Ich repariere mein Moped auf dem Gehweg vor der Haustüre. Hatte einen blöden Unfall vor ein paar Tagen an der Ecke wo das Spielcasino ist. Der Mann im Kleinwagen vor mir sieht einen Kumpel in der Kneipe auf anderen Straßenseite, haut in die Bremsen und zieht links rüber. Ich knalle hinten drauf. „Ich hab doch geblinkt“, schreit der blasse, dünne Kerl, der aus dem Auto springt. „Du bist rübergezogen ohne zu blicken“, schrei ich zurück. „Hol doch die Polizei, die wird dir sagen, wer hier schuld ist.“ Ich fotografiere sein Nummernschild. Das übliche Gezeter. Plötzlich steht sein Freund aus der Kneipe neben ihm. Breitschultrig, dunkler Bart, hängende Arme. „Kann ich helfen?“, fragt er. Und er will mich wohl wirklich nach Hause fahren. Der Fahrer will dafür, dass ich das Foto lösche. Irgendwas ist hier faul, aber: zwei gegen einen. Ich sehe zu, dass ich das Moped wieder ans Laufen kriege und fahre weiter. Meine Söhne warten, dass ich sie vom Sport abhole. Jetzt sitz ich hier mit dem Schaden. Ich habe den Scheinwerfer ausgebaut, kneife ein Auge zu und halte die Glühbirne prüfend gegen den wolkenlosen Himmel. Die ist hinüber. „Wie ein Diamant“, höre ich jemand hinter mir sagen. Ein junges arabisches Pärchen geht mit seinem Kinderwagen an mir vorbei. „So prüft man einen Diamanten“, ruft der junge Mann über die Schulter zu und lacht aufmunternd. Der Autoteileladen am Ende der Müllerstraße verkauft mit einen neuen Diamanten für 5,90 Euro.
Na, ist noch jemand zu Hause? Oder sind alle draußen im Grünen bei dem schönen Wetter? Also mein Freund und ich waren nach dem Feiertag (ja, Berlin hat die Befreiung von Krieg und Naziherrschaft am 8. Mai mit einem Feiertag begangen) mit dem Rad unterwegs. Von Frankfurt/Oder durchs Schlaubetal nach Eisenhüttenstadt und zurück. Die „Mönchstour“, weil man dabei am Kloster Neuzelle vorbeikommt. Ja, war wieder schön gewesen. Hier ist Brandenburg so ein bisschen wie da wo ich herkomme. Es klappert die Mühle am rauschenden Bach. Die Schlaube ist ein kleiner Bach, an dem früher viele Mühlen und Eisenhämmer betrieben wurden. Heute sind das Biergärten. Wir kehren gleich beim ersten ein, nachdem wir den Schreck am Bahnhof Frankfurt hinter uns haben: Viel Polizei in voller Montur. Grenzkontrollen an der Friedensgrenze zu Polen. Und das auf nüchternen Magen. Wir sind unverdächtig. Und nachdem ich mich bei der Bäckereiverkäuferin, die tapfer das babylonische Sprachgewirr ihrer Kundschaft meistert, mit einer Bockwurst versorgt habe, die so fade, fett und verkocht schmeckt, dass ich mich sofort wohlig in die alte DDR zurückversetzt fühle (noch schlimmer sind nur die, die man in Polen kriegt), suchen wir gleich die erste Gelegenheit, um den Geschmack aus dem Mund zu bekommen. Ist viel passiert hier, seit ich das letzte Mal da war. Neue Fußgängerbrücke, geteerte Fahrradwege und keine Menschen mehr auf den Straßen. Alles leer, auch im Biergarten, der ein Idyll ist. Es klappert.. (siehe oben). Eigentlich ist geschlossen. „Ich kriege ja kein Personal mehr.“, klagt die weißhaarige Mühlenwirtin. „Nur noch Ukrainerinnen, die was schwarz neben dem Bürgergeld verdienen wollen.“ Ob‘s noch ein Bier gebe, fragt mein Freund. „Ein Bier gibt‘s immer.“, ist die joviale Antwort, und schon stehen zwei „Radler“ in schimmernden Glaskrügen vor uns. „Aber den Blütenstaub kann ich nicht auch noch von den Tischen wischen.“ Und heiter gehts weiter. Solange wir uns an die ausgeschilderte Route halten (das Zeichen, dem wir folgen ist ein Mönch, der gemütlich auf seinem Fahrrad schlingert) ist‘s auch wirklich nett, dunkel, üppig und voller Nachtigallen. Aber als wir einmal falsch abbiegen, sind wir wieder in der Brandenburger Wirklichkeit: Staubige, kahle Äcker, leere Dörfer, die aus einem Baumarktkatalog zusammengebaut zu sein scheinen und kläffende Hunde hinter Zäunen. Mir tut mein Knie weh. Unsere Rettungsinsel ist das Kloster Neuzelle. Eine barocke Pracht, die man eher aus Bayern kennt. Geht auch in Brandenburg. Und selbstgebrautes Bier gibt‘s auch: „Schwarzer Abt“. Danach schlingern wir wie der Mönch auf unseren Rädern nach Eisenhüttenstadt, der „ersten sozialistischen Stadt auf deutschem Boden“ – heute das größte Flächendenkmal Europas. Menschenleer, wie die Dörfer drumherum. Aber das Stahlwerk arbeitet noch. Ein Geruch nach Koks und kaltem Kamin, wie ich sie noch aus meiner ersten Berliner Wohnung mit Ofenheizung kenne, liegt schon Kilometer vorher in der Luft. Eigentlich hätten wir stilgerecht im Hotel „Lunik“ absteigen müssen, ehedem das erste Haus am Platze, aber das Lunik ist eine Ruine. Also wird es das Hotel „Berlin“, das einzige Hotel, das es in der Stadt noch gibt. Der Empfang ist solide und herzlich. „Ham‘ ses doch noch jeschafft.“, kumpelt die Empfangsdame, die ich von unterwegs angerufen hatte, weil wir uns ja verfahren hatten. Sie empfiehlt uns das deutsche Restaurant nebenan, in dem es grabesstill ist und nach kaltem Frittenfett riecht. Also gehen wir zum Griechen, gleich unten im Keller. Hier brummt der Laden, Familien mit Kindern feiern (Jugendweihe?) und die Lammkotteletts schmecken wie Schuhsohle. „Nimm Essen mit, du fährst nach Brandenburg.“, singt Reinald Grebe.
Wandgemälde von Walter Womacka; Karl-Marx-Alle, EisenhüttenstadtMuseum „Utopie und Alltag“ Eisenhüttenstadt; Glasfenster von Walter WomackaAlltag ohne Utopie in Fürstenberg
Am nächsten Tag, dem Samstag, treffen wir nur nette Menschen in unserem Alter. Ist wirklich so. Keine Ahnung, wo die anderen abgeblieben sind, die Jungen, die Familien, die ganz Alten. Vielleicht interessieren sie sich nicht für das Museum „Utopie und Alltag“, das in einem ehemaligen Kindergarten untergebracht ist. Und eigentlich hat das Museum auch noch zu. Aber ein Herr in unserem Alter steht davor, er ist Maler (hab noch bei Tübke in Frankenhausen das Bauernkriegsfries mitgemalt; 3,50 Meter davon sind von mir…) und Mitglied des Museumsbeirates, der sich früh trifft und nachdem die Computer und die Lichtanlage hochgefahren sind, weist uns eine beflissene Frau in unserem Alter in die Dauer- und die Sonderausstellung (Völkerfreundschaft) ein. Es ist wirklich ein gut kuratiertes Museum über die Alltagskultur der DDR. Es gibt ja einige, in denen nur ein paar Küchengegenstände aus Plaste und ein Schwalbe-Moped in eine Scheune gestellt werden. https://www.utopieundalltag.de/
Als ich nach dem Ausstellungsplakat zur „Fremde Freunde“ frage, kriege ich die Antwort: „Ist aus. Wir drucken das gerade nach. Die waren ganz schnell vergriffen.“ Völkerfreundschaft an der Friedensgrenze? Im Landkreis an der Oder hat die AfD im Februar 39,1 Prozent geholt. Wo sind die ganzen Nazis? Sitzen die alle zu Hause? Auf dem Radweg auf dem Oderdeich treffen wir nur freundliche Leute (unseres Alters) in Funktionskleidung auf Elektrorädern. Einer erklärt mir die Industrieruine, die hinter dem Deich auftaucht: Das war ein Kraftwerk, das die Nazis haben bauen lassen, weil sie hier mitten im Krieg eine große Chemiefabrik errichten wollten. Die Deutschen haben sich hier in den letzten Kriegstagen verschanzt, die Russen haben sie zusammengeschossen, als sie über die Oder sind. War da heute nicht was? Genau: 9. Mai, 80 Jahre Kriegsende. An einem sowjetischen Kriegerdenkmal halten wir an. An Kriegerdenkmälern hat es in Brandenburg keinen Mangel. Aber das ist das einzige, so weit ich mich auskenne, das für sowjetische Matrosen errichtet wurde. „Schwarzmeerflotte, ewiger Ruhm den Helden, die für die Freiheit der Sowjetunion und der Heimat… so weit reicht mein Russisch immer. Sie sind mit ihrem Boot in der Oder ertrunken. Arme Kerle. Auf dem Sockel liegen ein paar kümmerliche Nelkensträuße. Nebendran bietet ein fliegender polnischer Blumenhändler seine Ware an. Mit dem Wort „Schnittblumen“ kann er nichts anfangen. Ich kaufe eine rote Geranie im Topf für 2,50 Euro und stelle sie auf den Stein. Dank euch, ihr Sowjetsoldaten.
Ein paar Kilometer flussabwärts wird es dann richtig konkret mit der Völkerfreundschaft. In Aurith ist heute Deutsch-Polnisches Volksfest. Hier gibt es eine Fähre über die Oder (wenn der Fluss genug Wasser hat) und die Mädchen der „Oderwendischen Volkstanzgruppe“, nicht zu verwechseln mit den Sorben, wie ich belehrt werde, mümmeln Bratwurst vor ihrem Auftritt. „Bei den Polen ist heute noch viel mehr los.“, versucht mich ein EU-gesponserter Tourismusbeauftragter auf die andere Seite zu locken. Aber mein Freund will nach Hause. Immerhin erfahre ich bei der Tourismusinfo auch, dass das „Lunik“ in Eisehüttenstadt wieder aufgebaut wird. Diesen Sommer beginnt es als provisorische Theaterspielstätte. „Sie müssen unbedingt kommen, und unbedingt vorher die Führung durch das „Lunik“ mitmachen!“ charmiert eine Theaterbegeisterte aus Eisenhüttenstadt, die ausnahmsweise nicht in unserem Alter ist. Na, dann muss ich da wohl nochmal hin.
Auf dem Rückweg treffen wir dann doch noch einen Nazi, einen verklemmten. Er kommt auf einem schwarzen BMW-Motorrad mit Beiwagen daher, wie eine Motorradpatroullie der Wehrmacht. Es soll eine BMW R 71 aus Vorkriegsproduktion sein, was er da fährt, aber es ist eine mit versteckten Runen und Frakturbuchstaben umlackierte sowjetische Kopie, eine M72 Molotov. Da kenne ich mich aus. Hatte selber mal so eine, aber in lila!
So ist das mit den Nazis heutzutag: Alles eine russische Kopie.
So sieht das Moped aus, mit dem Björn Höcke mit der AfD stärkste Kraft in Thüringen geworden ist. Eine Simson S 51 aus dem VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk „Ernst Thälmann“ Suhl/Thüringen. Eine auch gestalterisch gelungene Eigenkonstruktion aus der DDR. Einfache, anspruchslose Technik, leicht zu reparieren (und zu „frisieren“). Als ich sie zum ersten Mal Ende der 1970er auf einem Prospekt sah, den mir ein Freund von der Internationalen Motorrad und Fahrrad Messe in Köln mitbrachte, war ich begeistert. Ich fuhr zu der Zeit eine Simson Spatz, auch aus der DDR. Ein ziemlich hässliches Entlein, das ein Nachbar vor 10 Jahren bei Neckermann gekauft hatte und damit jeden Tag 10 Kilometer zum Bahnhof gefahren war. Für 100 D-Mark, die ich mit Zeitung austragen verdient hatte, habe ich sie ihm abgekauft. Die rote Farbe war ausgeblichen und der Rost blühte. Ein Freund half mir, sie wieder flott zu machen und ich überstrich die Rostflecken mit oranger Mennige. Die Flecken umrahmte ich mit bunter Lackfarbe. So bekam das Ost-Moped einen Hauch von Flower Power. Aber gegen die Zündapps, Hercules und Yamahas, die vor unserer Schule parkten konnte ich damit natürlich nicht ankommen. Und das Ding hatte eine Sitzbank für nur eine Person – Mädchen mitnehmen war nicht. Da wäre eine S 51 schon was anderes gewesen. Schick, 3,7 PS, 60 Km/h flott und Platz für zwei. Aber vielleicht zu flott für den Westen. Es gab sie nur im Osten zu kaufen. Und dort erlebt sie seit Jahren eine Rennaissance. Bei alten Kerlen, wie mir, die ihre Jugendträume ausleben wollen und vor allem bei der Jugend. Eine „Simme“ zu fahren, gehört außerhalb von Berlin zum guten Ton und ist für Viele auch ein Teil einer zusammengestrickten Ost-Identität. Das Internet ist voll mit Schraubertipps, es gibt deutschlandweit Clubs und Treffen auf der grünen Wiese. Eine Firma in Thüringen mit einem imposanten Lagerhaus versorgt die Szene mit Ersatzteilen und findige Händler finden immer neue Schrott-Mopeds zum „Neuaufbauen“ (bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend, bau auf!), die sogar aus Vietnam zurück gekauft werden.
Das alles ist bekannt. MDR, RBB haben interessante Reportagen über das Simson-Fieber und die halbseidenen Geschäfte gemacht. Aber nur Björn Höcke hat sich für ein Wahlplakat auf eine Simson gesetzt. Man sah ihn grauhaarig, ohne Helm auf öffentlicher Straße mit gezogener Kupplung. Gefahren sein kann er so nicht wirklich. Das Plakat kam trotzdem an. „Ja zur Jugend“ hat seine Werbeagentur draufgeschrieben. Bei einer Befragung von Schülern, die schon wählen durften meinten sie, das mit der „Simme“, das wäre doch toll gewesen.
Warum hat sich nicht Bodo Ramelow auf einer Simson ablichten lassen? Mehr Thüringen geht doch nicht? Und inzwischen gibt es die Simson auch mit Elektroantrieb. Ein findiges Start-Up um einem wuschelköpfigen Maschinenbaustudenten hat einen Weg gefunden, den knatternden Zweitakter an einem Nachmittag in ein summendes Elektromobil zu verwandeln. Ramelow auf der E-Simme. Warum hat es das nicht gegeben? Weil auch die Simson-Szene inzwischenzeit auch von Rechten unterwandert wird, die auf den Treffen den Hitlergruß zeigen? Weil sich der Designer der S 51 inzwischen deshalb davon distanziert? Ich glaube es war nicht die Angst. Ich glaube, Die Linke und die anderen Parteien und ihre professionellen Berater haben das mit den Simsons einfach nicht mitbekommen. Sie wussten schlicht nicht, was sie Jugendlichen umtreibt. Nicht auf Tik Tok und nicht auf der Straße. Und ihre Werbeagentur kam wahrscheinlich aus Berlin. Da gabs mal einen Hype um alte Schwalbe-Motorroller. Auch von Simson, aber das war nach der Wende. Das ist für Werber wie aus einem anderen Jahrtausend.
Die Wahl ist verloren, aber ich liebe meine Simson immer noch. Vor zwei Jahren habe ich mir eine S 51 zu Weihnachten geschenkt. Unterstütze ich jetzt die Nazis, wenn ich damit durch Berlin brause? Verdächtig viele grinsen mich freundlich an, geben ein Thumbs up oder kurbeln sogar die Seitenfenstern runter, um mit ihre Begeisterung durch den Verkehrslärm zu brüllen. Bisher dachte ich, das seien so groß gewordene Kinder, die auch gerne mit den alten Sachen von früher spielen wie ich. Inzwischen bin ich mir da nicht mehr sicher. Die AfD kann einem wirklich den schönsten Sommer verderben.
Ergänzung im September 2025: Nach der Wahl ist in Thüringen die Sache noch mal hochgekocht. Nachdem Höcke nun zum Glück doch nicht Ministerpräsident geworden ist, hat er viel Zeit, mit Jugendlichen AfD-Simson-Touren anzubieten (hoffentlich mit Helm). Aber auch die anderen Parteien haben die Popularität der kleinen Mopeds endlich erkannt: Im Landtag wurde ein Beschluss der Regierungsparteien CDU, SPD und BSW gefasst, sich dafür einzusetzen, alle Simsons die Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h zu erlauben. Bisher war das nur den in der DDR oder bis 1992 in Gesamtdeutschland zugelassenen Simsons erlaubt.
Ja, ja, überall regt es sich in Berlin. Aus allen Ecken bricht etwas Lebendiges hervor. Wohin man auch schaut. Ich brauche deshalb heute nicht zu einer 1. Mai-Demo gehen, um mir Menschen mit bunten Transparenten anzuschauen. Die Revolution findet auf meinem Balkon statt. Vor zwei Wochen habe ich in einem Buch ein Tütchen mit Sonnenblumensamen gefunden. Ich verstecke gerne Erinnerungsstücke als Lesezeichen in Büchern. Muss schon sechs Jahre alt sein. Ein Werbegeschenk des „Sunflower Backpacker Hostels“ am Bahnhof von Pisa. War mit dem Motorrad da. Lange her. Eigentlich zu alt für Samen. Da ist bestimmt alles tot. Aber versucht habe ich es trotzdem. Schön verteilt auf drei kleine Tontöpfe, in denen ich in den vergangenen Jahren immer mal Blumensamen mit meinen Jungs vorgezogen habe, damit sie erleben, wie neues Leben entsteht. Und was soll ich sagen? Vor meinem Fenster stehen jetzt zwei grüne Sprösslinge, schief wie der schiefe Turm von Pisa. Recordi di Italia, oder so ähnlich. Ich habe einen alten Bleistift als Stütze reingesteckt, damit sie auch „zum Lichte empor“ wachsen. So viel Revolutionsromantik muss am ersten Mai sein. Im dritten Topf tat sich lange nichts. Dann habe ich noch Ringelblumensamen vom letzten Jahr dazu gemischt. Das hat dem müden Sonnenblumenkern anscheinend einen Kick gegeben. Jetzt wächst beides in einem Topf. Das wird wahrscheinlich wieder Streit unter den Brüdern geben, denn jeder Topf ist mit bunten Glitzersteinen markiert. Und die, die nur eine Sonnenblume im Topf haben werden sich natürlich beschweren, dass ihr Bruder mehr in seinem Topf hat. Wenn es sie überhaupt noch interessiert. Ich bin noch weit entfernt von einer grünen Revolution im Privaten, aber es bewegt sich was, das mich gleichzeitig beruhigt. Und ich hoffe, bei euch ist das auch so. Ich werd heute Abend mal meine Tochter anrufen, wie es in Neukölln war. Aber wahrscheinlich war sie nicht auf der Demo, sondern im siebten Himmel. Frühling halt.
Wenn man will: Jeder Tag ein Drama mit vier Akten, oder fünf. Zu viel im Kopf, um es aufzuschreiben. Ist ja auch immer das Gleiche. Oder ich mache immer das Gleiche draus: „Flyn over the same old ground, what have we found? Same old fear…“ Mein Motorrad hab ich verkauft. War nicht leicht, nach 15 Jahren. Hab dem Händler noch die Regenplane mitgegeben, damit es nicht im Regen steht auf dem fremden Hof. Gibt auch nette Sachen. Zoobesuche mit den Jungs. Jeder einzeln, jeder anders, aber alle begeistert. Morgen zum dritten Mal. Ich bin reich gesegnet. Mein Lieblingsvogel ist der nachdenkliche Haubenkakara. Ach ja: Ich habe noch einen Lieblingsvogel. Es ist ein Geier. Hat mich beeindruckt, wie er, unbeeindruckt von den Besuchern, sein tägliches Stück Aas zerfetzt hat. Muss halt jeder tun, was er am besten kann.
Ich lese, was ich so unterwegs finde. Schreiben tue ich jetzt gerne wieder auf Papier. Sinnlose Sachen, aber schön geschrieben. Soll beruhigen, tut es auch manchmal. Habe in meiner Sammlung einen russischen Füller mit goldener Feder gefunden, einen Авторучка aus St. Petersburg. Schreibt unregelmäßig, kratzig, wie eine alte Feder. Macht großen Spaß. Meiner Tochter schreibe ich kleine Nachrichten mit russischen Wörtern, seit ich das kyrillische Alphabet auf meinem iPhone gefunden habe. Kleiner Geheimcode. Wir verstehen uns gerade gut.
Ach ja: Ist bei euch auch die Jetpack-App abgestürzt?
Es ist schon erstaunlich, was alles so in einen Tag hineinpasst. So ohne Plan, so von Dawn till Dusk. Bin mit der Sonne aufgewacht, das war nach neuer Uhrzeit um 7 Uhr und mit der Abenddämmerung um halb 5 wieder in die Straße eingebogen, die in meiner Adresse vorkommt. Hätte ein voller Arbeitstag sein können. Aber einziger Tagesordnungspunkt heute war: Fädenziehen. Vor zwei Wochen hat mich mein Motorrad abgeworfen. Im Stehen. Vor der Haustür. Das muss man erstmal hinkriegen. Und sich dabei das Schlüsselbein zu brechen, schafft auch nicht jeder, selbst in meinem Alter. Meine Jungs haben mit mir das Motorrad wieder aufgestellt, die Mutter meiner Kinder hat mich ins Krankenhaus gefahren. Ein Freund hat das Motorrad abgeholt und bei sich untergestellt. Auch wenn ich auf die Nase falle: Ich bin nicht allein. Das ist gut zu wissen. Und zwei Tage später lag ich unterm Messer. Alles ging flott und professionell. Vom 13. Stock des frisch renovierten Charité-Hochhauses konnte ich auf Berlin schauen, mit besten Aussichten auf den Bundestag. Meine Tochter kam mich besuchen. Alles hat sein Gutes. Auch dass ich mit dem Arm in der Schleife mal wieder aus dem Wedding ins gediegene Westend komme, zu meiner Orthopädin, zu der ich eigentlich so schnell nicht wieder hin wollte. Aber einmal da, und mit einem Attest für die nächsten zwei Wochen entlassen, wollte ich auch nicht wieder nach Hause. Was soll ich da? Mich einstauben lassen? Es war noch nicht mal 10 Uhr. Unentschlossen bummele ich den Kaiserdamm zurück zur S-Bahn, finde eine Bäckerei, trinke erst mal einen Kaffee und vor der S-Bahn-Treppe sehe ich, das gleich nebendran ein ruhiges Viertel liegt, mit Gründerzeithäusern, Linden und Kopfsteinpflaster. Die Sonne scheint, es ist ein heller Herbsttag. Das merke ich erst jetzt. Also die S-Bahn fahren lassen und ins unbekannte Viertel eingeschwenkt. Mein Handy sagt mir, dass hier der Liezensee um die Ecke ist, ein Jugendstil-Gartendenkmal, von dem ich schon oft gehört haben, das ich aber auch nach 25 Jahren Berlin noch nicht gesehen habe. Eine Runde um den See, ein bisschen mit dem Herbstlaub rascheln. Ganz vorsichtig die Treppen runter, denn mein Knochen sagt mir, dass er nicht noch einmal einen Sturz aushält. Ehrfürchtig schweigende Kindergartenkinder werden von plappernden Erzieherinnen in elektrisch surrenden Karren über die Kieswege zum Parkspielplatz gelenkt. Ältere Pärchen in Daunenjacken begehen den gemeinsamen Lebensabend. Laubengänge leiten mich zum Ufer. Das einzig räudige hier sind die jungen Schwäne, die noch ein paar graue Streifen im schon ziemlich anmutigen Federkleid haben. Die Stadt ist doch nicht so schrecklich wie sie scheint. Ich mach Pause vom Überlebenskampf. Eine Seegaststätte in Blickweite stärkt meine Schritte. Die Stühle sind hochgestellt, die Küche noch nicht warm, aber ich kriege ein Rührei und einen Tee. Ich mag es, wenn man für mich eine Ausnahme macht. Der Blick geht auf den Funkturm. Als ich an der anderen Uferseite weiter streife, lande ich in einer Bücherbox, in der der Nachlass eines Menschen gelandet ist, der nicht viel älter als ich gewesen sein kann. Eine fast komplette Ausgabe von Asterixheften und ein Roman von John Fante machen meine Tasche schwer. Es ist Mittag. Auf den sonnenbeschienenen Bänken am Ufer sammeln sich einsame Seelen mit Büchern in der Hand. Für eine halbe Stunde darf ich einer von ihnen sein. Dann befällt mich der Skrupel: Zwischen „es sich gut gehen lassen“ und „sich gehen lassen“ kann ich nicht gut unterscheiden. Also zurück in den Wedding. Aber auch da habe ich keine Lust auf Heimkehr. Neben dem S-Bahnhof Wedding gibt es einen alten CD-Laden, über den ich immer schon mal berichten wollte. Rein in die Höhle, die mit Heavy-Metal-Postern tapeziert ist. Ein kleiner Plausch mit Manfred, der den Laden schon seit 1981 führt. Ich verspreche, mit meinem Fotoapparat wieder zu kommen, laufe weiter, die Straße hoch, lande im Lesesaal der Schiller-Bibliothek. Tauche ab zwischen eifrigen Schülerinnen mit Kopftuch und schweigenden Lesern. Eine Stunde und zwei Comics später bin ich wieder auf der Straße. Was für einen Luxus habe ich mir gegönnt. Ich schlendere weiter, mache kleine Besorgungen bei der Post und bei der Bank, schaue was Tschibo Neues hat und lande in einem türkischen Frühstückscafé, das gerade dabei ist, seine Auslage einzuräumen. Denn Frühstück ist lange vorbei, draußen versinkt die Stadt schon in der Dämmerung, Blue Hour. Wo ist die Zeit geblieben? Früher habe ich die Melancholie dieser Übergangszeit geliebt und gefürchtet. Wer jetzt kein Heim hat, findet keines mehr. Heute habe ich eins und mache mich in der Dämmerung auf den letzten Teil meines Weges. Es ist mir warm.
wenn der Regen fällt in der Stadt. Dann sind die Straßen leer. Die Touristen haben sich in die Shopping-Malls geflüchtet und du hast freie Bahn auf der Friedrichstraße von Nord nach Süd. Auch auf dem alten Tempelhofer Flughafen ist niemand, außer du und dein Freund. Im Sturm lauft ihr über das Rollfeld. Es ist wie ein Spaziergang auf dem Deich an der Nordsee. Ihr erzählt euch eure Krankheiten. Auf dem Hinweg werden die rechten Hosenbeine nass, auf den Rückweg die linken. Dazwischen sitzt ihr im Café 108, in dem sonst kein Platz zu finden ist, und putzt euch eure Brillen. Natürlich ist das ein Sommer, an dem die Mopeds Trauer tragen. Aber die Kastanien im Garten haben noch kräftig grüne Blätter wo im letzten Jahr nur noch brauner Mottenfraß war. Auch ich lebe auf. Neue Ideen sprießen.
Ich hab mir ne Jeans-Jacke gekauft! Ne echte, von Levis. War ein Schnäppchen. Second-Hand in nem Laden der „Klamotte“ heißt. Von Susanne Haun war mir versprochen worden, dass es dort senffarbene Lederjacken gibt. Na, dachte ich: Wird bald Sommer, musste dir was Neues kaufen. Was Leichtes, für Abends zum Überziehen. Mal ne frische Farbe, Senf, das hatte ich doch schon mal, so Mitte der 90er. Aber keine weißen Socken dazu, darauf möchte ich ehrenhalber hinweisen, aber einen Schnäuzer – ja das waren schlimme Zeiten, damals. Das war so in meinem Hinterkopf, als ich so mittags mit meinem Moped (saharagelb) meine Besorgungen machte. Schönes Wetter war, die Straßen lagen zu meinen Füßen und ein wenig Übermut machte sich in mir breit. Was kostet die Welt? Schwer nur konnte ich der Versuchung widerstehen, wieder die steil gewundene Auffahrt zum Karstadt-Parkhaus hochzujaulen, wie ich es vergangene Woche erstmals geschafft hatte. Mit schlappen 3 PS unter sich fordert das schon einige Geschicklichkeit, überhaupt oben anzukommen. Dafür ist es auf dem Hochdeck wunderbar ruhig und sonnig. Beim nächsten Mal nehme ich einen Liegestuhl mit. Aber nicht heute. Ich blieb am Boden und überlegte mir zwischen Kuppeln und Schalten, wo ich meinen Mittagskaffee nehmen sollte. Schlank parkte ich mein Moped vor dem Café Leo, wo es ein bisschen nach Männerklo roch. Aber ich würde schon mein Plätzchen finden auf dem großen Leopoldplatz. Doch gabs nur Kaffee im Pappbecher. Und wie wußte mein Vater selig, der sein Leben lang Kaffee aus der Thermoskanne getrunken hatte vom Hörensagen? „Der Kaffee kann noch so gut sein, aus dem Pappbecher schmeckt er nicht.“ Also das Bein lässig wieder über den Sattel geschwungen und mit einem kurzen Kick ging’s weiter. Da lag die Klamotte vor mir. Senffarbene Lederjacken waren aus. Der Artikel von Susanne hatte einen richtigen Run ausgelöst. Aber in einer Ecke hingen Jeans-Jacken, blau und verwaschen. So was hatte ich ja schon ewig nicht mehr gesehen. Gabs aber noch. Und wenn ich mich einmal entschlossen habe, in einen Laden mit Anziehsachen zu gehen, dann muss ich auch was kaufen. Dann hab ich’s hinter mir. Und Second-Hand ist ja auch gut fürs Klima. Und überhaupt: Ein Mann wie ich kann so was tragen. Und ne schlanke Taille macht das auch, das sah ich im Spiegel sofort. Es war ein komisches Bild: Oben graue Haare, dann verwegenes Blau und darunter eine graue Anzugshose (ein fröhliches Mausgrau) Ach sag ich mir: Susannes Mann hat auch sone Jacke, und der ist auch schon über die Fünfzig. Und überhaupt: Wer hier mit seinem Stahlross die Straßen des Wedding beherrscht, der kann auch sone Jacke tragen, oder? Leider ließ der Klamotten-Mann nicht mit sich handeln, noch nicht mal einen Kaffee wollte er mir als Rabatt geben. Also nahm ich eine Cola und plauderte noch ein wenig. Ach, sie hätten ganz gemischtes Publikum, nebenan sei ein Tatoo-Studio. Und manchmal kämen sogar auch Leute über 60 und würden was finden. „Ach?“, lächle ich verkrampft und fahre mir durchs schüttere, graumelierte Haar. „Tatsächlich?“ Jetzt wird es langsam dunkel. Vielleicht kann ich es jetzt wagen mit meiner neuen Jacke eine Runde durch den einsamen Park zu drehen. Sieht ja keiner.
Eigentlich geht’s mir gerade so lala. Heute morgen habe ich mich noch gefragt, wie ich die fünf Jahre schaffen soll, bis ich meine Rente kriege. Und dass das Durcheinander auch dann kein Ende hat, weil meine Rotznasen dann erst 13 und 16 sind und ich auch in der Rente immer noch keine Ruhe habe. Dann bin ich mit meinem Jüngsten ins Strandbad Plötzensee gefahren. Wetter war schön, Wasser war kalt, die Stullen haben geschmeckt. Sonnenbrand haben wir auch gekriegt und ein Eis. Na dann ging’s mal wieder ein Weilchen. Nur zum Bloggen komme ich nicht mehr. Man muss sich ja dafür manchmal recht viele Gedanken machen. Und das mache ich mir ja sowieso die ganze Zeit. „Heute mache ich mir keine Gedanken, heute mache ich mir ein Brot.“ soll der Kabarettist Wolfgang Neuss mal gedichtet haben. Recht hat er. Sollen doch andere die Arbeit erledigen. Die Künstliche Intelligenz soll da doch da ganz gut sein. Also Chat GPT angeworfen und mal so aus Daffke „Spaziergang durch den Wedding im Stil von Franz Kafka“ eingegeben. Kafka war zwar mal in Berlin. Aber sicher nicht im Arbeiterbezirk Wedding. Vor dem ersten Weltkrieg kam er ein paar mal Felice Bauer, seine Verlobte aus gutem Hause, besuchen und 1923 kam er noch mal für länger nach Steglitz, aber da ging’s ihm schon so schlecht, dass er nicht mehr spazieren ging. Also muss sich die KI da was zusammenreimen.
Und das tut sie auch. „Der Spaziergänger könnte sich zwischen endlosen Mauern verlaufen, ohne einen Ausweg zu finden.“ Etwa so? “Der leichte Nieselregen schluckt das funzlige Licht der wenigen Straßenlaternen. Die Fenster der Häuser sind finstre Löcher. Es ist eine der Straßen, in die Männer nicht alleine gehen sollten. Das sagt einem schon das Gefühl. Und mein Gefühl ist nicht gut, als ich in die schäbige Gasse neben der alten Fabrik einbiege. Kein Mensch unterwegs, die wenigen Autos jagen schnell vorbei. Ich überlege kurz, ob das eine der Gegenden ist, vor denen die Polizei warnt. Eine der Gegenden im Wedding, die man nach Sonnenuntergang nicht mehr betreten soll. Ach was, lache ich in mich hinein, und wische mir den Regen und den Schweiß von der Stirn…“ Weiter rät mir der Algorithmus “… und plötzlich von seltsamen Gestalten verfolgt werden, die aus dem Nichts auftauchen.“ Etwa so? „Ein wild gestikulierender Mann kommt uns entgegen. „Ist doch alles total Scheiße hier.“, schreit er um sich, wissend, dass keiner seine Wut hört. „Alles total runtergekommen, auch du, du Arschloch.“ Er schaut mich dabei nicht an und trampelt weiter. Die Straßen bleiben leer.“ Hm, kommt mir bekannt vor. „Es könnte auch Momente geben, in denen die Umgebung ihre Gestalt verändert, und man sich in einer völlig fremden Landschaft wiederfindet.“ Also so? „Wir verlassen den Bahnhof, aber kehren wie von einem Zwang geleitet wieder zurück – um Fahrkarten zu kaufen. Der Automat spuckt die Karten in die Stille, die nichts Bedrohliches hat. Die Sonne scheint golden. Es gibt keine Zeit. Dann ist Nacht. Ich steige aus dem Auto, greife meinen Rucksack, greife mir meine Zwillinge, und gehe in meine Wohnung. Doch in der Wohnung hat sich der Rucksack verwandelt. Es ist jetzt der Rucksack der Mutter der Jungs. Ich telefoniere, will sie zurückholen. Aber ihr Handy klingelt in meinem Flur. Dann wieder Sonne, eine vierspurige Ausfallstraße im Osten Berlins.“ Die aufmerksame Leserin und der aufmerksame Leser wird es längst gemerkt haben: Die Beispiele sind keine Vorschläge der KI, sondern Texte von „Kafkaontheroad“. Habe ich also seit Jahren Texte geschrieben, die der Anweisung eines Computerprogramms entsprechen, das ich nur noch nicht kannte? Wusste da in den USA jemand schon lange, dass ich irgendwann auf die Idee kommen werde, kafkaeske Geschichten aus Berlin zu erzählen? Und ich habe nur erfüllt, was eine unbekannte Macht schon lange für mich vorherbestimmt hatte? Kafka hätte die Idee gefallen. Mir nicht!
KI geht nämlich auch andersrum: Da die KI nichts Neues erfinden kann, bedient sie sich aus den Inhalten im Netz. Und da es dort zu Kafka und Berlin-Wedding nichts zu finden gibt, sucht sie einfach weiter und stößt auf „Kafkaontheroad“ der in Berlin-Wedding lebt. Dumm wie sie ist, nimmt sie das als Texte des Meisters. Meine Texte haben also beeinflusst, was Chat GPT künftig zu Kafka und Berlin ausspucken wird. Chat GPT hat bei mir abgeschrieben, und nicht umgekehrt. Das ist doch ein beruhigendes Gefühl, den Inhalt vieler Schüleraufsätze zu Kafka beeinflusst zu haben. Also, liebe Deutschlehrerinnen und Lehrer: Wenn euch die fleißigen Lernenden erzählen, dass Kafka im Wedding um die Häuser gezogen ist: Das ist Fake. Das ist abgeschrieben. Und ich pflege jetzt meinen Sonnenbrand und überlege mir, womit ich die KI als nächstes hinters Licht führe. Hatte Kafka nicht ein Motorrad? Ja hatte er. Und er hatte auch viel Spaß damit. Aber welche Marke? Solche Suchanfragen landen manchmal bei mir. Ich werde die Welt davon überzeugen, dass es so was wie meine Moto-Guzzi war, obwohl es die zu Kafkas Zeiten noch nicht gab. Und bald wird ein völlig unbekanntes Kafka-Manuskript auftauchen: „Aus KI und Wahnsinn“. Ich werde es im Strandbad schreiben. Zwischen Kindergeschrei, Pommes und Sonnenöl. Ihr werdet von mir lesen.
Wir sitzen zusammen im Auto. Er hat den alten Kombi an die Seite gefahren. Der Motor schnurrt weiter, aber es wird still, denn er hat aufgehört zu erzählen. Er hat mich wie immer zum Bahnhof gebracht, aber ich habe noch nicht gemerkt, dass unsere gemeinsame Fahrt vorbei ist. Ich will, dass es weitergeht. Seit Stunden höre ich ihm zu. Und ich erwarte, dass er die letzte Geschichte zu Ende erzählt. Aber für ihn ist Schluss. „Und was habt ihr gemacht, als dann die Polizei kam?“, frage ich, wie ich seit Stunden immer wieder frage, um immer neue Geschichten aus ihm herauszulocken. Ich will mehr als seine Stammtischsprüche und die abgeschliffenen Worte, mit denen alte Männer die Heldentaten ihres Lebens erzählen. Aber jetzt kommt nichts mehr. Es muss was mit der Nachricht auf seinem Handy zu tun haben, auf die er jetzt gehetzt schaut. Von seiner Frau? Vor Verwirrung vergessen wir, uns mit einem kräftigen Handschlag zu verabschieden, wie wir es sonst tun. Ich stehe auf dem kalten Gehweg und er dreht den Wagen auf die öde Brandenburger Landstraße. Dabei waren wir eben noch in der Pizzeria im alten West-Berlin wo vor fast fünfzig Jahren sechs Rocker seine Freundin (Weeste, die sah verdammt jut aus, ne echte Puppe) blöd angemacht hatten. Und er und sein Kumpel sind, na klar, mit den Kerlen vor die Tür, und dann gab’s Schläge, bis dreie auf der Straße lagen. Na klar, ein Kerl wie Bernd lässt sich nicht verarschen. Und Bernd gewinnt immer.
Zu Bernd, der natürlich nicht Bernd heißt, fahre ich mindestens einmal im Jahr. Durch ganz Berlin bis in den Süden, irgendwo zwischen Autobahnkreuzen, zwischen dem Berliner Ring und dem neuen Flughafen, in den schäbigen Hallen der ehemaligen Motoren-Traktoren-Station hat er seine Werkstatt. Bernd ist mein Schrauber. Wer, wie ich, ein vierzig Jahre altes Motorrad am Laufen halten will, brauch jemand wie Bernd. Einen, der sich noch auskennt mit der alten Technik italienischer V-Motoren, der einen beruhigt, wenn man mal wieder leerer Batterie irgendwo liegengeblieben ist und der einem, wenn mitten in der Hochsaison, eine Woche vor der geplanten großen Tour nach Italien, Öl vom Zylinderfuß tropft, sagt, dass man sofort vorbeikommen kann. Aber Bernd ist auch eine Diva. Er entscheidet, was für mich und meine Maschine gut ist. Wenn ich einem neuen Drehzahlmesser will, bekomme ich gesagt: „Wer eine Guzzi fährt, braucht keinen Drehzahlmesser, der hört auf den Motor.“ Und wenn ich verchromte Blinker haben will, baut er schwarze dran, weil er die noch auf Lager hatte. Er ist der Meister, ich der Eierkopf. Aber ich weiß, dass ich bei ihm in guten Händen bin.
Aber auch ein Mann wie Bernd braucht Trost. Von Anfang an war seine Ansage: „Wenn de hier vorbei kommst, musste ooch Zeit mitbringen zum Quatschen.“ Und weil ich so bin wie ich bin, werden es bei uns keine „Benzin-Gespräche“ unter Motorradfahren, sondern habtherapeutische Beziehungsgespräche. Bernd will reden. Seit mehr als zehn Jahren klagt mir Bernd sein Leid. Zwei gescheiterte Ehen, eine schmutzige Scheidung, bei der er sein ganzes Vermögen verlor, der Sohn, der mit Mühe und der Unterstützung des Vaters gerade mal so die Ausbildung als Kfz-Schlosser geschafft hat und jetzt auf Abwegen im türkisch-arabischen Kiffer-Milieu von Kreuzberg herumlungert. „Kriegt nix Ordentliches auf die Reihe.“, sagt Bernd und ich weiß, dass ihm das halbseidene Herumgewurschtel seines Sohnes schwer zu schaffen macht. Aber auch meine Geschichten kennt Bernd: Die Zwillinge und ihre Mutter waren schon in seiner Werkstatt, als er noch die Motorradfahrer zum Saisonende zu seinen Feiern einlud, für die er seine Werkstatt liebevoll dekorierte. Er hat unseren Polo gekauft, als wir für die Jungs ein größeres Auto brauchten (er läuft heute noch) und er hat meine ganze Geschichte mit der Trennung und dem Umzug mit väterlichen Ratschlägen begleitet.
Das ist lange her. Heute erzählt nur noch Bernd. Und seit heute weiß ich Sachen über ihn, die ich lieber nicht wissen wollte. Oder doch? Dass Bernd in seiner Jugend selber Rennfahrer mit einem hochgezüchteten Rennboliden war, wusste ich. Aber bisher dachte ich, dass er sich diese teure Leidenschaft mit dem Reparieren und Frisieren anderer Sportwagen verdient hat. Dass seine Kunden Rechtsanwälte und Bordellbetreiber aus der West-Berliner Unterwelt waren, die sich die großen Geldscheine, die ihre Frauen für sie verdienten auf Tabletts servieren ließen, um sie dann achtlos unter das Bett zu werfen, wusste ich auch. Aber heute erzählte er mir, dass er nicht nur für „den dicken Hartmann“ gearbeitet hat, in dessen Puff sich Berliner Senatoren mit Baulöwen und Immobilienhaie trafen, sondern auch als Schläger für einen Spekulanten. Mit einem Grinsen im Gesicht erzählt er mir von einem Angriff auf ein besetztes Haus, das die Polizei nicht räumen durfte. Ein Schuss mit einer abgesägten Schrotflinte habe gereicht, um die Besetzer zu vertreiben. Und als die Polizei kam, von den Besetzern gerufen, habe man sie gemütlich begrüßt. Das Gewehr war natürlich nicht mehr zu finden. Bernd kann keener. Vor meinem Auge entsteht eine Welt von breitschultrigen Männern mit langen, fettigen Haaren und Schnurrbart, Kerle in Lederjacken und Cowboystiefeln. Die 70er-Jahre „Johnny Controletti“-Unterwelt von der Udo Lindenberg noch heute singt. Von Kurierfahrten nach England erzählt er, bei denen er auf der Rückfahrt im Lüftungskasten seines Lieferwagens Yorkshire-Terrierwelpen geschmuggelt habe. Ohne Papiere natürlich. Die habe ihm ein Tierarzt auf der Rennbahn Marienfelde besorgt, für den er einen Porsche Carrera aufgemotzt habe. Und die Hunde habe er für das Dreifache an die Mädchen im Puff vom dicken Hartmann verkauft. Kleine, bauernschlaue Geschäfte, schmutzige Tricks und plumpe Gewalt. Bernd gewinnt gegen den Rest der Welt. Und kein schlechtes Gewissen. Das was er heute ablegt ist keine Lebensbeichte, sondern klingt wie ein genüsslicher Monolog über große Taten und Jugendsünden. Er ist stolz auf all das, was ihn heute bei seinem Sohn zur Verzweiflung bringt.
Was fange ich an mit diesen Geschichten? Eigentlich ist es eine Groschenheftgeschichte, ein B-Movie aus den 70ern „Wilde Kerle, heiße Mädchen, schnelle Motoren“. Aber es ist eine halbwegs wahre Geschichte aus dem wirklichem Leben. Ich liebe solche Geschichten und ich glaube, Bernd wäre nicht abgeneigt, wenn ich ihm anbieten würde, sie aufzuschreiben. Aber ich will sein Ego nicht noch mehr pampern. Und ich weiß, dass Bernd mich bescheißt, so wie er alle bescheißt. Nicht nur bei den Reparaturen, wenn er teure Spezialteile ausbaut, und gegen Standardware tauscht, sondern auch bei den Geschichten. Ich fahre nicht mehr gerne zu Bernd, denn das Erzählen funktioniert nur, wenn ich mich selbst völlig zurücknehme. Nach den Erzählungen fühlt er sich groß und ich mich klein. Was habe ich schon zu erzählen, wenn ich den zu Wort käme? Was passiert, wenn ich ihm sage, dass ich ihm die Räuberpistolen nicht glaube? Ich mache mich abhängig von Bernd. Das Motorrad habe ich mir mal gekauft, um mit Männern wie ihm in Kontakt zu kommen. Von Kerlen wie ihm akzeptiert zu werden. Aber in dieser Welt gibt es zu viele Kerle mit zu großer Klappe, die denken, dass sie machen können, was sie wollen. Und sie suhlen sich in meiner Bewunderung. Aber ich mache auch mein Geschäft. Ich lasse zu, dass er sich wie ein Kietz-König fühlt, damit er einen Deal mit dem TÜV-Ingenieur macht, und ich meine Plakette kriege. Kleine, miese Geschäfte. Wird Zeit, dass ich das Motorrad verkaufe. Aber nicht an Bernd.