Kraft dieses Jahr nur zur nüchternen, schiefen Mini-Tanne und einer Schachtel Schoko-Lebkuchen gereicht, die von der Mutter im Küchenschrank versteckt wurde, damit sie über die Feiertage reicht. Auch die Freude über unseren Besuch war echt. Anscheinend war es ihnen genau so gegangen wie uns Am Nachmittag des ersten Weihnachtstages war die Luft raus und die Kinder drehten etwas durch. Wir waren rechtzeitig zum Kaffee gekommen, der hier dünn war, wie ihn Schichtarbeiter trinken. Aber ich fühlte mich wie zu Hause, wie bei Muttern. Endlich Weihnachten wie ich es kannte. Wir ließen uns von der Gastgeberin immer wieder zu einer neuen Tasse nötigen während, der Hausherr das Geschenk auspackte, das ich ihm überreicht hatte, weil er mir vor zwei Monaten mein gebrochenen Schlüsselbein wieder zusammen geschraubt hatte. „Wie geht‘s dir damit?“, fragte er ärztlich routiniert. „Geht so, ist noch nicht zusammengewachsen.“ „Du musst Geduld haben.“, antwortete er und war gleich danach wieder bei seinem Lieblingsthema: Der Jagd. Eine halbe Stunde erzählte er uns vom Ansitzen, von den schrulligen Jägerkumpels und der Kälte. Ich kannte mal ein paar Jäger und konnte die richtigen Fragen stellen um seine Begeisterung richtig zu würdigen. Und ich hatte den Eindruck, dass die halbe Stunde, die wir ihm zuhörten, das schönste Geschenk für ihn war. Als wir gehen mussten, führte er uns noch nach draußen, und zeigte uns sein neues Nachtsichtgerät. „Schau mal da hinten, am Waldrand stehen vier Rehe.“ Trotz Vollmond hatte ich bisher auf dem weiten Feld nichts als Acker gesehen. Jetzt sah ich durch das Gerät vier helle Punkte – schutzlos durch die neue Technik und die Nacht brutal entzaubert. Ich dache an die Soldaten in der Ukraine und die Menschen in Israel und Palästina, denen noch nicht mal die Nacht mehr Schutz bietet. Ich hatte es plötzlich eilig nach Hause zu den Jungs zu kommen. Die waren froh, uns zu sehen, weil sie sich langweilten seit sich die Spielkonsole vor einer halben Stunde automatisch abgeschaltet hatte.
Aber Weihnachten war noch nicht vorbei. Kaum hatten wir die Schuhe aus, stand ein weiterer Freund vor der Tür und hatte eine Schale mit frischen schmalzgebackenen Krapfen für uns, die noch warm waren. Dabei hätten wir ihn beschenken sollen, denn er hat uns dieses Jahr geholfen, als wir Ärger mit der Versicherung hatten. Aber echte Freundschaft fragt ja nicht nach Gegenleistungen. Wir aßen sie vorm Fernseher, der einen Riss hat, weil ein Sohn vor ein paar Monaten Wut den Controller seines Computerspiels in den Bildschirm gehauen hat, während wir die Carmen Nebel Show schauten. Falsche Gefühle und Kitsch, aber mir war danach. Warm im Bauch, warm ums Herz, etwas Freude gegeben, etwas Freude bekommen. So hat sich Weihnachten sich für mich lange nicht mehr angefühlt.

Oh wie schön ist Brandenburg

Wir hatten einen Plan. Einen bescheidenen Plan, wie ich finde. Zwei Tage Hamburg sollten es sein. Ein ordentliches Hotel, ein bisschen Zeit zusammen und keine Kinder. Die Großmutter war als Babysitterin geordert und ihre bissigen Bemerkungen darüber, dass wir zwei, nach Jahren der Trennung mal wieder ein Wochenende gemeinsam verbringen hätte es gar nicht gebraucht, denn es wurde natürlich nichts draus. Und ehrlich gesagt, hatte ich auch nicht wirklich daran geglaubt.
Drei Tage vor Abreise kriegte der Älteste Fieber und Husten, was bei ihm keine Seltenheit ist. Aber dass es eine Woche nach den letzten Fieber und Husten-Tagen wieder los ging, erstaunte uns dann doch. Aber als dann am Tag zwei vor der Abreise der Corona-Test ganz leicht hellblau wurde, war auch dieses Rätsel gelöst und statt an der Elbe zu spazieren hingen wir am Telefon und Computer, um der Großmutter abzusagen, dem Hotel abzusagen, die Bahn-Tickets zu stornieren und den Traum von ein paar unbeschwerten Stunden, wie das meine Eltern, die ich jetzt viel besser verstehe, es genannt hätten, zu begraben. Tschüüs Hamburg, willkommen Berliner Speckgürtel. Denn dort steht das Haus, in dem meine Söhne mit ihrer Mutter wohnen. Ich schnappte mir mein Fahrrad, klingelte vor der Tür und war entschlossen, trotzdem ein wildes Wochenende zu verbringen. Wenn nicht mit der Mutter, dann mit den Söhnen. Wenn man sich nur genug anstrengt, dann hat die sandige Mark Brandenburg sogar Geheimnisse zu bieten. Geheimnisse, die es zu erforschen gilt. Ein Dammwildgehege, einen Sumpf oder ein altes Gasthaus, das nur per Boot oder über einen versteckten Schleichpfad hinter der Autobahnbrücke zu erreichen ist.
Wenn es nicht regnet. Den lange vermissten Brandenburger Landregen, der ab Mittag in wuchtigen Wellen gegen die Isolierglasfenster prasselte. Sogar der automatische Rasenmäher hatte sich in seine Dockingstation verkrochen.

Schön eigentlich, ein Wetter um sich mit einer Zeitung und einer Tasse Tee melancholischen Gedanken hinzugeben, aber eine Katastrophe, wenn man drei Jungs zu Abenteuern vor die Tür locken will, weil sie Bewegung und frische Luft brauchen. Ja, richtig gelesen: Drei! Denn dem einstmals hustenden Corona-Sohn ging es natürlich wieder prächtig, so prächtig, dass er mit seinen Brüdern das durch den Regen von der Außenwelt abgeschlossenen Einfamilienhaus in ein Tollhaus verwandelte, wenn sie sich nicht in ihren Betten mit dicken Büchern verbarrikadierten. Am Ende half nur Bestechung. Den Weg zur dörflichen Eisdiele, in der das einst üppige Angebot um die Hälfte reduziert war und in der lange Listen darüber berichteten, wie teuer die Zutaten geworden waren, wurde zwischen zwei Schauern geradelt. 1,80 EUR eine Kugel Eis. Als ich nach Berlin zog, war es mal gerade eine Mark. Die Kinder waren glücklich, aber nicht so glücklich, dass sie sich abends ohne Widerpruch in ihre Betten getrollt hätten, in denen sie schon den halben Tag verbracht hatten. Irgendein Streit über die Spielzeit auf der Konsole brachte einen der Zwillinge so sehr auf, das er noch um halb 12 Uhr wach war. Danach legte ich die Streitschlichtung in die gottergebenen Hände der Mutter und versuchte im Keller zu schlafen.
Der Sonntag wenigstens machte seinem Namen alle Ehre. Aber die Jugend blieb unbeeindruckt vom blauen Himmel, der sich über sattgrünen Wiesen spannte. Immerhin den Jüngsten lockte ich aus dem Haus zum Brötchenholen. Aber der Aufbackbäcker neben dem Norma-Discounter hatte das lange Wochenende genutzt, um dem Brandenburger Elend zu entfliehen. Wer kann’s ihm verdenken? Immerhin erspähte mein geübtes Berliner Auge in der Ferne einen Dönerladen, der morgens um 10 Uhr seine Türe offen hatte. Ein frisches Ekemek-Fladenbrot ist auch eine Beute, die man von einem Jagdzug mit dem Sohn durch die Brandenburger Wildnis als Trophäe mitbringen kann. Der Kleine kriegte vom Dönermann auch noch einen Lolli und es kam das für einen Mann erhebende Gefühl in mir auf, in so einem menschenleeren Landstrich genug erbeutet zu haben, um meine Familie zu ernähren. Doch zurück zu Hause fand sich keiner, der die frisch erlegte Strecke zu würdigen wusste. Träge krochen die Halbtoten der nächtlichen Diskussionsschlachten gegen 11 Uhr ihren Betten. Und als auch gegen Mittag noch nicht die ganze Familie am Frühstückstisch saß, keimte in mir und der Mutter meiner Kinder der verwegene Gedanke auf, die ganze undankbare Brut einfach für ein paar Stunden mit ihren Büchern alleine zu lassen und das einsame gutbürgerliche Gasthaus, das ich mit den Jungs erradeln wollte, einfach zu zweit zu besuchen. Letzte Reste elterlicher Fürsorge ließen uns an unseren Jüngsten denken, der alleingelassen von seinen großen Brüdern in die Zwickmühle genommen werden würde. „Aber ich will eine Pizza!“, machte er zur Bedingung für unsere Rettungsaktion und ich war schon bereit, den Nachmittag an den schäbigen Alutischen im Vorraum eines Pizza-Services zu verbringen, als ich die Mutter mit einer aus der Verzweiflung genährten Kaltblütigkeit lügen hörte: „Der Weiße Schwan ist eine Pizzeria, der hat nur einen deutschen Namen.“

Diese kleine Lüge war der Schlüssel zum Paradies. Wir entdeckten den Schleichpfad, der hinter den Bahngleisen des Henningsdorfer Stahlwerks verborgen liegt und fanden uns auf einer Zeitinsel. Ein Haus wie aus Kaisers Zeiten mit einem Biergarten, der von alten Kastanien überschattet wurde. Drinnen gab’s Spitzendeckchen, viel Verschnörkeltes und eine freundliche Kellnerin. Auf der Speisekarte stand nicht viel mehr als Schnitzel mit frischen Pilzen und Eierkuchen. Aber das war genau das, was wir wollten. Ein riesiger Eierkuchen für den Kleinen. Einen Eierkuchen, wie ich ihn seit meiner Kinderzeit nicht mehr gesehen hatte. Mit Zimtzucker und Apfelmus. Von Pizza war keine Rede mehr. Hinterher sammelten wir Kastanien und verfütterten sie an die Ziegen auf der Koppel hinter dem Haus. Große Ziegen, so große Ziegen, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Sie waren verrückt nach den Kastanien und unser Kleiner traute sich, sie sich von der flachen Hand wegknabbern zu lassen. Sogar die Sonne kam für einen Moment durch die Wolken und wir wärmten uns in den Strahlen.

Zurück zu Hause hatten die Zwillinge unsere Abwesenheit nicht mal bemerkt.
Vielleicht sind wir in Wirklichkeit auch nie weg gewesen.

Brennendes Verlangen

War er mein Schicksal, war er ein Geschenk Gottes oder war er meine letzte Chance?  Ich kann es auch heute noch nicht sagen, nach alldem, was seither passiert ist.
Auf jeden Fall brachte er mich sofort aus der Fassung, als er bei mir am Morgen vor der Tür stand. Nach all den Jahren! Ich konnte an diesem Tag an nichts anderes mehr denken. Sollte ich ihn zu mir nehmen, in meine Wohnung  oder sollte ich vernünftig sein? Es konnte auf jeden Fall kein Zufall sein, dass er da stand. So selbstverständlich wie es nur ein alter Bekannter tun kann. Aber war er es wirklich? Es gib zu viele Geschichten, in denen sich Herumtreiber sich für einen andern ausgaben. Ja, da war ich mir plötzlich sicher: unsere Wege hatten sich schon einmal gekreuzt. Ich war noch jung, damals und er hat mir sehr weh getan. Ich hab mir an ihm meine Finger verbrannt – im wahrsten Sinne des Wortes. Gebranntes Kind … Und er hat mir das Liebste genommen was ich damals hatte. Was mir wichtiger war als die Frau, mit der ich schon zehn Jahre zusammen wohnte, die mir das Leben geschenkt hatte, aber nie sagte, dass sie mich liebt. Für Sie  brannte er. Und sie benutze ihn. Er hat für sie alles geschluckt, auch mein abgewetztes Kuscheltier. Sie hat es ihm nicht gedankt, hat ihn rausgeschmissen, als sie nicht mehr auf ihn angewiesen war. Aber das ist lange her. So lange dass ich die Geschichte ganz tief in mir vergraben hatte. Jetzt ist er wieder da, als sei nichts gewesen. Konnte ich ihm verzeihen? Wir waren beide nicht jünger geworden, aber er hat sich gut gehalten. Makellos. Aber wie sah es innen aus? Ich sah im gleich an, dass er von seiner Ex aus der Wohnung geschmissen worden war, in der er nutzlos herumgelungert hatte. Wer brauchte einen wie ihn heute noch? 

Ich! „Wie schön dass du wieder da bist!“, jubelte es in mir. Lange hatte mir, ohne dass ich es wusste, seine alles durchdringende Wärme gefehlt, die Geborgenheit, die nur so einer wie er mir geben konnte. Am liebsten hätte ich ihn gleich umarmt und die Treppe hochgeschleppt. „Vorsicht!“ mahnte mein bisschen Vernunft, das mir geblieben war. „Wenn er einmal drin ist, kriegst du ihn nicht mehr los.“ Und was ist mit den Behörden, dem Vermieter? An all das musste ich denken. Aber im Hinterkopf begann ich schon, für seine Probleme eine Lösung zu finden. Im Wohnzimmer habe ich eine Ecke, die genau richtig für ihn wäre. Dort ist auf den abgezogenen Dielen noch der helle Fleck,  an dem früher der Kachelofen stand. Ich habe einen Bekannten, der Schornsteinfegermeister ist, nicht in meinem Bezirk, aber immerhin: Er kennt sich aus, mit Kerlen wie ihm. Ihm würde schon was einfallen, wie man die richtigen Papiere besorgen könnte und eine Begründung für den Vermieter würde ihm auch einfallen. Aber tapfer beschloss ich, mit der Entscheidung bis nach dem Feierabend zu warten. Er würde mir schon nicht weglaufen. Da war ich mir sicher. Wo sollte er auch hin? Wie gefährdet er war, so alleine auf der Straße, wusste ich da noch nicht.

Auf der Fahrt zur Arbeit schoss es mir durch den Kopf: „Du Schwein! Keinen Moment hast du heute an die gedacht, die dich die ganzen Jahre heiß gemacht hat. Die deine Wohnung im Winter lebenswert macht.“ Deutlich jünger ist sie, zuverlässig und leicht entflammbar. Aber was zählt das heute noch? Ich weiß schon seit dem 24. Februar, dass es bald aus sein wird mit uns. Wärme? Ja, aber jedes Jahr wurde der russische Stoff, von dem sie nie genug bekommen konnte, teurer. Sie steckte das weg wie nichts. Aber die Rechnung ging an mich. Ich habe versucht zu sparen, wo es ging. Habe Fenster und Türen dicht gemacht, nur noch kalt geduscht. Aber es war klar, dass sie mich früher oder später ruinieren würde. Sie musste weg! Immer schon war mir das blaue Leuchten unheimlich gewesen, das in ihrem Auge flammte, wenn das Gas in ihrem Inneren rauschte, jetzt hatte ich die Gelegenheit, von ihr los zu kommen. Und ich würde die Chance nutzen. Bevor sie mich in der Kälte des Winters verlassen würde, weil ich kein Geld mehr habe. Weil sie keinen Mucks mehr machen würde, dann, wenn ich sie am meisten brauchte, würde ich sie rausschmeißen. Jetzt! Solange es draußen noch warm ist und sie unnütz an der Wand hängt. 

Schon sah ich mich durch Park und Wälder streifen, Äste und Reisig sammeln, die ich meinem neuen Freund schenken würde. Und er würde sich darüber freuen, würde mir zeigen, was er noch alles drauf hat. Schön würde es mit uns werden, an langen Winterabenden. Und die neue Glut würde lange währen….

Als ich von der Arbeit wieder kam, war er weg. Einfach so. Die Straße war leer. Ich weiß nicht, ob er einfach mit dem Nächstbesten abgehauen ist, oder ob er sich weggeworfen hat, in den Container oder den Schrotthaufen. Eiskalt überlief es mich. Ich werde allein sein, wenn der Frost kommt. Mir graut es vor dem Winter.

„Die Mauern stehen 

Sprachlos und kalt. Im Winde 

Klirren die Fahnen.“

(Hölderlin)