Letzte Weihnachtsgeschichte

Der alte Mann in der roten Daunenjacke hält sich an einem Glas Kräuterschnaps fest. Er ist der einzige Gast in dem riesigen Döner-Restaurant, dem einzigen Lichtblick in der verwaisten Fußgängerzone einer sterbenden Stahlstadt im Norden von Berlin. Was macht er hier am Heiligabend um halb Vier? Wo andere sich mit ihrer Familie um den Weihnachtsbaum scharen und Geschenkpapier zerfetzen? Ist es einer der verwahrlosten Stadtstreicher, die ihr erbetteltes Geld in Alkohol umsetzen, oder ist es einer dieser trostlosen Weihnachtsmanndarsteller, der sich für seinen schlechten Auftritt bei ungläubigen Kindern in warmen Eigenheimen in den Vorortsiedlungen vorbereitet, um seine mickrige Rente aufzubessern? Vielleicht ist es auch nur ein einsamer alter Mann, der nirgendwo hin gehört an einem Abend, an dem niemand einsam sein sollte. „Have you seen the old man outside the seaman’s mission…? Selbst die tuschelnden Männer hinter dem Tresen, die in einer Sprache sprechen, die er nicht versteht, und denen Weihnachten nichts bedeutet, sind heute zu zweit.

Wie lange darf man mit einem Schnaps in der warmen Gaststube bleiben? Reicht das Geld für einen zweiten oder muss er bald los in die Kälte, dorthin wo die blinkende Weihnachtsbeleuchtung höhnisch strahlt. Diese Lichter wärmen ihn nicht. Es ist kurz vor Vier als er sich müde und seufzend erhebt um nach dem Preis für den kurzen Augenblick der Wärme zu fragen. Wortlos schiebt er drei Euro in die Hand des Wirts. Kein Gruß, kein „Frohe Weihnachten“. Wieso auch?

Auf seinem Weg zurück sieht er andere Verlorene. Eingehakte Paare, denen es zu Hause zu eng wurde. Einen Vater mit einem Lastenrad, der mit seinen drei Kinder das Weihnachtsessen bei „Call a Pizza“ abholt; und das erinnert ihn, dass er ja auch drei Söhne hat, denen er versprochen hat, am nächsten Tag zu Mc Donalds zu gehen. Der einzige Weg sie dazu zu bringen, heute ihre heilige Christenpflicht zu erfüllen und am Heiligabend anderen Menschen eine Freude zu machen. Müde von dem langen Kampf, der schon seit Wochen währt wankt er die Stufen zur Kirche hoch, über deren Eingang ein einsamer roter Herrenhuther Stern leuchtet. Ist das sein Nachtasyl? Hofft er auf etwas Barmherzigkeit oder eine Pause von seinem harten Leben? Der Kirchendiener drückt ihm ein Heft mit Weihnachtsliedern in die Hand und wünscht freundlich ihm eine „Frohe Weihnacht“, was den Alten in seinem Grimm erschreckt. Was hat das hier mit Weihnachten zu tun? Er quetscht sich in eine der vollbesetzten Holzbänke. Der Pfarrer schnoddert in bestem Berlinerisch die Lithurgie herunter. Der Organist eiert die bekannten Melodien. Es klingt wie Karussellmusik auf dem Jahrmarkt. Die Gemeinde hält nach Kräften mit. Doch da erklingt wie aus anderen Sphären von der Empore der Kinderchor. Auch schief, weil zu wenig geübt und zu viel mit den Handys gespielt, aber dabei, glockenklar, die Stimmen seiner Jungs. Auf die letzte Minute hatte er sie zur Generalprobe hier abgeliefert, nur unter Protest hatten sie die weißen Hemden angezogen, aber immerhin waren sie mitgekommen. Und jetzt singen sie „ und soll es werden Frieden auf Erden; den Menschen allen ein Wohlgefallen…“ Na, das kann ja eine schöne Weihnacht werden.

Inspiration

Manchmal verzweifle ich ja an der heutigen Jugend. Nachdem mein Sohn mich gestern mit einem herzlichen „Hau ab!“ aus seinem Zimmer geschmissen hat, war mir klar, dass mein eigentlicher Plan, ihn an dem Tag mit mir in mein Büro zu nehmen und ihm zu zeigen, womit sein Vater Geld und Anerkennung verdient, erst einmal gescheitert war. Es war ihm auch nicht klar zu machen, dass man nicht gleichzeitig arbeiten und ins Kino gehen kann, was ich als Belohnung für den Ausflug in die Arbeitswelt versprochen hatte. Tagesstrukturierung ist noch nicht ganz seine Stärke. Meine auch nicht. Denn was fange ich an mit dem plötzlich freien Wochenende? Herrlicher Sonnenschein und warme Temperaturen. Goldener Oktober. Ich sollte raus gehen, den Sonnenschein zu fangen, das Licht in leuchtenden Herbstblättern zu fotografieren. Statt dessen liege ich auf dem Sofa und lese in der Zeitung über die Schlechtigkeit der Welt. Das macht Kopfschmerzen. Mit einem Versprechen auf einen Kaffee am Kanalufer locke ich mich selbst vor die Tür und auf mein Moped. Vorsichtshalber stecke ich mir meine Ohrstöpsel unter den Helm, damit mir von dem Geknatter nicht der Kopf wegfliegt.

Der Kaffee hilft, aber wie weiter? Ich fahre bei einem Freund vorbei, der natürlich nicht da ist, oder das Klingeln nicht hört. Also zurück über die rappelige Kopfsteinpflasterstraße. Verrammelte Läden und das vor mir her schleichende Mini-Auto eines türkischen Pflegedienstes verderben mir die Laune. Beim Abbiegen sehe ich aus den Augenwinkeln eine Gruppe junger Leute mit Bierflaschen auf dem Gehweg neben dem mit Graffiti besprühten Eckladen, in dem noch bis vor einem Jahr solide Trödelsachen verkauft wurden. „Ach, mal wieder ne Vernissage.“, denke ich. Wo viele Läden leerstehen kommt in Berlin auf kurz oder lang die Kunst vorbei. Irgendwas mit Farbe, irgendwas, das aus altem Zeug zusammengebaut wurde, irgendwas geht immer. Nicht wirklich interessiert biege ich auf eine Parkbucht neben einem abgemeldeten, vermoosten Wrack eines alten Opels. Vielleicht wird’s ja ein Bericht für unser Lokalblog. Schon lange nichts mehr geschrieben.

Es riecht nach Sprühdosenlack und Hasch. Ein Einkaufswagen ist randvoll mit Bierflaschen. Na wenigstens kein Sekt und Häppchen. Das Grüppchen sitzt gut gelaunt in der Herbstsonne. Einige sprühen die abgeklebte Wand an, einer fotografiert das und drinnen steht noch mehr Artefaktisches. Der Deckel eines Kaugummiautomaten hängt an der Wand. Hatte ich nicht neulich einen Unternehmer befragt, der die Dinger neu installiert? Der lamentierte, dass ihm die Kästen im Wedding immer von der Wand geklaut werden. Diebe? Nein, war alles für die Kunst.

Aber sonst ist es ein biederes Happening. Andere waschen am Samstagnachmittag ihre Autos oder gehen zum Fußball. Ein Mann mit Bart, Dutt und schon leicht lallender Sprache erklärt mir die Vorsicht. Man sei erst seit kurzem Pächter, man wisse noch nicht genau, was das hier werde. Der Laden gehöre zur Morena Bar nebenan, einem Kiez-Juwel, das der heutige Besitzer vor 40 Jahren angeblich beim Pokern gewonnen und seitdem nicht mehr verlassen hat, und die Bar hat Krach mit den Anwohnern. Früher sei der jetzige Kunstort mal ein Puff gewesen, dann eine Party-Location. Ich werde weitergereicht an jemand, der wie der Manager auftritt. Erstmal hätten sie nur einen Raum gesucht, um ihre Werke zu lagern, ist seine Version der Geschichte. Denn wenn die Bilder in der Wohnung trocknen, stinke alles nach Farbe. Jetzt schaue man mal, vielleicht werde ja mehr draus, vielleicht sogar ein Verein. Aber berichten solle ich erstmal nicht. „Wegen dem Ordnungsamt.“, sagt er kumpelhaft und streckt mir die Faust entgegen, damit ich meine Faust dagegen schlage. Wir sind jetzt Bros. Ich frag mich kurz, was ich davon halten würde, wenn meine Söhne in 10 Jahren mit einer solchen Gang abhängen würden. Ich glaub, ich fänds ok. Wenigstens dürfte ich dann wieder in ihr Zimmer.

Höcke und das Moped

So sieht das Moped aus, mit dem Björn Höcke mit der AfD stärkste Kraft in Thüringen geworden ist. Eine Simson S 51 aus dem VEB Fahrzeug- und Jagdwaffenwerk „Ernst Thälmann“ Suhl/Thüringen. Eine auch gestalterisch gelungene Eigenkonstruktion aus der DDR. Einfache, anspruchslose Technik, leicht zu reparieren (und zu „frisieren“). Als ich sie zum ersten Mal Ende der 1970er auf einem Prospekt sah, den mir ein Freund von der Internationalen Motorrad und Fahrrad Messe in Köln mitbrachte, war ich begeistert. Ich fuhr zu der Zeit eine Simson Spatz, auch aus der DDR. Ein ziemlich hässliches Entlein, das ein Nachbar vor 10 Jahren bei Neckermann gekauft hatte und damit jeden Tag 10 Kilometer zum Bahnhof gefahren war. Für 100 D-Mark, die ich mit Zeitung austragen verdient hatte, habe ich sie ihm abgekauft. Die rote Farbe war ausgeblichen und der Rost blühte. Ein Freund half mir, sie wieder flott zu machen und ich überstrich die Rostflecken mit oranger Mennige. Die Flecken umrahmte ich mit bunter Lackfarbe. So bekam das Ost-Moped einen Hauch von Flower Power. Aber gegen die Zündapps, Hercules und Yamahas, die vor unserer Schule parkten konnte ich damit natürlich nicht ankommen. Und das Ding hatte eine Sitzbank für nur eine Person – Mädchen mitnehmen war nicht. Da wäre eine S 51 schon was anderes gewesen. Schick, 3,7 PS, 60 Km/h flott und Platz für zwei. Aber vielleicht zu flott für den Westen. Es gab sie nur im Osten zu kaufen. Und dort erlebt sie seit Jahren eine Rennaissance. Bei alten Kerlen, wie mir, die ihre Jugendträume ausleben wollen und vor allem bei der Jugend. Eine „Simme“ zu fahren, gehört außerhalb von Berlin zum guten Ton und ist für Viele auch ein Teil einer zusammengestrickten Ost-Identität. Das Internet ist voll mit Schraubertipps, es gibt deutschlandweit Clubs und Treffen auf der grünen Wiese. Eine Firma in Thüringen mit einem imposanten Lagerhaus versorgt die Szene mit Ersatzteilen und findige Händler finden immer neue Schrott-Mopeds zum „Neuaufbauen“ (bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend, bau auf!), die sogar aus Vietnam zurück gekauft werden.

Das alles ist bekannt. MDR, RBB haben interessante Reportagen über das Simson-Fieber und die halbseidenen Geschäfte gemacht. Aber nur Björn Höcke hat sich für ein Wahlplakat auf eine Simson gesetzt. Man sah ihn grauhaarig, ohne Helm auf öffentlicher Straße mit gezogener Kupplung. Gefahren sein kann er so nicht wirklich. Das Plakat kam trotzdem an. „Ja zur Jugend“ hat seine Werbeagentur draufgeschrieben. Bei einer Befragung von Schülern, die schon wählen durften meinten sie, das mit der „Simme“, das wäre doch toll gewesen.

Warum hat sich nicht Bodo Ramelow auf einer Simson ablichten lassen? Mehr Thüringen geht doch nicht? Und inzwischen gibt es die Simson auch mit Elektroantrieb. Ein findiges Start-Up um einem wuschelköpfigen Maschinenbaustudenten hat einen Weg gefunden, den knatternden Zweitakter an einem Nachmittag in ein summendes Elektromobil zu verwandeln. Ramelow auf der E-Simme. Warum hat es das nicht gegeben? Weil auch die Simson-Szene inzwischenzeit auch von Rechten unterwandert wird, die auf den Treffen den Hitlergruß zeigen? Weil sich der Designer der S 51 inzwischen deshalb davon distanziert? Ich glaube es war nicht die Angst. Ich glaube, Die Linke und die anderen Parteien und ihre professionellen Berater haben das mit den Simsons einfach nicht mitbekommen. Sie wussten schlicht nicht, was sie Jugendlichen umtreibt. Nicht auf Tik Tok und nicht auf der Straße. Und ihre Werbeagentur kam wahrscheinlich aus Berlin. Da gabs mal einen Hype um alte Schwalbe-Motorroller. Auch von Simson, aber das war nach der Wende. Das ist für Werber wie aus einem anderen Jahrtausend.

Die Wahl ist verloren, aber ich liebe meine Simson immer noch. Vor zwei Jahren habe ich mir eine S 51 zu Weihnachten geschenkt. Unterstütze ich jetzt die Nazis, wenn ich damit durch Berlin brause? Verdächtig viele grinsen mich freundlich an, geben ein Thumbs up oder kurbeln sogar die Seitenfenstern runter, um mit ihre Begeisterung durch den Verkehrslärm zu brüllen. Bisher dachte ich, das seien so groß gewordene Kinder, die auch gerne mit den alten Sachen von früher spielen wie ich. Inzwischen bin ich mir da nicht mehr sicher. Die AfD kann einem wirklich den schönsten Sommer verderben.

Ergänzung im September 2025: Nach der Wahl ist in Thüringen die Sache noch mal hochgekocht. Nachdem Höcke nun zum Glück doch nicht Ministerpräsident geworden ist, hat er viel Zeit, mit Jugendlichen AfD-Simson-Touren anzubieten (hoffentlich mit Helm). Aber auch die anderen Parteien haben die Popularität der kleinen Mopeds endlich erkannt: Im Landtag wurde ein Beschluss der Regierungsparteien CDU, SPD und BSW gefasst, sich dafür einzusetzen, alle Simsons die Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h zu erlauben. Bisher war das nur den in der DDR oder bis 1992 in Gesamtdeutschland zugelassenen Simsons erlaubt.

https://www.heise.de/news/Simson-Kleinkraftraeder-Thueringen-will-auch-Reimporten-60-km-h-zugestehen-10641681.html

Fänd ich gut. Dafür müsste man den Einigungsvertrag ergänzen. Da fielen mir noch ein paar andere Kapitel ein.

Im Faradayschen Käfig

Die Stimmung war gut. Mein Bruder hatte uns mit seinem alten Mercedes zum Bahnhof gefahren, wir waren damit prima das Ahrtal hinunter gekommen, hatten meinen Jungs die verlassenen Weinberge gezeigt, die wir damals statt einer Rodelbahn hinuntergebrettert waren und hatten noch Zeit für einen Kaffee auf dem Bahnhofsvorplatz. Die Jungs bekamen ein Eis. Wir hatten ein paar Tage in einer Jugendherberge in meiner alten Heimat hinter uns und die Morgensonne schien freundlich und mild. „Ich könnt mir gut vorstellen hier als Rentner jeden Morgen meinen Kaffee zu trinken.“, schwärmte ich in neu erwachter Heimatliebe. „Es gibt schönere Orte auf der Welt.“, grinste mein Bruder, der die Welt gesehen hat und nun als abgemusteter Seebär seit ein paar Jahren versucht, unser kleines Elternhaus zu seiner neuen Heimat zu machen. Und er hatte Recht. Es war nicht nur die Schönheit des Augenblicks, die mich an den alten Ort fesselte, es war auch die Angst vor dem, was noch vor uns lag. Mein Bruder mag alle Stürme der sieben Weltmeere durchpflügt haben, ich dagegen wage immer wieder eine Fahrt von Bonn nach Berlin mit der Deutschen Bahn und zwei Kindern. Was sich harmlos anhört war in den vergangenen Jahren stets zum finalen Abenteuer unseres Urlaubs geworden. Und auch dieses Jahr sollte uns die Bahn nicht enttäuschen, nein sie sollte, das ahnte ich wohl, sich diesmal selbst übertreffen. Und was wir noch nicht wussten: Sie hatte sich dazu neue Verbündete gesucht.

Wie immer wiegte sie uns am Anfang in Sicherheit. Der ICE kam fast pünktlich, die Plätze waren reserviert und es sollte nur viereinhalb Stunden dauern. Wir saßen in einem „Sprinter“, das Flotteste, was die Bahn zu bieten hat. Und wir schafften es auch ohne Probleme bis nach Köln, sogar bis fast bis zum Hauptbahnhof, als es in einer Rechtskurve auf dem Dach schepperte. Wir standen schräg, rechts eine Schallschutzwand, links ein hoher Bahndamm und nichts ging mehr. Der schlaksige Zugführer, der die samtene rote Zugführerbinde lässig am nackten Unterarm trug, als sei sie nicht Zeichen seiner Herrschaft und Sorge über die Reisenden, sondern die Eintrittskarte zu einem Strandclub, lief ein paar mal schweigend an uns vorbei. Auch die Fahrgäste schwiegen und blickten vor allem in ihre Handys. Was muss in Deutschland passieren, damit die Menschen in einem Zug miteinander reden? Nach einer halben Stunde wurde ich aufgenommen in die Schicksalsgemeinschaft, die sich virtuell gebildet hatte. Ob ich den neusten Gossip hören wolle, fragte mich die Hochschwangere neben uns. Die Oberleitung sei gerissen und auf den Zug gefallen. Die ganze Außenhülle des Zuges stehe also unter Strom wie in einem Farradayschen Käfig. Keiner könne raus. Türen und Fenster dürfen nicht geöffnet werden. Gleichzeitig fehlte der Strom für die Klimaanlage. Wir waren gefangen. Durch eine dünne Glasscheibe vom blauen Himmel und der frischen Sommerluft getrennt. Als die Temperaturen stiegen, fragten meine Jungs mich, ob wir jetzt ersticken müssten. In meiner Not deutete ich auf die vielen kleinen Löcher in der Deckenverkleidung. Da käme die Luft raus, fabulierte ich und hoffte inständig, dass die Ingenieure bei Siemens an sowas wie eine Zwangsbelüftung gedacht hatten, die auch ohne Strom funktioniert. Sicher war ich mir nicht. Vielleicht war genau daran gespart worden. Als die Durchsage kam, dass das Bordbistro für umsonst Getränke ausgibt, wusste ich, dass die Lage ernst wurde. Ich schickte die Jungs Cola holen und sie kamen mit reicher Beute zurück. Ab da war ihr Sportsgeist geweckt. Nach zwei Stunden kam der Schaffner ins saunawarme Abteil mit der Nachricht, die Feuerwehr hätte eine Notrampe den steilen Bahndamm hoch gelegt. Aber nur für Leute, die körperlich fit seien, außerdem rutsche die Rampe, sodass nur noch wenige über sie gehen könnten. Titanicfeeling. Das letzte Rettungsboot hing schräg in den Seilen. „Das ist doch nicht steil, das schaffen wir locker.“, entschieden die Zwillinge für mich mit einem Blick aus dem Fenster. Ich ließ mich von ihrem Elan mitreißen. Das Glück ist mit den Tapferen. Alte Männer und Kinder zuerst. Wir verabschiedeten uns von der Schwangeren, der man einen Umstieg in einen anderen Zug versprach und enterten die wacklige Reeling, die von der Kölner Feuerwehr gesichert wurde. Viel Mut brauchte es tatsächlich nicht. Wie schön das Industriegebiet von Köln-Zollstock sein kann. Unter einer rostigen Brücke versammelten sich die Geretteten und sofort fing das Gezänk an. Der versprochene Bus kam nicht, ein paar Taxis waren heiß umkämpft, irgendwelche Zettel mussten ausgefüllt werden. Gezeter, wer zuerst da war und wer es am Nötigsten habe. Eine Feuerwehrfrau gab uns den Tipp, dass ein paar Hundert Meter weiter eine Straßenbahn Richtung Hauptbahnhof abfährt. Brauchten wir Fahrkarten? Blöde Frage. „Isch fahr schwatz mit der KVB, die Markfuffzich dät denen doch net weh…“ Das war „Zeltinger“, Kölscher Punk aus den Achzigern. Endlich war es soweit. Ein Jugendtraum erfüllt sich. Ein Alptraum auch. Denn die Bahn, die jetzt kommt, ist so alt wie der Song und in Köln fährt die Straßenbahn zum Dom unterirdisch. Kurz vor Neumarkt blieb sie mitten im Tunnel stehen. Mit Kölscher Gemütlichkeit erzählt der Fahrer uns Verlorenen, dass die Elektrik nicht funktioniert. Er werde jetzt mal alles ausschalten und hoffen, dass sie wieder anspringt. Es wurde dunkel und unheimlich still. Wir stehen in der Röhre, schwitzende Leiber aus dem ICE um uns, nur die Displays der Handys leuchten gespenstisch (meine Söhne behaupten später, viele hätten gelacht, als die Durchsage des Fahres kam). Beim nächsten Mal, gelobe ich in meinem Innern, werde ich ganz regulär eine Fahrkarte kaufen und im Dom eine Kerze anzünden für St. Christopherus, den Heiligen, der das Christuskind über einen reißenden Fluss trug…. Das Licht ging wieder an und die Bahn ruckelt weiter. Am nächsten Bahnhof brauchen die ächzenden Falttüren beim Öffnen einen Augenblick zu lange, um mein Vertrauen in die Technik wieder herzustellen. Panisch verlasse ich mit den Kindern den Zug, haste durch das mit stumpf schlurfenden Menschenleibern vollgestopfte Unterweltreich und treibe meine Jungs die nächste Treppe hoch. Endlich Licht! Luft!

„Ui jui jui!“ , scherzt der Schaffner, der im nächsten ICE eine Erklärung verlangt, warum wir seinen Zug benutzen, wie eine schlechte Horst Evers-Parodie, „Da haben sie ja ein kleines Abenteuer erlebt. Da können sie zu Hause ja was erzählen.“ Im Bordbistro gibt es für die Jungs ein Eis kostenlos. Das nächste Mal fahre ich mit dem Schiff.

Dornröschen und der böse Lindemann

Wir fahren tapfer mit dem Rad von Leipzig nach Berlin. Durch Sachsen und Brandenburg. Es gibt viel Schönes zu sehen und viel Trauriges.

Und natürlich blühende Landschaften!

Als wir Wandervögel die blaue Blume gefunden haben, finden wir auch das Ende des Regenbogens.

Das Trostlose dieser Welt verschwindet. Und am Ende des Regenbogens steht das Haus am See.

Wir lassen uns hineinziehen in den zugewucherten Park und stehen bald vor einem echten Traumschloss.

Da kommt schon der Wächter des Schlosses (mit Ölkanne und Akkuschrauber). Er hat seinen Kafka nicht gelesen und weiß nicht, dass er uns abweisen muss. Er öffnet uns die Tür…

Das Schloss schläft seit dreißig Jahren.

Viele Stunden sind wir im Banne des Kastellans. Unglaubliches erzählt er in seiner unglaublichen Sprache. Über viele hundert Jahre spannt er den Bogen. Vom starken August bis zum magischen Investor, der hier alles bestimmt. Bis er uns endlich von dem Geist erzählt, der in diesen Mauern haust. Es ist ein Geist aus der Zeit des gottlosen Sozialismus. Es ist der Geist von Werner Lindemann, der vor sechzig Jahren, als sich das Haus „Kulturhaus“ nannte, der Herr des Schlosses war.

Und nur sein böser Sohn Till, ein berühmter Geisterbeschwörer, kann das Schloss von seinem Fluch befreien und es zu neuem Leben erwecken. Aber wo ist das Dornröschen, das er wach küssen könnte?

Dornröschen ist abgehauen. Wir sehen sie an der nächsten Bahnstation. Sie hat den bösen Till schon getroffen. Geküsst hat sie ihn dabei hoffentlich nicht…

Trostpflaster

Wenn der Himmel grau ist und der Regen beständig nieselt, wenn die Wege, die du gehst die gleichen sind, die du schon seit Jahren läufst, dann ist es Zeit mal genauer hinzuschauen.
Ist das, was du jeden Tag mit Füßen trittst nicht ein wahres Wunderwerk? Ist das Grau, das sich auf den Straßen deines Viertels breit macht nicht ein Gemisch aus tausend Farben, ein Mosaik aus eitel Edelstein? Millionen Jahre sind die „Großsteine“, „Katzenköpfe“ oder „Kopfsteine“ vor deiner Haustüre alt. Sie waren das Blut der Erde, ihre brodelnde Glut , sind gestocktes Magma aus dem Erdinneren und jetzt steinhart und unverrückbar: blauschwarzer Basalt, rot gemusterter Prophyr, roter und grauer Granit und die Grauwacke verrät ihre Farbe selber. Ihre wilden Zeiten sind vorbei, und doch sind sie bunt und schön. Das solltest du dir zum Vorbild nehmen. Seit mehr als 100 Jahren sind sie in Berlin, liegen da, ohne sich zu beklagen. „Am Grunde der Moldau wandern die Steine…“ heißt es bei Berthold Brecht. Die Berliner Steine sind nur einmal gewandert: Vom schlesischen Steinbruch bis nach Berlin. Seither trampeln wir über sie hinweg, und sie bleiben liegen. „Das Große bleibt groß nicht, und klein nicht das Kleine…“ geht es bei Brecht weiter. Das stimmt. Auch die großen Steine gehen kaputt, wenn Bomben drauf fallen, oder Panzer darüber rollten, oder wenn sie rausgerissen werden, damit Räder schneller rollen können. Aber dann macht man kleine draus und setzt sie in das Pflaster der Gehwege, das typische Berliner Mosaik und wenn sie auch da auseinnander gehen, werden sie mit Beton vermischt und die gleiche Farbenvielfalt taucht in den Gehwehgplatten wieder auf. Sie sind nicht unter zu kriegen.

Was können wir also von dem Kopfsteinpflaster lernen? Das Liegenbleiben, das geduldig Sein und dass man die schönsten Sachen sehen kann, auch wenn man den Kopf hängen lässt.

Und noch etwas können uns die Steine lehren: Auch wenn nicht mehr das alte Feuer in einem kocht. Für einen Tanz auf dem Vulkan reicht es allemal (Unter Berlin gibt es tatsächlich unter all dem Dreck und Sand und Eiszeitgeröll einen erloschenen Vulkan, wer hät‘s gedacht?). Also bin ich in die U-Bahn gestiegen und tanzen gegangen. Tut auch gut gegen den Winterblues.

Ludmilla Seefried-Matejkowa „Tanz auf dem Vulkan“ Nettelbeckplatz, Berlin-Wedding Material: Grauer und roter Granit; Foto: Wikipedia CC-BY-4.0

Elefant im Raum

Klöster, Kirchen und Klösterkirchen. Im Burgund gibts davon so viele, dass brave katholische Bauern die grauen Gemäuer als Scheune benutzen.

Ein Frevel, den man sonst nur den gottlosen Sowjetkommunisten zugetraut hätte. Und gleichzeitig gibt es hier Städte, die aussehen als wären sie auf dem Reißbrett sozialistischer Planer entstanden. Diese Rotunde inmitten von Plattenbauten könnte doch glatt in Novosibirsk oder auf dem Berliner Alexanderplatz stehen.

Aber wenn das der Alexanderplatz ist, dann müsste ja gleich um die Ecke ein Kulturpalast, ein Дом Культуры oder gar ein Palast der Republik stehen. Et voilà:

Das Monstrum heißt ganz elegant «Espace des Arts» und hat mir meinen letzten Tag vor der Abreise aus Chalon sur Saône versüßt. Die Türen standen schon früh am Morgen offen und ich war der einzige, der unter den wachsamen Augen von zwei erstaunten Aufpasserinnen den herrlichen Ausblick aus dem Lampenladen in die umliegenden Sozialwohnungen genießen durfte. „Il est allemand.“ raunte die eine der anderen zu, als würde das mein verrücktes Herumknipsen erklären.

Und wenn der Klotz der kleine Bruder des Berliner Palastes ist, dann war da bestimmt doch auch was mit Asbest…? Richtig. Vor 5 Jahren wurde er grundsaniert. Und um ehrlich zu sein, sah er da am besten aus. Mehr Fotos von Benjamin Chelly.

Und um mich endgültig auf meine Heimreise einzustimmen, fand ich vor dem Bahnhof auch noch einen französischen Dönerstand mit Fleisch, das garantiert „halal“ war und aus Pfungstadt kam. Aber schmeckte natürlich nicht wie in meiner Döneria in Berlin. In Berlin ist mehr Salat.

Und warum ich das alles im 13. Stock der Berliner Charité mit Blick auf den Fernsehturm schreibe ist eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll…

Auf dem Weg ins Paradies

Natürlich gibt es das Paradies auf Erden. Und es ist gar nicht so schwer, da hin zu kommen. Man muss in Wandlitz einmal links und einmal rechts abbiegen und dann noch zwei Kilometer geradeaus. Mehr wird hier nicht verraten. Denn sonst wäre es ja kein Paradies mehr, sondern noch ein überfüllter Badesee in Brandenburg. Im Paradies gibt es alles was man braucht – und nicht mehr. Eine grüne Wiese, die nicht zu voll ist, Schatten, Fischbrötchen (Bismarck und Matjes, wir haben beide Sorten) alkoholfreies Bier und nach dem Baden einen Kaffee und eine knusprige Waffel aus einem hübsch im rosa Retro-Wirtschafswunderstil renovierten Wohnwagen der „Waffeltanten“. Die Waffeln sind besser als die nach dem 50er-Jahre Rezept meiner Mutter (Kartoffelmehl war ihr Geheimnis) und die Tanten sind kesse Berlinerinnen, haben ein kleines Tatoo irgendwo und sind netter als meine Wirtschaftswundertanten. Die sahen nämlich so aus (der im Ringelpulli bin ich):

Sie rochen nach Drei-Wetter-Taft, Trevira und zu engem Mieder und hatten garantiert schlechte Laune, oder einen Likör zu viel.

Aber im Paradies darf man ja nicht ewig bleiben, ist nun mal so. Steht schon auf der Eintrittskarte. Außerdem: was wäre denn mit dem Rest der Welt, wenn man das Paradies immer um die Ecke hätte? Wie würde sich denn das anhören, wenn die Kolleginnen fragen: „Wohin fährst du in Urlaub?“ und ich jedes Mal antworte:„Nach Brandenburg, ins Paradies!“ Ne, irgendwann muss da mal was Abenteuerlicheres her. Also gehe ich jetzt meinen Freund besuchen, der seit einem Jahr auf Kreta lebt. „Musst nicht alles glauben, was da in der Katastrophenberichterstattung kommt. So mit 40 Grad, Waldbrand und Stürmen. Ist hier alles nicht so.“ Na, da bin ich ja beruhigt und muss auch kein schlechtes Gewissen haben, dass ich direkt nach Heraklion fliege und nicht wie ursprünglich geplant mit Interrailpass (für Senioren) und Fähre (Abenteuer!) runter fahre. Zur Sicherheit vereinbaren wir, dass er mich vom Flughafen abholt – und wenn ich abstürze, dann aus dem Meer. Ich baue ganz fest darauf, das er es auch tut. Er ist ein guter Freund und auf die Küstenwache ist im Mittelmeer kein Verlass mehr. Vorher werde ich aber noch die Apotheken und Drogeriemärkte abklappern, um ihm und seiner Frau all die Sachen mitzubringen, ohne die es sich im Garten Eden dann doch nicht glücklich sein lässt und komme mit dabei vor wie Leonardo de Caprio in „The Beach“, als er auf geheime Shoppingtour gehen musste für all die Mittelstandskinder, die zum absoluten Glück an der Beach dann doch noch Schokolade und Marshmellows brauchten. Und meine Steuererklärung will ich endlich noch abgeben, vor dem Urlaub. Ich bringe sie persönlich beim Finanzamt vorbei. Das sieht bei uns so aus:

Entspannt in der Sonne liegen könnte ich also eigentlich auch hier.

Wie man in den Himmel kommt

Auf der Karte sah alles so einfach aus. Wein, Wasser, Sonne. Von Naumburg nach Nebra, den Unstrutradweg entlang. 25 Kilometer mit zwei Elfjährigen. Das müsste doch zu machen sein. Nein, sagten die Elfjährigen, nachdem wir eine flache Teststrecke an der Saale probiert hatten. Das sei zu anstrengend, die Leihräder zu schwer und überhaupt, warum wir nicht einfach noch eine Runde „Siedler von Catan“ im großen sozialistischen Speisesaal unserer Jugendherberge in Naumburg spielen wollten? Doch, entschied ich, Bewegung muss sein, Bildung auch und nachdem meine Söhne neugierig das Nietzsche-Haus erobert und dem Audio-Guide durch den Naumburger Dom gefolgt waren, sollte nun die Himmelsscheibe von Nebra das Highlight werden. Wie alles in diesem Urlaub wurde es ein Kompromiss: Mit dem Rad zum Bahnhof, Zwischenstation in der Eisdiele am Markt (die von Birgit Böllinger empfohlen worden war, und die der eigentliche Grund für unseren Aufenthalt war), weiter mit der Bahn. Als dann auf dem Weg zur Bahn bei mir die Kette absprang, unkte der Zwilling, für den das Glas immer halb leer ist, dass er doch recht gehabt hätte, und dass wir die ganze Geschichte lassen sollten. Das würde bestimmt nicht gut ausgehen. Natürlich sollte er nicht Recht behalten, aber das wollte er noch nicht einsehen. Wie hieß der Nieztsche-Spruch, neben dem mich meine Söhne fotografiert hatten? „Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.“ Eben! Wenn die Aufklärung aller Geheimnisse des Sternenhimmels winkte, durfte kein Wagnis zu groß sein. Deshalb gab es ein Machtwort und wir fuhren los. Doch mehr noch als dem großen Denker ähnele ich Donald Duck, dem Comic-Helden meiner Söhne, dessen mit aufbrausendem Gemüt gefassten Basta-Beschlüsse meist im Chaos enden. Das Chaos begann mit einem Wort, das uns aus Berlin vertraut war: Schienenersatzverkehr. Irgendwo, weit vor Nebra, endete der Zug, den wir mit ukrainischen Familien mit riesigen Einkaufstüten teilten, Ersatzbusse warfen brummend ihre mächtigen Motoren an und wir schaukelten im Halbschlaf weiter an den verwaisten Bahnhöfen vorbei. Irgendwann hörte ich auf, sie zu zählen – und das war ein Fehler. Aus dem Augenwinkel sah ich noch das gelbe Schild mit dem roten Balken über dem Namen Nebra, als ich auch schon vorne beim Busfahrer stand und ihn fragte, wo er jetzt hinführe. „Ich Wangen“, antwortete er und ich verstand schnell, dass die Haltepunkte seiner Linie die wenigen Worte waren, die er auf Deutsch sagen konnte. Aber seine Gesten zeigten deutlich, dass er sich fragte „Ich hab doch alles richtig gemacht. Warum meckert wieder ein Deutscher an mir herum?“ Und dann tat er, was kein deutscher Busfahrer je gemacht hätte: Er hielt mitten auf der Strecke an. „Raus?“ fragte er. Raus! nickte ich und wanderte mit meinen Söhnen auf einer engen Straße zwischen engen Leitplanken eingeklemmt, von Autos gejagt zurück in die Stadt. Immerhin gab es wilde Mirabellen am Straßenrand. Wo es denn zur Himmelsscheibe gehe, fragte ich den einzig lebenden Menschen, der uns ohne Auto begegnete. Ach, sagte der, die sei gar nicht in Nebra, sondern in Wangen. Aber man könne dahin gut laufen, nur 4 Kilometer über den Radweg. „Weißt du überhaupt, in welche Richtung wir gehen müssen?“, fragten mich meine Söhne respektlos, als ich ihnen die Neuigkeit eröffnete. „Um ehrlich zu sein, nein.“, antwortete ich, „Aber ich würde sagen, in die Richtung, in die der Bus gefahren ist. Der wollte ja nach Wangen.“ Die Antwort war ein improvisierter Sitzsstreik auf dem menschenleeren Bahnhofsvorplatz von Nebra. Verzweifelte Anrufe ergaben, dass das einzige Taxi des Ortes gerade unterwegs war. Also blieb uns nichts anderes, als auf den nächsten Schienenersatzverkehr zu warten. Nach einer Stunde erschien der bekannte weiße Bus mir dem bekannten Fahrer. Erleichtert stiegen wir ein. Er würdigte uns keines Blickes, aber alles würde gut werden. Doch nachdem der Bus die Wendeschleife hinter dem Bahnhof gedreht hatte, fuhr er in die entgegengesetzte Richtung weiter -zurück nach Naumburg. „Halt, Halt!“, schrie ich nach vorne. Und wieder tat er, was kein deutscher Busfahrer getan hätte: Er hielt an. „Steht doch dran“, fluchte er, und verwies auf das kleine Schild in der Windschutzscheibe, das einen unbekannten Ort angab. Wahrscheinlich der, an dem wir aus dem Zug mussten. Aber er machte die Tür auf und wir standen wieder auf der Straße. Nur um zu sehen, dass der Bus in der richtigen Richtung gerade an uns vorbei fuhr. „Halt, Halt!“, schrie ich wieder und lief ihm mit winkenden Armen hinterher, Kinder und Anstand vergessend. Und wieder machte der Busfahrer, was kein deutsche Busfahrer getan hätte. Er hielt an, mitten auf der Brücke. „So geht das nicht!,“ knurrte er mich an, als ich außer Atem, mit meinen mir instinktiv hinterhergelaufenen Kindern den Bus betrat. Aber dann grinste er freundlich und hieß uns Platz zu nehmen. Als wir in Wangen ausstiegen, wollte ich ihm einen Fünfer in die Hand drücken, für seine Rettungsaktion. Freundlich lehnte er ab. Wo er herkomme, fragte ich ihn. „Aus Bulgarien“, antwortete er.

Meine Jungs waren ganz aufgekratzt und fröhlich. „Wenn wir mit Papa unterwegs sind, geht immer etwas schief.“, frohlockte der abenteuerlustigere unter den beiden. Zur „Arche Nebra“ mussten wir über eine Brücke, dann ging es dann noch mal einen Kilometer gut bergauf. Natürlich gab es in Wangen an der Busstation dazu kein Schild. Kein Mensch rechnete mit Besuchern, die mit dem Bus kommen. Aber wir sahen sie, das moderne goldene Gebäude, das über dem Dorf mitten auf einem Hügel thronte wie das himmlische Jerusalem. Dann sahen wir den großen Parkplatz und den Biergarten und den Rummel, der um die Himmelsscheibe gemacht wurde. Das war der einfachere Weg. Mit Auto und Navi. Das kann jeder. Wir aber waren auf dem rechten Weg, auf der Himmelsleiter, auf der der liebe Gott die Aufsteigenden ermuntert und den Ermattenden seine Hand reicht auf ihrem mühevollen Weg, der oft über Prüfungen und Umwege führt, sie dafür aber dann zielgenau in den Himmel bringt. Auch wenn man einen an der Scheibe hat.

Erlebnis Bahn

Ich wills nicht zu lang machen, denn das lange Wochenende war anstrengend. Aber ich grüble seit Samstag darüber nach, wie ich das Kichern des Schaffners beschreiben soll, das wir um 10:35 Uhr zu hören bekamen. Meine Jungs und ich saßen schon an unserem reservierten Tisch im ICE nach Köln, nachdem wir von Gleis 14 (im Berliner Hauptbahnhof ganz oben) zu Gleis 5 (ganz unten im Keller) geschickt worden waren. Wir hatten uns schon erfolgreich ins WLAN eingeloggt und die Jungs hatten schon die YouTube-Videos ausgesucht, die sie gucken wollten. Ich freute mich auf fünf Stunden entspanntes Aus-dem-Fenster-Gucken und auf meine Schwester, die wir besuchen wollten. Wir hatten drei Stunden streng durchorganisierte Reisevorbereitung und Anreise zum Bahnhof hinter uns, die Stullen waren geschmiert, die Schlaftiere eingepackt und der Jüngste mit Keksen bestochen worden, damit er nicht seine 5-Minuten-bevor-wir-aus-dem Haus-gehen-Show abzieht. Da ging das Licht aus. Das Internet auch. Dann die Ansage: „Der Zug muss heute leider wegen eines technischen Defektes ausfallen.“ Und dann das glucksende Kichern. Wie ein gut gelungener Witz. Wie das „Och das ist doch jetzt nicht so schlimm, dass ich Ihnen den Kaffee im Take-Away-Becher statt in einer Tasse gemacht habe, oder?“, das ich von nicht ganz bei der Sache seienden Kellnern in Berliner Cafés kenne. Ein bisschen schelmisch, ein bisschen „Ich kann doch nichts dafür.“ Dann kam die barsche Aufforderung, den Zug zu verlassen. Da stand ich nun mit drei Kindern auf dem Bahnsteig, morgens halb 11 in Deutschland.

Und heute, zwei Tage später, weiß ich: Dieses Glucksen, dieses Kichern, das war das Lachen der Götter. Der Götter in der Frankfurter Bahnzentrale vielleicht, vielleicht aber auch ein paar Stufen höher. Sie hatten das ganze Wochenende Spaß daran uns wie den alten Odysseus von einem Strand zum anderen zu werfen, ohne uns je richtig ankommen zu lassen. Nachdem ich meiner Schwester abgesagt hatte, brauchte ich noch etwas, um die Kinder zu vertrösten. Also versprach ich ihnen, dass wir am nächsten Tag eine Fahrt mit der Draisine auf der stillgelegten Bahnstrecke bei Zossen machen würden. Das ist seit ein paar Jahren ein Garant für gutgelaunte Kinder. Und auf Strecken, auf denen die Bahn keine Züge betreibt, ist man auch vor Ärger sicher. Aber da muss man erstmal hinkommen. Bisher ging das so, dass wir uns eine Stunde in die Regionalbahn setzten, eine Runde Karten spielen und gleich am alten Bahnhof Zossen ging die Draisinenstrecke los. Aber die Regionalbahn nach Süden gibt es nicht mehr. Verschwunden. Aus dem Fahrplan gestrichen. Eine riesige Baustelle stattdessen und einen Ersatzbus, dessen Strecke sich wie die Schlange um den Stab des Äskulap (ich merke gerade, dass ich in den dunklen Wintertagen die Nacherzählungen der alten Griechensagen von Franz Fühmann gelesen habe) um die einst schnurgerade Bahnstrecke hin und her windet, um alle verlorenen Seelen auf den verwaisten Bahnhöfen einzusammeln. Und dafür über die löchrigen Straßen Brandenburgs doppelt so lange braucht. Zu spät fiel mir ein, dass meinem Ältester bei der letzten Busfahrt in Bayern schlecht geworden war. Aber in Brandenburg gibt es ja weder Berge noch Täler, nur blühende Rapsfelder. Dafür verkehrsberuhigende Kreisverkehre, an denen zuverlässig abrupt gebremst werden musste, weil orientierungslose ältere E-Bike-Pärchen unentschlossen am Rand standen. An Kartenspielen war nicht zu denken. Natürlich war dann auch der Verbindungstunnel zwischen altem und neuem Bahnhof in Zossen gesperrt und wir mussten bis zum nächsten Bahnübergang laufen. Auch gut, Bewegung tut gut nach dem langen Sitzen! Wetter war ja prima. Die Keksrolle zu Bestechung wurde immer kleiner. Die Draisinenfahrt entschädigte für alles und weckte in meinen trägen Computerspiele-Kids Bewegungs-und Wettbewerbsgeist. Wir waren die flotteste Draisine auf der Strecke. Und verschwitzt ging’s dann ging’s zurück im stickigen Bus, der rappeligen S-Bahn und mit der mit rotbackigen Touristen vollgestopften U-Bahn. Den Kindern brauchte ich kein Schlaflied mehr zu singen. Auch was wert.

Kein Mensch, der noch etwas Verstand hat, wäre am nächsten Tag wieder in die Öffentlichen gestiegen. „Heraus zum 1. Mai“ galt an diesem Tag für die revolutionären Massen und alle, die zum ersten Mal ein Deutschland-Ticket ausprobieren wollten. Wir spielten lieber Tischtennis auf den ausgewaschenen Betonplatten, die bei uns um die Ecke auf lieblosen Spielplätzen aus Kies und aufgeplatztem Asphalt stehen und probierten aus, ob die Jungs sich schon trauen, eine Runde mit Vatterns neuem Moped mitzufahren (wenn man damit eine Vorfahrt vor der Eisdiele macht, dann schon). Aber irgendwann müssen die Jungs ja wieder heim zu Muttern. Wieder nach draußen in den Berliner Speckgürtel. U-Bahn, S-Bahn, S-Bahn, S-Bahn. Alles läuft reibungslos und zwischendrin ist beim Umsteigen ist sogar noch Zeit, das Taschengeld in den Selbstbedienungsautomaten am Bahnsteig gegen Schokolade einzutauschen. Wir sitzen in der modernsten Bahn, die die Berliner S-Bahn zu bieten hat. Und es ist nur noch eine Station bis wir da – wären. Die Bahn hält auf einem Bahnhof aus verwittertem Beton. Links leuchtend gelbe Rapsfelder, rechts ein Bahnsteig, aus dessen Platten Grasbüschel wachsen. Die ultramoderne Digitalanzeige blinkt „Endstation, alle aussteigen“. Es ist ruhig rundum als wir den Koffer, den wir für die Reise ins Rheinland gepackt hatten, die grauen Stufen hoch und wieder runtergetragen haben. Wir stehen auf einem leeren Platz, eher ein freigetrampeltes Stück Land neben dem Rapsfeld, das die Trecker wohl zum Wenden brauchen. Irgendwo soll hier ein Ersatzbus fahren. Am Horizont ist über den gelben Blüten die Spitze eines Kirchturms zu ahnen. Wieder gestrandet. Vielleicht finde ich hier auf den Weiden einen Ochsen, den ich erlegen und den Göttern opfern kann, um sie gnädig zu stimmen. Schließlich muss ich den ganzen Weg auch noch zurück. Statt dessen schicke ich die Kinder ins Rapsfeld. Sie sollen der Mutter, die ich jetzt anrufe, damit sie uns hier rausholt, einen Blumenstrauß pflücken.