
Freitagvormittag. Ich sitze vor dem Bio-Laden, meinem Bio-Laden, der noch so aussieht wie der Bio-Laden, bei dem ich in den 90ern selbst Hand angelegt habe. In Holzregalen liegen Räucherstäbchen und selbstgestrickte Mützchen. Körner gibts zum Selbermahlen und ein Schild mahnt: „Bitte denkt an eure Brotbestellungen“. Draußen ist ein Brett schief auf den Sims vor dem Schaufenster geschraubt, auf das sich vorsichtig setzen kann, wer die Sonne genießen will. Da draußen sitze ich und trinke einen Kaffee, richtig fair gehandelten natürlich, aus einer richtigen Tasse. Ist mir doch wurscht, was die Corona-Polizei sagt. „Legal, illegal, scheißegal“ hatte ich damals auf der Jacke stehn. Und natürlich lese ich dabei die taz, die für die Mitglieder des Ladens kostenlos ausliegt. Und als ob ein Filmteam zu meiner perfekten Inszenierung vergangener Zeiten noch ein paar Komparsen angeheuert hätte, kommt die laute Kinderschar aus der selbstverwalteten Eltern-Initiativ-Kita „Tüte Mücken“ auf dem Weg zum Spielplatz vorbei. Eine Erzieherin grinst mich an. Vielleicht gefällt ihr dieses störrischen Festhalten an dem, was einmal Lebensfreude bedeutete. Die Kinder merken das Interesse und fragen sie: „Was macht der Mann da?“ „Der liest eine Zeitung.“ „Was ist eine Zeitung?“ „Das erklär ich dir nachher.“
Samastagnachmittag. Drei laute Kinder toben auf meinem Sofa herum. Es sind meine eigenen. Draußen fällt Schneeregen. Mir muss bald etwas einfallen, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen, sonst platzt mir der Kopf. Vor ein paar Tagen hatte ich begonnen, meinen Keller aufzuräumen, um der Trübsal der Telearbeit zu entgehen. Einen Umzugskarton voller Dias samt Projektor habe ich nach oben geschafft. Der Projektor geht noch. Lange Nächte habe ich seitdem im Schein der 150 Watt Halogenlampe verbracht, mit dem Rauschen des lauten Gebläses und dem harten Klacken, das der Greifer macht, wenn er sich ein neues Bild aus dem Magazin zieht. Stundenlange Meditationen über die Vergänglichkeit waren das, mit stockfleckigen Bildern aus einer untergegangenen Epoche voller Aufbruchsgeist, unterbrochen nur von dem bienenschwarmigen, wütenden Gesumm des Ventilators, wenn mal wieder ein Dia hängengeblieben war.
Vor ziemlich genau einem Jahr, als man zu den Winterferien noch mit den Kindern verreisen konnte, habe ich mit einem guten Freund in Bayern zusammen gesessen, während die Kinder draußen im Schnee tobten. Ermattet hatten wir uns über die ständig zunehmende Hektik in unerem Leben beklagt. „Weißt du noch, was vor zehn Jahren war, hatte er gefragt, oder vor dreißig?“. „Nee“, sagte ich, „Total weg. Bin froh, wenn ich weiß, was letzte Woche war.“ Der Freund nickte. Bei ihm sind zwar die Kinder aus dem Haus, aber er ist jetzt Leiter eines Pflegedienstes.
Wenigstens mir lässt Corona jetzt Zeit zur Besinnung. Magazine mit vergilbten Notizzetteln aus Umweltschutzpapier „Heidelberg 93“, Polen/Litauen 94, „Berlin am Anfang“, „Reichstag 95“ ziehe ich eins nach dem anderen aus dem Karton. Menschen mit weichen, rotwangigen, Gesichtern lachen mich an, als ich die Bilder durchklicke. Mein Freund bei seiner Hochzeit, bei der ich Trauzeuge war. Gemeinsam mit meiner Freundin spannen wir mit unseren Armen eine große, schimmernde Plastikfolie über dem Hochzeitspaar aus, weil es beim Fest im Garten ihrer alten Villa plötzlich angefangen hatte zu regnen. Bei der Reichstagsverhüllung ein Jahr später waren wir gerade nach Berlin gezogen. Cristo und Jean Claude waren mir ein ganzes Magazin wert. Dazwischen Bilder von schmalen, baumbestandenen Straßen in Osteuropa und Selfies aus dem Rechtsanwaltsbüro in England. Und dann ein kleines Mädchen, das vor unserem Schrebergarten an der S-Bahn erste Fahrübungen mit dem Rad macht. Alles einmal durch, alles mitgenommen. Ein Jahrzehnt Achterbahn, aber wenigstens bin ich dabei nicht aus der Kurve geflogen. Das kam später. Ein Drittel der Bilder habe ich weggeworfen, weil ich wirklich nicht mehr wusste, warum ich zehn Mal den Müll in den Straßen von Manchester fotografiert hatte. Oder gerade weil ich mich wieder erinnerte, warum ich es getan hatte. Weil ich das wild und urban fand, als ich noch im sauber geleckten Heidelberg lebte. Jetzt kann ich Müll auf der Straße jeden Tag haben und ich finde das nicht mehr aufregend.
Der Schneeregen hat aufgehört, das Rumgehopse auf dem Sofa nicht. „Kommt“, sage ich zu meinen Jungs, „ich zeige euch mal was.“ Ich werfe den Projektor an und ein leuchtendes Quadrat erscheint an der Wand. „Ach“, sagen sie, „wie in der Schule, wenn wir Videos gucken.“ „Nein, sage ich, „das ist ein Apparat, der kleine Bilder groß macht.“ Ich zeige ihnen ein kleines Dia, lege es in den ausklappbaren Schlitz und warte, bis der Autofokus! (war mal ein teures Gerät) mit viel Hin- und Hergesumm das Bild scharf gestellt hat. „Was ist das?“, fragen sie. „Das ist das Schild vor einer Stadt. Ihr könnt doch schon lesen. Lest mal.“ „ALITUS“ buchstabieren sie vom Sockel eines realsozialistischen Betonmonuments herunter. „So heißt eine Stadt, in der du gewesen bist?“ „Ja, und was seht ihr noch?“ Die Jungs springen in den Lichtkegel – und sehen gar nichts mehr. Erste Lektion gelernt. Im zweiten Anlauf klappt es. „Eine Kuh!“ „Genau“, sage ich, „und was hat die Kuh da im Maul? “ „Das ist so was wie bei den Pferden, wo die Zügel drankommen.“ „Richtig“, sage ich, das war eine freilaufende Kuh. Die hat der Bauer am Abend am Zaumzeug wieder nach Hause geholt.“ „Ein wilde Kuh?“ „Nein, eine freilaufende Kuh. Und Wiesen ohne Zäune.“ Das gab es damals in Litauen noch.
„Wir machen ein Spiel.“, ruft einer von den Zwillingen. Er holt ein Blatt Papier aus dem Müll. „Wer zuerst sieht, was auf dem Bild ist, kriegt einen. Punkt.“ Der Nachmittag ist gerettet. Wir jagen zwei Magazine durch. Der spannendste Moment ist immer der Augenblick, wenn aus dem verschwommenen Bild langsam ein scharfes wird. „Ein Bagger“ (Baustelle für ein Großkraftwerk). „Ein See!“ (Ihr Vater badet in vor der Kurischen Nehrung). „Wilde Wolken!“ (Dramatischer Sonnenuntergang über Masuren). „Und wer ist das?, fragen sie verdattert? „Das bin ich.“ (Bild mit cooler Sonnenbrille am Strand in Portugal). „Nee, echt, du? So hast du mal ausgesehen? Is ja krass.“ „Und wer ist das daneben?“ „Das ist eure große Schwester, als sie so alt war wie ihr jetzt.“ „Echt jetzt? Und wer ist die Frau daneben?“. „Das ist die Mutter eurer Schwester.“ „Echt jetzt, du hast zwei Frauen? Die da und Mama?“ „Ja“, sage ich, „aber nacheinander.“ „Echt jetzt? Machen wir das Spiel noch mal, wenn wir wieder bei dir sind?“