Zwei Tage im Frieden

Na, ist noch jemand zu Hause? Oder sind alle draußen im Grünen bei dem schönen Wetter?
Also mein Freund und ich waren nach dem Feiertag (ja, Berlin hat die Befreiung von Krieg und Naziherrschaft am 8. Mai mit einem Feiertag begangen) mit dem Rad unterwegs. Von Frankfurt/Oder durchs Schlaubetal nach Eisenhüttenstadt und zurück. Die „Mönchstour“, weil man dabei am Kloster Neuzelle vorbeikommt. Ja, war wieder schön gewesen. Hier ist Brandenburg so ein bisschen wie da wo ich herkomme. Es klappert die Mühle am rauschenden Bach. Die Schlaube ist ein kleiner Bach, an dem früher viele Mühlen und Eisenhämmer betrieben wurden. Heute sind das Biergärten. Wir kehren gleich beim ersten ein, nachdem wir den Schreck am Bahnhof Frankfurt hinter uns haben: Viel Polizei in voller Montur. Grenzkontrollen an der Friedensgrenze zu Polen. Und das auf nüchternen Magen. Wir sind unverdächtig. Und nachdem ich mich bei der Bäckereiverkäuferin, die tapfer das babylonische Sprachgewirr ihrer Kundschaft meistert, mit einer Bockwurst versorgt habe, die so fade, fett und verkocht schmeckt, dass ich mich sofort wohlig in die alte DDR zurückversetzt fühle (noch schlimmer sind nur die, die man in Polen kriegt), suchen wir gleich die erste Gelegenheit, um den Geschmack aus dem Mund zu bekommen. Ist viel passiert hier, seit ich das letzte Mal da war. Neue Fußgängerbrücke, geteerte Fahrradwege und keine Menschen mehr auf den Straßen. Alles leer, auch im Biergarten, der ein Idyll ist. Es klappert.. (siehe oben). Eigentlich ist geschlossen. „Ich kriege ja kein Personal mehr.“, klagt die weißhaarige Mühlenwirtin. „Nur noch Ukrainerinnen, die was schwarz neben dem Bürgergeld verdienen wollen.“ Ob‘s noch ein Bier gebe, fragt mein Freund. „Ein Bier gibt‘s immer.“, ist die joviale Antwort, und schon stehen zwei „Radler“ in schimmernden Glaskrügen vor uns. „Aber den Blütenstaub kann ich nicht auch noch von den Tischen wischen.“
Und heiter gehts weiter. Solange wir uns an die ausgeschilderte Route halten (das Zeichen, dem wir folgen ist ein Mönch, der gemütlich auf seinem Fahrrad schlingert) ist‘s auch wirklich nett, dunkel, üppig und voller Nachtigallen. Aber als wir einmal falsch abbiegen, sind wir wieder in der Brandenburger Wirklichkeit: Staubige, kahle Äcker, leere Dörfer, die aus einem Baumarktkatalog zusammengebaut zu sein scheinen und kläffende Hunde hinter Zäunen. Mir tut mein Knie weh. Unsere Rettungsinsel ist das Kloster Neuzelle. Eine barocke Pracht, die man eher aus Bayern kennt. Geht auch in Brandenburg. Und selbstgebrautes Bier gibt‘s auch: „Schwarzer Abt“. Danach schlingern wir wie der Mönch auf unseren Rädern nach Eisenhüttenstadt, der „ersten sozialistischen Stadt auf deutschem Boden“ – heute das größte Flächendenkmal Europas. Menschenleer, wie die Dörfer drumherum. Aber das Stahlwerk arbeitet noch. Ein Geruch nach Koks und kaltem Kamin, wie ich sie noch aus meiner ersten Berliner Wohnung mit Ofenheizung kenne, liegt schon Kilometer vorher in der Luft. Eigentlich hätten wir stilgerecht im Hotel „Lunik“ absteigen müssen, ehedem das erste Haus am Platze, aber das Lunik ist eine Ruine. Also wird es das Hotel „Berlin“, das einzige Hotel, das es in der Stadt noch gibt. Der Empfang ist solide und herzlich. „Ham‘ ses doch noch jeschafft.“, kumpelt die Empfangsdame, die ich von unterwegs angerufen hatte, weil wir uns ja verfahren hatten. Sie empfiehlt uns das deutsche Restaurant nebenan, in dem es grabesstill ist und nach kaltem Frittenfett riecht. Also gehen wir zum Griechen, gleich unten im Keller. Hier brummt der Laden, Familien mit Kindern feiern (Jugendweihe?) und die Lammkotteletts schmecken wie Schuhsohle. „Nimm Essen mit, du fährst nach Brandenburg.“, singt Reinald Grebe.

Am nächsten Tag, dem Samstag, treffen wir nur nette Menschen in unserem Alter. Ist wirklich so. Keine Ahnung, wo die anderen abgeblieben sind, die Jungen, die Familien, die ganz Alten. Vielleicht interessieren sie sich nicht für das Museum „Utopie und Alltag“, das in einem ehemaligen Kindergarten untergebracht ist. Und eigentlich hat das Museum auch noch zu. Aber ein Herr in unserem Alter steht davor, er ist Maler (hab noch bei Tübke in Frankenhausen das Bauernkriegsfries mitgemalt; 3,50 Meter davon sind von mir…) und Mitglied des Museumsbeirates, der sich früh trifft und nachdem die Computer und die Lichtanlage hochgefahren sind, weist uns eine beflissene Frau in unserem Alter in die Dauer- und die Sonderausstellung (Völkerfreundschaft) ein. Es ist wirklich ein gut kuratiertes Museum über die Alltagskultur der DDR. Es gibt ja einige, in denen nur ein paar Küchengegenstände aus Plaste und ein Schwalbe-Moped in eine Scheune gestellt werden. https://www.utopieundalltag.de/

Als ich nach dem Ausstellungsplakat zur „Fremde Freunde“ frage, kriege ich die Antwort: „Ist aus. Wir drucken das gerade nach. Die waren ganz schnell vergriffen.“ Völkerfreundschaft an der Friedensgrenze? Im Landkreis an der Oder hat die AfD im Februar 39,1 Prozent geholt. Wo sind die ganzen Nazis? Sitzen die alle zu Hause? Auf dem Radweg auf dem Oderdeich treffen wir nur freundliche Leute (unseres Alters) in Funktionskleidung auf Elektrorädern. Einer erklärt mir die Industrieruine, die hinter dem Deich auftaucht: Das war ein Kraftwerk, das die Nazis haben bauen lassen, weil sie hier mitten im Krieg eine große Chemiefabrik errichten wollten. Die Deutschen haben sich hier in den letzten Kriegstagen verschanzt, die Russen haben sie zusammengeschossen, als sie über die Oder sind. War da heute nicht was? Genau: 9. Mai, 80 Jahre Kriegsende. An einem sowjetischen Kriegerdenkmal halten wir an. An Kriegerdenkmälern hat es in Brandenburg keinen Mangel. Aber das ist das einzige, so weit ich mich auskenne, das für sowjetische Matrosen errichtet wurde. „Schwarzmeerflotte, ewiger Ruhm den Helden, die für die Freiheit der Sowjetunion und der Heimat… so weit reicht mein Russisch immer. Sie sind mit ihrem Boot in der Oder ertrunken. Arme Kerle. Auf dem Sockel liegen ein paar kümmerliche Nelkensträuße. Nebendran bietet ein fliegender polnischer Blumenhändler seine Ware an. Mit dem Wort „Schnittblumen“ kann er nichts anfangen. Ich kaufe eine rote Geranie im Topf für 2,50 Euro und stelle sie auf den Stein. Dank euch, ihr Sowjetsoldaten.

Ein paar Kilometer flussabwärts wird es dann richtig konkret mit der Völkerfreundschaft. In Aurith ist heute Deutsch-Polnisches Volksfest. Hier gibt es eine Fähre über die Oder (wenn der Fluss genug Wasser hat) und die Mädchen der „Oderwendischen Volkstanzgruppe“, nicht zu verwechseln mit den Sorben, wie ich belehrt werde, mümmeln Bratwurst vor ihrem Auftritt. „Bei den Polen ist heute noch viel mehr los.“, versucht mich ein EU-gesponserter Tourismusbeauftragter auf die andere Seite zu locken. Aber mein Freund will nach Hause. Immerhin erfahre ich bei der Tourismusinfo auch, dass das „Lunik“ in Eisehüttenstadt wieder aufgebaut wird. Diesen Sommer beginnt es als provisorische Theaterspielstätte. „Sie müssen unbedingt kommen, und unbedingt vorher die Führung durch das „Lunik“ mitmachen!“ charmiert eine Theaterbegeisterte aus Eisenhüttenstadt, die ausnahmsweise nicht in unserem Alter ist. Na, dann muss ich da wohl nochmal hin.

Auf dem Rückweg treffen wir dann doch noch einen Nazi, einen verklemmten. Er kommt auf einem schwarzen BMW-Motorrad mit Beiwagen daher, wie eine Motorradpatroullie der Wehrmacht. Es soll eine BMW R 71 aus Vorkriegsproduktion sein, was er da fährt, aber es ist eine mit versteckten Runen und Frakturbuchstaben umlackierte sowjetische Kopie, eine M72 Molotov. Da kenne ich mich aus. Hatte selber mal so eine, aber in lila!

So ist das mit den Nazis heutzutag: Alles eine russische Kopie.

Zeitenwende, zynisch

Diese Plakate hängen seit Anfang März in ganz Berlin herum. Und wenn das Motiv auch aussieht wie der ungelenke Versuch eines Hobby-Malers, der den Frühjarsstart seines Modellflugvereins über der Lüneburger Heide einfangen wollte, es geht hier um zwei Sachen: Krieg und Geld.

Es gibt gerade eine Menge Sachen, von denen ich nie geglaubt hätte, dass sie einmal Wirklichkeit würden. Und unverhohlene Werbung der Rüstungsindustrie auf Plakatwänden neben dem Regierungsviertel gehört dazu. Hier geht es um Aufklärungsdrohnen, Stückpreis 150 000 Euro. Sie werden derzeit an die Ukraine verkauft, dort auch produziert und eingesetzt. Jetzt soll die Bundeswehr Kunde werden. Man will sich seine Scheibe abschneiden von dem Kuchen, der wahrscheinlich morgen mit dem Beschluss des Bundestages zum Sondervermögen und zur Schuldenbremse gebacken wird. Und auch wenn die Kampagne das Zeitalter der Aufklärung, das ja mal bedeutete, dass man sich wagt, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, zynisch umdreht und auf die militärische Informationsgewinnung verkürzt; Aufklärung heißt ja auch: Untersuchen was hinter einer Sache steckt. Und da werde ich gleich bei Wikipedia fündig: Peter Thiel, US-Amerikanischer Milliardär, Mitgründer von Pay Pal und Pal von Elon Musk ist mit ein paar Millionen (17,5 Mio, um genau zu sein) an dem Unternehmen beteiligt. Ein John Heartfield hätte die Verbindung von Krieg, Großkapital und Profit nicht besser zusammenkleben können.

Und wo wir gerade bei der Kunst sind: Dreist ist auch der direkte Rückgriff auf die Bomberflotten-Ästhetik aus der Kriegspropaganda des zweiten Weltkriegs, die die Berliner Werbeagentur ZANATTA zu verantworten hat. Viele Flieger von unten gesehen fliegen von rechts unten nach oben links. Das lässt den Angriff siegreich aussehen. Ungefähr so:

Quelle: Imperial War Museum

Oder man nimmt gleich die Überwältigungsästhetik mit Frontalangriff und Deutschlandfahne. Da hilft nicht mal mehr wegducken.

Bild: Quantum Sytems

Stayn alive

Nein, Alkohol ist auch keine Lösung, obwohl das viele hier versuchen. Und nach der Sylvesternacht nüchtern durch mein Viertel zu gehen, ist an diesen unwirklichen Tagen zwischen den Jahren wirklich nicht einfach. Geflüchtet unter ein Brandenburger Flachdach komme ich am Neujahrstag zurück und mache meine jährliche Runde um den Block. Aber ich weiß immer noch nicht, ob das hier noch lebt, oder ob ich in einer untoten Stadt gelandet bin. Freunde waren im vergangenen Jahr in den USA und erzählten von Stadtzentren, in denen alle Läden geschlossen waren und sich auf den Straßen nur noch Menschen bewegten, die wie Zombies aussahen. Ich sach mal: Den Flug hätten sie sich sparen können. Hätten sie sich mal in die BVG gesetzt und wären mich besuchen gekommen. Allerdings: Weit wären sie damit nicht gekommen. Denn seit Sylvester fährt die Straßenbahn hier nicht mehr. Ausgestorben und leer sind die Haltestellen, verstummt die ratternden Schienen, ein großer Krater mitten auf der Strecke. Keine Kugelbombe wars, sondern ein 100 Jahre altes gusseisernes Wasserrohr ist gleich nach dem Feuerwerk geplatzt. Zu viel Vibration. Hätte längst ausgetauscht werden sollen, aber das hätte ja bedeutet, dass man die Straßenbahn hätte stilllegen müssen. Jetzt kann man hier Geisterbahn fahren, oder schnallt sich besser gleich die Rollschuhe unter.

Menschen, die unter einem Haufen Decken schlafen, und bei denen man nicht weiß, ob darunter noch ein lebender Körper liegt, gibt es hier auch in vielen Hauseingängen. So viele, dass ich sie schon nicht mehr wahrnehme. Einem, der immer würdevoll aufrecht vor einem neu renovierten leeren Ladengeschäft sitzt und aussieht wie eine Mischung zwischen Weihnachtsmann und indischem Guru hab ich gestern ein paar Münzen in die Filzpantoffel gesteckt, die er vor seinem Lager aufgestellt hat.

Bleiben die Zombie-Läden. Es werden immer mehr Läden in den Haupt- und Nebenstraßen, bei denen ich mich frage: Lebt da noch was? Machen die noch mal auf? Wird das noch was oder kommt da noch was Neues? Laden zu, Auslage leer und nicht immer ein Schild, das einem sagt was hier mal war, ob hier was kommt, oder ob einfach nur bis zum Ende der Weihnachtsferien zu ist. Der Uhrmacher, der Optiker und der Musikalienladen sind schon lange weg. Hier sind jetzt ein Shisha-Shop, eine Obdachlosenberatung oder auch einfach das Nichts eingezogen.

Und dann gibt es noch die Geschäfte, von denen man denkt, die sind doch bestimmt tot, da ist doch alles vorbei. Und dann brennt da doch noch ein kleines Licht, dann geht es doch irgendwie weiter. Die Fischerpinte am Plötzensee, die noch so lange leben darf, bis der Besitzer stirbt, der Angelladen, der gleich neben den leeren Schaufenstern seines alten Geschäfts ein neues Geschäft aufgemacht hat, der Buchladen, den die beiden Besitzer schon mehr als 40 Jahre führen und so lange offen halten wollen, bis sie umfallen. Und der windschiefe Kiosk von Herrn Nguyen, der die Nachbarschaft mit Schnaps und guten Worten versorgt. Und natürlich der Karstadt. Dieser riesige leere Betonklotz, der mit seinen zerrissenen und im Wind wehenden grauen Sicherungsnetzen an der Fassade schon von alleine aussieht wie eine Kulisse aus einem Endzeitfilm. Am Anfang des Jahres soll hier ein LIDL einziehen. Wenigstens ins Erdgeschoss. Na, ist doch was.

Ja und noch schöner ist es im neuen Jahr was wirklich Neues zu entdecken. Gleich neben dem nassen Loch in der Straßenbahntrasse sehe ich in der Nebenstraße diesen strahlenden Engel. Ein Geschäft mit Glamour und Schönheit in dieser grauen Ecke. Ja, ja: Es geht immer weiter. Und die Überraschungen hören nicht auf. Auch auf diesem Blog. Ein schönes neues Jahr wünsche ich euch.

Friedenspflicht

“Morgen ist Feiertag.“, sagt mein Friseur. „Deutsche Einheit“. „Deswegen bin ich hier.“ , sag ich, erstaunt über so viel staatsbürgerliche Bildung in einem arabischen Laden. „ Morgen muss ich schick sein, ich geh auf die Demo.“ „Ah, Demo, prima. Was für eine?“ „ Gegen Raketen in Deutschland und gegen mehr Waffen für die Ukraine“ „Alles klar!“, grinst mein Figaro und geht mit seinem freien Arm einmal über die Köpfe seiner vier Kollegen, der Männer auf den Frisierstühlen und des Lehrjungen. „Wir kommen alle mit.“ Er hat gute Laune und spinnt die Sache weiter: „Ist das mit Auto?“ „Nee“, sag ich. „Zu Fuß“. „Ah, das ist mir zu anstrengend, da bleib ich lieber im Bett.“ „Kannst auch mit dem Fahrrad kommen.“ „Da muss ich mir erst mal ein Fahrrad kaufen. Ich komm mit E-Roller. Ist das ok?“ Er ist jetzt fertig mit meinem Haaren. Jetzt sind die Ohren dran. „Soll ich die versengen?“ Ich zucke kurz, wegen der Wortwahl, weiß dann aber was er meint und nicke. „Feuer!“, ruft er durch den Laden und der schüchterne Lehrjunge bringt ihm ein Einmalfeurzeug. Es klickt ein paar mal. Viele kurze Flammen lecken in meine Ohrmuschel. Dann kommt er mit einem Gerät, das aussieht wie eine gläserne Laserpistole. Vorne leuchtet sie blau. Der Friseur drückt ab. Doch statt eines tödlichen Laserstrahls trifft mich eine Wolke von Aftershave und nebelt mich ein. „Ist auch ne Waffe.“, lacht er. Für die Demo bin ich jetzt gut gerüstet.

Weihnachtswärme

Es war dunkel geworden. So dunkel wie es in einer Vollmondnacht in einer Vorortstraße eben werden kann. So dunkel, wie es das Lichterkettengeflatter und die beleuchteten Rentiere in den Vorgärten noch zuließen. Es war der erste Weihnachtstag und wir standen im bläulichen Halblicht an einer Straßenkreuzung. Wir wollten an die frische Luft und wir wollten weiter, denn wir hatten noch eine Pflicht zu erfüllen. Wir waren erst fünf Minuten von zu Hause weg, und standen erst am Anfang des Waldes, aber die Kinder wollten wieder zurück in den Keller, zu ihrer Spielkonsole. Also waren wir mutig und ließen sie ziehen. Natürlich nicht ohne sie fünf Minuten später anzurufen, ob sie angekommen wären. Uns führte der Weg tiefer und tiefer in den Wald. Bald schon hörte die Feldsteinstraße auf und wurde zu einer schlammigen Kraterlandschaft. In den wassersatten ausgefahrenen Schlaglöchern spiegelte sich der Mond. Hier war kein Durchkommen mehr für Menschen ohne Auto, und doch schlichen wir uns an den Rädern, durch Büsche und kleine Umwege weiter, immer bedacht, nicht bis zu den Knöcheln im feuchten Dreck zu versinken und nicht das Geschenk aus der Hand fallen zu lassen, bis wir die weißen Häuser sahen, die einsame Straßenlaterne und das offene Feld. Hunde bellten. Wir hatten es geschafft. Ich hätte das Geschenk jetzt einfach in den Briefkasten am wackligen Zaun vor dem etwas halbfertigen Fertighaus geworfen. Ich kannten die Leute hier kaum und wir waren nicht angemeldet. Aber die Mutter meiner Söhne klingelte. Wir sahen durch das große, gemütliche erleuchtete Verandafenster Menschen an einem Tisch in goldenem Licht. Aber sie bewegten sich nicht. „Ich bin sicher, die haben schon Besuch.“, flüsterte ich peinlich berührt meiner Gefährtin zu, aber die hatte schon das schief hängende Gartentor aufgeschoben und stapfte durch den Garten, in dem, das wusste ich vom Sommer, Füchse auf die Hühner des Hausherrn lauern. Über eine Metalltreppe kamen wir zum Hauseingang und klingelten noch mal. Es rumpelte drinnen und in der Tür stand ein breitschultriger Mann mit dichten Augenbrauen. Und er war kein bisschen überrascht, freute sich wirklich, uns zu sehen und bat uns herein in einen engen, mit Kinder- und Wanderschuhen vollgestellten Flur und dann in ein Wohnzimmer, das warm war und aussah wie die Dekoration zur Carmen-Nebel-Weihnachts-Show, die zur gleichen Zeit im Fernsehn lief, nur in echt. Ein stattlicher, glänzender Weihnachtsbaum an dem echte Kerzen brannten, Pfeffernüsse; Tannenzweige und Stolle überall auf dem festlich geschmückten Tisch, zwei Jungs in Weihnachtspullovern und mit großen Augen, die auf den unerwarteten Besuch gerichtet waren. Im Hause meiner Söhne hatte die Kraft dieses Jahr nur zur nüchternen, schiefen Mini-Tanne und einer Schachtel Schoko-Lebkuchen gereicht, die von der Mutter im Küchenschrank versteckt wurde, damit sie über die Feiertage reicht. Auch die Freude über unseren Besuch war echt. Anscheinend war es ihnen genau so gegangen wie uns Am Nachmittag des ersten Weihnachtstages war die Luft raus und die Kinder drehten etwas durch. Wir waren rechtzeitig zum Kaffee gekommen, der hier dünn war, wie ihn Schichtarbeiter trinken. Aber ich fühlte mich wie zu Hause, wie bei Muttern. Endlich Weihnachten wie ich es kannte. Wir ließen uns von der Gastgeberin immer wieder zu einer neuen Tasse nötigen während, der Hausherr das Geschenk auspackte, das ich ihm überreicht hatte, weil er mir vor zwei Monaten mein gebrochenen Schlüsselbein wieder zusammen geschraubt hatte. „Wie geht‘s dir damit?“, fragte er ärztlich routiniert. „Geht so, ist noch nicht zusammengewachsen.“ „Du musst Geduld haben.“, antwortete er und war gleich danach wieder bei seinem Lieblingsthema: Der Jagd. Eine halbe Stunde erzählte er uns vom Ansitzen, von den schrulligen Jägerkumpels und der Kälte. Ich kannte mal ein paar Jäger und konnte die richtigen Fragen stellen um seine Begeisterung richtig zu würdigen. Und ich hatte den Eindruck, dass die halbe Stunde, die wir ihm zuhörten, das schönste Geschenk für ihn war. Als wir gehen mussten, führte er uns noch nach draußen, und zeigte uns sein neues Nachtsichtgerät. „Schau mal da hinten, am Waldrand stehen vier Rehe.“ Trotz Vollmond hatte ich bisher auf dem weiten Feld nichts als Acker gesehen. Jetzt sah ich durch das Gerät vier helle Punkte – schutzlos durch die neue Technik und die Nacht brutal entzaubert. Ich dache an die Soldaten in der Ukraine und die Menschen in Israel und Palästina, denen noch nicht mal die Nacht mehr Schutz bietet. Ich hatte es plötzlich eilig nach Hause zu den Jungs zu kommen. Die waren froh, uns zu sehen, weil sie sich langweilten seit sich die Spielkonsole vor einer halben Stunde automatisch abgeschaltet hatte.
Aber Weihnachten war noch nicht vorbei. Kaum hatten wir die Schuhe aus, stand ein weiterer Freund vor der Tür und hatte eine Schale mit frischen schmalzgebackenen Krapfen für uns, die noch warm waren. Dabei hätten wir ihn beschenken sollen, denn er hat uns dieses Jahr geholfen, als wir Ärger mit der Versicherung hatten. Aber echte Freundschaft fragt ja nicht nach Gegenleistungen. Wir aßen sie vorm Fernseher, der einen Riss hat, weil ein Sohn vor ein paar Monaten Wut den Controller seines Computerspiels in den Bildschirm gehauen hat, während wir die Carmen Nebel Show schauten. Falsche Gefühle und Kitsch, aber mir war danach. Warm im Bauch, warm ums Herz, etwas Freude gegeben, etwas Freude bekommen. So hat sich Weihnachten sich für mich lange nicht mehr angefühlt.

Falsche Friedensfreunde?

War es doch die falsche Demo? Endlich hatte ich mich samstagmorgens durchgerungen, gegen den Krieg auf die Straße zu gehen, da kriege ich abends von den Nachrichten um die Ohren gehauen, dass da die falschen Leute waren. Doch wieder falsch gemacht?
Ja, so richtig wohlgefühlt habe ich mich nicht bei der Demo, zu der Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer aufgerufen hatten. „Überwiegend lebensältere Menschen“ waren da, sagen die Nachrichten und soweit teile ich die Einschätzung. Überwiegend alte Männer, würde ich ergänzen. Die alten Meckerköppe, Besserwisser und sonstige Graubärte. Ein bisschen wie auf der Rosa-Luxemburg-Demo Ende Januar. Es wurde die linke Zeitung „Junge Welt“ verteilt, deren Schlagzeilen so jung sind wie die Männer um mich herum. Es fehlten nur die Kirchenleute, und es hätte es ein Klassentreffen meiner Generation sein können, die ‘83 in Bonn im Hofgarten für atomare Abrüstung demonstriert hat. Viele Fahnen mit Friedenstauben und die einzige Parole, die von den meisten mitgerufen wurde war „Frieden schaffen ohne Waffen“. Wie damals. Aber damals war Frieden – oder zumindest kein heißer Krieg in Europa. Es ging es darum, dass die Regierungen glaubten, dass der Frieden nur durch immer stärkere und immer mehr atomare Waffen erhalten werden konnte. Heute ist es vorbei mit dem Frieden. Russland hat die Ukraine überfallen. Und da klingt das schräg. „Wenn man angegriffen wird, und sich nicht wehrt, dann ist das kein Frieden sondern Besatzung.“, steht auf einem der vielen Mahnmale vor der russischen Botschaft. Ganz ehrlich: Ich bin froh, dass die Ukraine erfolgreich Widerstand geleistet hat. Denn nur deshalb kann ich mir jetzt auf der Straße unter den Linden einen zerstörten russischen Panzer anschauen. Und irgendjemand hat sogar daran gedacht an den Panzerketten ein Schild und Kerzen aufzustellen „Wir trauern um alle Toten des Krieges“. Denn auch wenn ich froh bin, dass der Panzer es nur als Schrotthaufen nach Berlin geschafft hat: In dem Schrotthaufen sind auch Menschen gestorben. Russen.
Auf der Kundgebung später sehe ich auch noch ein paar jüngere Menschen, mehr Frauen und weniger alte Zausel. Heftige Diskussionen: „Geht doch zurück in eure Scheiß-DDR!“, schreit ein sonnenbankgebräunter Mann in weißer Daunenjacke ein paar grau gekleidete Herren an. „Wenn für euch eh immer nur die Amis an allem Schuld sind.“ Tatsächlich konnte auch bei den Reden von der Bühne den Eindruck haben, dass es darum ging, die Rolle Amerikas zu kritisieren. Der Krieg habe schon 2013 angefangen, mit einer von der USA geplanten Entmachtung des ukrainischen Präsidenten Janukowitsch, wird da von einem US-Amerikanischen Professor steil behauptet. Das ist mir zu platt. Und endgültig abgehauen bin ich, als die Pfiffe kamen, gegen das Verbot, die Flaggen der Russischen Föderation zu zeigen – was aber nur wenige getan haben. Dafür gab es Deutschlandfahnen, was ich auf einer Friedensdemo noch nie gesehen habe. Und unter den Fahnen standen die Pfeifen. Und wenn man ganz genau hinschaute, dann waren bei einigen in das Schwarz-Rot-Gold ein Adler eingedruckt, ob’s der russische war, oder der des deutschen Kaisers konnte ich nicht erkennen. Das ist so die Art der Nazis, mit Verboten umzugehen. Warum er pfeife, frage ich einen feisten Mann in meinem Alter. „Darüber will ich nicht diskutieren.“, grinst er mich an und verschränkt die Arme. „Dann sind sie hier falsch“, gebe ich ihm zurück. Der will keinen Frieden, mit niemandem. Aber in Wirklichkeit bin ich hier falsch. Ich hätte ja auch gestern demonstrieren können, mit den Ukrainerinnen und Ukrainern. Aber ich will mich auch nicht unter die Fahne der Ukraine stellen, deren Vertreter von einem Siegfrieden auf der Krim träumen. Mich fröstelt. Ich gehe im Schneegestöber gegen den Strom der Demonstranten zurück. Vorbei gehe ich am sowjetischen Ehrenmal, an dem seit 1945 die Panzer stehen, die Berlin von den Nazis befreit haben. Viele Blumen liegen auch da. Rot und Weiß. Das ist der Krieg den ich kenne. Der Krieg, von dem meine Eltern erzählt haben. Ein Krieg, der vorbei war. Ich will keinen neuen.
Ich weiß es nicht. Wie schön war es doch, als man einfach für den Frieden sein konnte, ohne sich für eine Seite entscheiden zu müssen. Dass muss es doch noch irgendwo geben? Gestern Abend war ich auf einem Blues-Konzert in einer Kneipe. Auch was für alte Männer – aber für die Netten. Die Kneipe hieß „Idyll“.

Ins Rollen gekommen

Panzer haben was Beruhigendes. Wie alle Deutschen bin ich Panzerexperte. Ich kenne sie alle von Kindsbeinen an. Die Tiger; Panther und Leoparden. Es gab auch einen, der hieß „Maus“. Der war der Größte von allen. Es gibt ein Bild von mir unter dem Tannenbaum, da habe ich einen Panzer aus Blech in der Hand. Das war `65. Dann las ich viele „Landser“-Heftchen, die die Taten der deutschen Soldaten verklärten und erfuhr, wie man einen Russenpanzer mit einem Bündel Handgranaten „knackt“. Natürlich nur die Russenpanzer, die deutschen waren per se unverwundbar. Jetzt höre ich einem der vielen Ex-Bundeswehr-Generäle bei YouTube zu und schlafe dabei fast ein. Alles klingt so wohlvertraut. Bis der Satz kommt, auf den ich gewartet habe: „Es stimmt einen schon bedenklich, dass 60 Tonnen Stahl heute durch eine einzige Drohne in einen Haufen Schrott verwandelt werden kann.“ Sind die Leoparden also doch keine Wunderwaffen? Ist das alles nur ein Kinderglaube? Sind sie nur aus der Zeit gefallene Kolosse, die für ihre ukrainischen Besatzungen zum „ehernen Grab“ werden? (Panzerlied der Bundeswehr, Original von 1935, gesungen bis 2017).

Egal. Scholz hat was ins Rollen gebracht. Einen Tag nach den Panzern reden die Ukrainer schon über Kampfflugzeuge. Flugzeugexperte bin ich übrigens auch. Von der Messerschmitt bis zum Eurofighter.

Aber vielleicht schlafen wir noch mal eine Nacht drüber.